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November 2005

Rolf Dieter Brinkmann:
Westwärts 1&2

Gedichte
Erweiterte Neuausgabe
Rowohlt Verlag 2005

Umschlagmotiv

360 S., 29,90 €
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Rolf Dieter Brinkmann:
Westwärts 1&2

Jetzt in bewundernswerter Neuedition: Eine wilde und wütende Abrechnung mit allem und jedem und gleichzeitig eine Liebeserklärung an das Leben, „das andere Blau", das hinter der Scheinheiligkeit und den sich überall als diplomatisch gerierenden Untoten verbirgt. Brinkmann findet es überall dort, wo Körper sich begegnen, wo Wärme entsteht aus Berührung.

Da heißt ein Gedicht „Ein Skunk", und schon in der ersten Zeile ist es tot, das Stinktier, „überfahren", was es aber nicht davon abhält, noch in mehreren der folgenden Texte wieder aufzutauchen. Diese Haltung des Erinnerns, des Nicht-links-liegen-lassens ist symptomatisch für Rolf Dieter Brinkmann. Der größte Pop-Poet, den die Bundesrepublik jemals hervorgebracht hat, legte mit „Westwärts 1 & 2“ sein opus magnum vor, eine wilde und wütende Abrechnung mit allem und jedem und gleichzeitig eine Liebeserklärung an das Leben, „das andere Blau", das hinter der Scheinheiligkeit und den sich überall als diplomatisch gerierenden Untoten verbirgt. Brinkmann findet es überall dort, wo Körper sich begegnen, wo Wärme entsteht aus Berührung. Dieser Dichter war zuallererst ein leidenschaftlich Liebender.

"Wo ist, frage ich, das Fenster, das nach Süden offen ist?"

Welche Anstrengungen gingen diesen Gedichten voraus, welche Überwindung kostete es Brinkmann, auch nur eine Zeile zustande zu bringen gegen die Anmaßungen seiner Umwelt, gegen den Irrsinn einer Bundesrepublik Deutschland in den 70ern; und welche Bemühungen, um den Verlag zu befriedigen und dennoch ein Buch herausbringen zu können, das den eigenen Ansprüchen genügte. Die editorische Notiz von Tochter Maleen Brinkmann gibt darüber eloquent Auskunft.
Diese Neuausgabe von Brinkmanns wohl wichtigstem Gedichtband ist eine der herausragenden Erscheinungen dieses Bücherjahres (um wenigstens einmal nicht in Frühjahr- und Herbstsaison zu trennen). Besonders das „unkontrollierte Nachwort", in dem Brinkmann über seine Poetologie Auskunft gibt (und wie nebenher einen Weltabriss 1974/75 liefert), dürfte auch gestandene Fans des Autors in Wallung bringen.

Wer Bescheid wissen will, wie es sich anfühlte im Westdeutschland der Nachkriegszeit, der ist bei Brinkmann an der richtigen Adresse. „ … immer haben sie die Mantelkragen// hochgeschlagen, ihre Kleider zugehalten, die Knie/ aneinander gedrückt, in einem Gespräch", heißt es in „Rolltreppen im August", oder er belauscht ein fiktives Gespräch auf einem deutschen Balkon, und einer sagt: „weil der Bäcker gleich/ zumacht, kann ich dich jetzt nicht// lieben“ – kann man den Erstickungstod der Leidenschaft besser in einen Satz packen?

"Die Sprache hat immer anderen gehört“

Überhaupt möchte man immer nur zitieren, zitieren, zitieren aus diesen Texten und gar nicht mehr damit aufhören. Zwischendrin immer wieder Gedichte, die wie Songtexte klingen, Zeilen wie Rockmusik, natürlich befruchtet von den Beat-Poeten aus den USA, von Kerouac und Ginsbergh, aber auch von den Beatles und The Doors.

Man kann dieses Buch als Essay lesen, als Tröster in schwarzen Stunden (den dem Autor ging es doch, man ahnt es, relativ häufig relativ dreckig, wie er da so am Existenzminimum herumkrebste), aber auch als Gedichtschmöker für zwischendurch. Die Bilder, vom Autor selbst geschossen auf seinen Reisen durch die USA, in Norddeutschland und Italien (denn überall dort entstanden auch die Texte), erklären nichts, sind im besten Sinne unbiographisch, geben aber trotzdem einen Eindruck davon, wie hier gelebt wurde: schnell, unsystematisch, mit dem Blick für das Wesentliche hinter dem Schilderwald.

"Die Sprache hat immer anderen gehört", schreibt Brinkmann und macht sich daran, sich und uns allen die Worte wieder zurück zu holen. Und doch war dieser Autor, der immer wütend war und auf der Suche nach der Provokation, doch auch ein hoffnungsloser Romantiker. Wie anders soll man sich solche Zeilen erklären: „Ich liebe sie auf eine Art/ von der es nicht das // Gegenteil gibt".

"Er brauchte nichts weiter/ zu tun, als um die Ecke// zu biegen, und kam nie/ dort an"

"Werch ein Illtum!", spricht Ernst Jandl zu den Leuten, die meinen, rechts und links könne man nicht verwechseln – kann man eben doch, wenn man sich wie Brinkmann in London aufhält. 1974 kommt er bei einem Verkehrsunfall um, höchstwahrscheinlich, weil er den Linksverkehr missachtet. Welch passender Tod für einen, dem Konventionen schon seit jeher ein Zacken in der Dornenkrone waren. „Was hat das mit Gedichten zu tun? Nichts, und das spricht für Gedichte", schreibt Brinkmann in seinem Nachwort. Dieser Satz gilt noch heute.