Die deutsche Popliteratur entstand bekanntlich bereits Jahrzehnte bevor eine Handvoll mediengeiler Jungautoren und ein nationales Netzwerk cleverer Marketingstrategen diesen Begriff innerhalb von zwei, drei Jahren mit einem cool gestylten Sturm im Wasserglas in die Grabbelkisten der Buchkaufhausketten ritten. Neben Helden der ersten Stunde wie Brinkmann und Fauser gibt es einen weiteren großartigen Autor, der es mit einem eigenen Sound, bestem literarischen Handwerk und der nötigen amerikanischen Lässigkeit drauf hatte, die deutsche Literatur seit den Sechzigern von unten her mit neuen geistigen Grundsubstanzen zu versorgen – und er ist noch immer am Werk. Sein Name: Jürgen Ploog, von Beruf Pilot und Schriftsteller.
Jürgen Ploog, geboren 1935 in München und heute vor allem zwischen Frankfurt am Main und Florida unterwegs, hat soeben ein neues Buch veröffentlicht: „Undercover – Episodenroman". Held des Buches ist Eddie Grips - ruheloser Agent, Weltreisender, ewig Suchender. Die aktionsreiche Handlung wird in einer Folge von Szenenausschnitten aus einem größeren, meist unsichtbaren Geschehen an wechselnden Schauplätzen rund um die Erde montiert. Im Setting alter Agentenfilme und in der Ästhetik des Film Noir geht es - mit viel Gespür für Paradoxes und dynamische Kontraste - um Glückssuche, Feindschaften, Verstecke, Verfolgungsjagden, Geheimcodes und Einsamkeit, um kampferprobte Klassefrauen wie Santana oder Josephine und um die Beschaffung der geheimnissvolle Droge Seroton. All dies alles kommt nun keineswegs „retro“ daher, vielmehr werden vertraute Figuren und Muster zu neuem Leben erweckt und offenbaren so die Gültigkeit ihres symbolischen Kerns - das Dasein des Agenten als Metapher. „Kontinuität ist doch bloss ein biographischer Trick. Auf den werde ich nicht hereinfallen.“ sagt Edie Grips.
Auf der Matrix des energiegeladenen Plots voller Halbschlafphantasien, Sex, Schönheit und Gewalt in allen Schattierungen (bei dem zweitrangig scheint, wer genau gerade wen bekämpft, wer wo auf wen wartet, wer wen betrügt oder nicht, und wer mal wieder ganz unten ist) werden Gefühle, Stimmungen und die Zwischentöne der Wahrnehmung des Haupthelden zur Sprache gebracht – mit einer Wachheit der Empfindungen und in einer klaren Sprache, die in der aktuellen deutschen Literatur derzeit ihresgleichen sucht. Der existentielle Grundton, der die Episoden durchdringt, führt bruchlos über die unterhaltsame James-Bond-Oberfläche hinaus zu philosophischen Gedankengängen, zu Erkenntnissen und Beobachtungen, die jeden betreffen. Ploog ist ein Meister klarer Sätze. Etwas, was ihn selbst von Amerikanern wie Pynchon oder Burroughs unterscheidet, an deren ausufernde Romane man (aus thematischen Gründen) bei diesen eher knappen Texten hin und wieder erinnert wird. Endlich ein Erzähler, bei dem man immer wieder Lust bekommt, einzelne Worte, Sätze, Passagen anzustreichen!
Episode für Episode ("Einzelheiten fielen ihm ein, aber die Handlung war ihm entfallen.") setzt sich ein Bild zusammen, ein größerer Zusammenhang, eine Lebensanschauung, bei dem sich im Banalen das Große, im Niedrigsten wie nebenbei der Kern des Lebens, man muss sagen: entblößt. Und es sind die Kondensstreifen am Himmel, die als Leitmetapher ihre schnell zerfallende Spur durch den Text des Piloten Ploog ziehen – pfeilschnell unterwegs durch die Endlosigkeit des Himmels. ("Deutlich sah er, wie der Horizont den Himmel terrorisierte, der sich unter dem Einfluß der Kräfte ständig veränderte.")
Vor allem Ploogs Sprache ist es, deren Kompaktheit dem Text Glaubwürdigkeit und eine enorme Energie verleiht, selbst oder gerade dort, wo die Handlung ins Unwahrscheinliche, ins bewußt Künstliche gleitet. Dieser Sound klingt nicht nur nach amerikanischen Wurzeln, nach den Beatniks und der legendären Cut-up Methode von Ploogs einstmals engem Freund William S. Borroughs: Bei Ploog schimmert ebenso die Sprachgewalt deutscher Expressionisten durch (ohne das es je schwammig oder peinlich würde); die Knappheit brechtscher Prosarhythmen kombiniert er mit der Lässigkeit postmoderner Trash-Comic-Dialogen (so existiert ein früher Geistesbruder von Ploogs Eddie Grips in Freddie, dem elegant-kriminellen Haupthelden der legendären Kriminalsonette von Rubiner, Eisenlohr und Hahn aus den frühen Zwanzigern, der einst auch für Brechts Figur des Mackie Messer Pate stand). In Ploogs literarischem Handwerk versammelt sich die Essenz dessen, was die Literatur in beiden Hälften des zwanzigsten Jahrhunderts an Erkenntnissen und Möglichkeiten hinzu gewonnen hat. Die Parataxe, die Hauptsatzreihung, und der Cut up, der Textschnitt, bestimmten den Rhythmus. So entsteht ein eigenwilliger Ton, der ähnlich intensiv wirkt und nachwirkt, wie etwa die Prosa W. G. Sebalds - um einen gänzlich anderen literarischen Solitär als Beispiel heranzuziehen für etwas, das sich nicht vergleichen lässt. Das ist überaus angenehm zu lesen, das bewegt, das berührt. Leichtigkeit und Tiefe zugleich – wie selten ist das in der neuen deutschen Literatur.
