"Instadtsetzung der Seele"
Um es gleich vorab zu sagen: Gerhard Falkners langes Gedicht „Gegensprechstadt – ground zero“ ist ein ganz großer Wurf. Sein Thema lässt sich in der (ich glaube situationistischen) These zusammenfassen, das einzige existenzielle Drama des Menschen sei das Vergehen der Zeit. Dieses Vergehen sucht das Gedicht in „privaten“ (Flüchtigkeit von Liebesbegegnungen etc.) und „öffentlichen“ Erfahrungen (Flüchtigkeit von Modeerscheinungen, aber auch von medial vermittelten Ereignissen von historischem Ausmaß’) spürbar zu machen.
Das natürlich auf den 11. September gemünzte „ground zero“ des Titels benennt eben jene medial vermittelte Wirklichkeit, während in der „Gegensprechstadt“ Berlin das private Erleben von Trends und Hypes sichtbar und zwangsläufig von historischen Umwälzungen grundiert ist:
die Blesshühner östlich
der Oberbaumbrücke
im Grunde kurzlebige Kranichvögel
sind noch da
aber die DDR ist weg
Durchgeführt wird das Thema entlang zweier metaphorischer Leitschienen. Da sind einmal die wiederkehrenden Bezüge auf die Musik als die am stärksten zeitgebundene Kunstform. Eine musikalische Umsetzung des Textes, wie sie David Moss mit seiner Begleitung der vom Autor gelesenen Bühnenfassung des Textes liefert, ist bei diesem Gedicht daher nur konsequent.
wir blieben so lange ein Paar
bis unsere gemeinsamen Tage
ein Album herausbrachten
mit Paul Gonzalves am Saxophon
Die Musik, für die das bewusst organisierte Vergehen der Zeit konstitutiv ist, schärft dem lyrischen Ich des Gedichts, das anfangs den Arbeitstitel „Vom Hören der Tage“ trug, den Gehörsinn für die Zeitlichkeit des städtischen Erlebens, wie es sich in der urbanen Geräuschkulisse ausmachen lässt:
denke ich an Tage
… in die man hineinhören kann
wie in eine neue CD
ihre Musik ist äußerst stark
obwohl man nicht an Jimmy Hendrix denken muss
an Liszt oder Luigi Nono
es ist eine mit dem Augenblick bewaffnete
und in den Augenblick feuernde Musik
…
ich hörte das Freizeichen des Himmels
aus der Kehle des Mauerseglers
…
und konnte mich beim Hören der Tage
stundenlang auf das Rieseln schwermütiger
Obertöne konzentrieren
Folgerichtig überschreitet die Musik von David Moss, die sich stark auf verfremdete Sprachsamples und Percussionklänge stützt, häufig die Grenze zum Geräuschhaften, baut Soundwände auf, die der Klanglandschaft von Großstadtstraßen und U-Bahnhöfen ähneln.
Die zweite Leitschiene des Gedichtes ist die der Stadt als Text:
die Stadt ist ein Buch
wir schlagen die erste Straße auf
wir lesen die erste Straße
wir lesen sie mit den Füßen
Das ist natürlich ein altehrwürdiger Topos der lyrischen Moderne, der bis auf Baudelaire zurückgeht. Unter dem Aspekt der Zeitlichkeit kommt ihm aber auf originelle Weise Aktualität zu: In der Tat ist die Lektüre von Texten ebenso durch ihren zeitlichen Verlauf bestimmt wie das Hören von Musik oder das Durchwandern einer Stadt. Darüber hinaus konstituiert sich ein lyrisches Subjekt ganz wesentlich durch die Erinnerung an Texte, die es zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Geschichte gelesen hat. Falkners Anspielungen auf andere bedeutende Langgedichte der Vor-, Hoch- und Spätmoderne – von Heines Wintermärchen über Eliots Waste Land bis zu Ginsbergs Howl – dienen also keinem rein ornamentalen „Reichspielungsantum der Sprache", sondern verweisen auf die zeitliche Verfasstheit des sprechenden Subjekts.
Falkners Text bzw. das über den Text hinausgehende musikalisch-literarische Projekt von Gerhard Falkner und David Moss ist deshalb so gelungen, weil sich alle seine Teile schlüssig um dieses thematische Gravitationszentrum anordnen. Die Stilvielfalt des Textes ist stets kalkuliert und gleitet nie ins Disparate ab.
Auch das sehr erhellende Nachwort sowie die Anmerkungen zu einzelnen Textstellen müssen nicht Mängel des Gedichts ausgleichen, wie das manche Lyrikleser vermuten mögen, denen ein solcher verkopfter theoretischer Überbau’ generell suspekt ist. Vielmehr beteiligen sie diese Paratexte die Leserin auf entspannte, selbstbewusste und zugleich selbstironische Weise an der konzeptionellen Arbeit des Dichters. „Ziel war … die Diskursfähigkeit poetischer Sprache zu gewährleisten, ohne sie je an die Texttheorie zu verschenken“ – das ist dem Autor in der Tat trefflich gelungen. Zudem sind die Anmerkungen, etwa der überaus bissige, aber fundierte Exkurs über Pseudo-Hiphopper im Literaturbetrieb ("würde man … statt der Pinot-Grigio-versauten Schlemmer-Szene die Slammer-Szene kennen") von großem Unterhaltungswert.
"Gegensprechstadt – ground zero“ kann man in seiner Luzidität wirklich jedem Literaturfan empfehlen, nicht nur dem hoch spezialisierten Lyrikkenner. Der Text bietet so vielfältige Zugänge, dass er der zeitgenössischen Lyrik insgesamt womöglich neue Leser erschließen könnte. Dass er es dafür nicht nötig hat, sich anzubiedern, sei mit der wunderbar trockenen Anmerkung zu einem der musikalischen Anspieltipps im Gedicht belegt ("wie die Scheibe von Lou Reed / damals in diesem Keller in Moskau"):
"Spätestens hier", merkte die Verlegerin bei ihrer
Durchsicht von „Gegensprechstadt“ an, „werden mir die
Wies’ mit Musik- und Popkulturverweisen, die ins
Leere laufen, zu viel!"
Richtig. Liegt es nicht in der Natur von
Popkulturverweisen,dass sie einem zu viel werden.
Die Marken- und Popkulturverweise, ebenso wie
die Überhitzung von Texten mit Theorie,
verlangen eben wirklich oft starke Nerven.
Schön, dass kookbooks-Verlegerin Daniela Seel die Nerven behalten und den Text trotz ihres vom Autor zitierten Einwands verlegt hat. Sie hat damit einen der besten deutschsprachigen Gedichtbände des Jahres im Programm.