Ploog beherrscht das postmoderne Vexierspiel der Identitäten und wird doch keinen Moment beliebig. ("Schriftsteller", erklärt Eddie Grips, sind „schräge Vögel, die ihr Ego wie eine alte Zeitung mit sich herumtragen und erwarten, dass jemand scharf darauf ist zu erfahren, was drin steht, auch wenn es Schnee von gestern ist.") - „Undercover“ ist trotz scheinbar nostalgischer Oberfläche absolut auf der Höhe der Zeit. Also Vorsicht: Das ist Prosa für Erwachsene.
Erschienen ist Ploogs Episodenroman im Verlag German Publishing Braunschweig, einem kleinen Unternehmen, das seit 2001 vorwiegend US-amerikanische Kultautoren verlegt. Dessen Macher haben wohl verstanden, dass auch dieser bislang sträflich mißachtete deutsche Autor dringend verlegt und unter die Leser gebracht werden muss. Die gelungene Edition von „Undercover", äußerlich mit dunkel-kühlen Blautönen an ein Krimipaperback erinnernd, ist zu den Kapitelanfängen mit comicartig schwarzweißen Vignetten versehen, die gut in den Text passen, nur erfährt man leider nicht, ob sie vom Autor selbst stammen. Das Lektorat scheint gründlich gearbeitet zu haben: das underground "&" (statt des Worts und) ist durchgängig obligatorisch; die Orthographie erweist sich als überaktuell, so wird das ß schweizerisch einheitlich als ss wiedergegeben, was deutschen Augen mitunter befremdlich erscheint.
Nebenbei: Im Buch findet sich mehrere Passagen über Berlin, das als toter, gespenstischer Ort beschrieben wird, an dem nur noch die Geister einstmals großer Zeiten ziellos umher irren. Man fragt sich unwillkürlich, ob Ploog hier mit provokanter Abneigung einen geistigen Zustand seines Helden illustrieren will, oder ob er einfach lange nicht mehr in Berlin war (bzw. höchstens für ein paar Tage wehmütiger Erinnerung). Fest steht, der große alte Mann der deutschen Untergrundliteratur (Ploog ist dieses Jahr siebzig) schreibt in seinem neuen Buch einen frischeren Sound als ihn das meiste, was derzeit aus den Schreibseminaren kurzfristig in die Bestsellerlisten und Literaturhausprogramme herüber weht, besitzt. Aber: „Was ist schon ein Wort im Vergleich zu dem, was zwischen Erde & Himmel geschieht."
Jürgen Ploog, den der Verlag im Klappentext als „Vater des deutschen Untergrundliteratur“ anpreist, verbrachte Anfang der Fünfziger einige Zeit in den USA, wo er mit den Anfängen der Beatnikbewegung in Berührung kam. 1958 begann er in Deutschland eine Pilotenausbildung und flog dann dreiunddreißig Jahre lang für die Lufthansa als Langstreckenpilot um die Erde. In Frankfurt am Main gründete er in den Sechzigern eine Familie und veröffentlichte seit 1969 achtzehn Bücher sowie zahlreiche Erzählungen und Essays. Ploog führte die Methode des Cut ups (Textmontage) in die deutsche Literatur ein und war maßgeblich an der Herausgabe verschiedener legendärer Literaturmagazine beteiligt (u.a „Gasoline 23“ mit Jörg Fauser und Carl Weissner). Seit 1993 ist Jürgen Ploog freier Schriftsteller. Die meisten seiner Bücher sind momentan vergriffen (eine ausführliche Blibliographie gibt es auf: www.ploog.com).
Während die deutschen literarischen Szenen des sogenannten „underground“ und des „Social Beat", die Ploog selbst eher mit Skepsis betrachtet, ihn als Helden verehrten, steht eine angemessene allgemeine Wahrnehmung und Würdigung seines literarischen Werkes noch aus. In „Undercover“ heißt es über Eddie: „Er hatte es geschafft, von seinen Gegenspielern weitgehend ignoriert zu werden. Sie sagten sich, dass er ein Aussenseiter der Branche war, einer, der die Regeln missachtete & dass es nichts brachte, ihm das Handwerk zu legen.“ … „Auf diese Weise schaffte er es, dass sein Image zwielichtig blieb. ‘Kann kein Nachteil sein, in einem zwielichtigen Gewerbe einen zwielichtigen Ruf zu haben.‘"
Es ist an der Zeit, den großartigen Schriftsteller Jürgen Ploog aus seinem nicht selbst gewählten Ghetto als Underground-Schriftsteller, als deutschen Beatnik mit Cut-up-Attitüde herauszulesen. Wirkliche Dichter gibt es schließlich auch in Deutschland nicht alle Tage.