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Dezember 2005 Patrick Baumgärtel
für satt.org

Jochen Schimmang:
Auf Wiedersehen, Dr. Winter

Tisch7 Verlag 2005

Umschlagmotiv

204 S., 18,50 €
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Jochen Schimmang:
Auf Wiedersehen, Dr. Winter

BRD – Kulissenstadl

Da hilft einzig der Klappentext: Jochen Schimmang setzt in „Auf Wiedersehen, Dr. Winter“ seinen Ausstieg aus der Geschichte fort.

Meistens, wenn eine Kritik damit beginnt den Klappentext zu zitieren, ahnt man schon, dass sich hier bestimmte ästhetische Unstimmigkeiten zwischen Lektor und Kritiker auftun. Der Lektor wird dann aus rein ästhetischer Perspektive für seine ja auch notwendigerweise auf das Ökonomische ausgerichtete Arbeit kritisiert, was dem Kritiker eigentlich wenn nicht den Angstschweiß so doch die Schamesröte ins Gesicht treiben sollte, denn schließlich steht er in der Verwertungskette des Buchmarktes eine Stufe niedriger und hängt in seiner luxuriös puristischen Kritik von dessen Erfolg ab. Solche Gedanken im Zeitalter der globalen ökonomischen Übernahmedynamik im Hinterkopf, bleibt dem Rezensenten von Jochen Schimmangs Erzählband „Auf Wiedersehen, Dr. Winter“ nichts weiter übrig als melancholisch gestimmt, die allseits beklagten Sachzwänge’ konstatierend, sich in seine antiquierte Rolle zu schicken und wie so oft aus dem Klappentext zu zitieren: „ein Bild unserer letzten fünfzig Jahre: ein Bild vom Vergehen der Zeit“ sei es, was den Bogen zwischen diesen sieben Erzählungen schlage. Die Erfahrung wird bestätigt: dieses Zitat ist im vorliegenden Fall vonnöten, weil man nach der Lektüre dieses Buches hilflos nach oben schaut, etwas sucht, das einem erklärt, was man da soeben gelesen hat. Gott sei Dank gibt es Klappentexte.

Es handelt sich also um eine Art Zeitporträt, einen Blick zurück auf die letzten Jahrzehnte der Bundesrepublik (denn die DDR spielt keine Rolle). In der Tat tauchen Figuren der Zeitgeschichte auf. Der Autor scheint insbesondere von der 68er Kulturrevolte affiziert: wiederholt erscheint als Randfigur Theodor W. Adorno, das Publizistenehepaar Rutschky, Andreas Baader und Ulrike Meinhof. Eine Erzählung ("Schöne Suite hier") berichtet vom kurz währenden Aufstieg einer jungen Künstlerin in den Kosmos internationaler Anerkennung Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre. „Pulverschnee“ erzählt vom Leben eines portugiesischen Gastarbeiters in Deutschland. Zwei Erzählungen behandeln das Thema des politischen Terrorismus. In der einen wird das Leben eines RAF-Mitläufers nachgezeichnet, in der anderen ein neuer Terrorismus unter den Bedingungen der „New Economy“ beschrieben. Dies sowie das kleine Porträt des Kanzlers Schröder ("Ein Abend mit dem Kanzler") markieren den Übergang zur 'Berliner Republik'.

Dennoch scheinen wir es hier vor allem mit einem Autor der alten Bundesrepublik zu tun zu haben, der dem Denken der 68er Generation recht nahe zu stehen scheint. Dass dies an sich kein Grund zur Kritik wäre, braucht man nicht zu erwähnen, doch wie so oft verträgt sich auch hier der bärbeißige Geschmack ideologischen Denkens mit der zarten, nur beinahe geschmacksneutralen Note der Literatur denkbar schlecht. Der Autor wird zum Parteigänger, der entweder „auf der Seite seiner Figuren“ (Klappentext) steht oder eben nicht, letzteres insbesondere dann, wenn es sich um Figuren der höheren sozialen (bürgerlichen) Sphären handelt. Dabei handelt es sich bei den Ich-Erzählern selbst meistens um arrivierte Forscher, Akademiker, Grübler. Höhere Summen Geldes – ein beinahe obsessiv wiederkehrendes Motiv - scheinen stets zugleich Gefühle von Neid und Aggression bei den Protagonisten hervorzurufen, ganz im Sinne kleinbürgerlicher Moralvorstellungen. Dass das Kanzler-Porträt so misslingen muss, ist abzusehen. Der mächtigste Mann im Staat wird uns als der „Mensch dahinter“ präsentiert, der, abgestumpft und unfähig sie zu lösen, sich vor seinen Problemen zu einem Glas Bier flüchtet. Dahinter steht die naiv-anarchische Vorstellung, dass Politik und Macht nicht nur per se unfähig und böse sind, sondern auch überflüssig. Dagegen scheint im Bier die Lösung aller Dinge zu liegen: „Ein Mann, der Bier trinkt und junge Leute nicht ausstehen kann, kann nicht ganz schlecht sein", lautet der Trinkspruch über der Kneipe, in der uns Jochen Schimmang all diese Geschichten erzählt.

Klingt hier schon der Ton eines konvertierten 68ertums an, nämlich das Ersetzen von Aktivismus durch Fatalismus, so wird er in der Begegnung des Biologen Philipp mit dem Ex-Terroristen Jonas in „Krieg und Frieden“ noch gesteigert. Fast wortgleich mit Doktor Winter in der Erzählung „Auf Wiedersehen, Dr. Winter“ heißt es hier aus dem Munde des Biologen: „Aber ich glaube nicht, daß sie [die gesellschaftlichen Verhältnisse] etwas mit unserer Fähigkeit oder Unfähigkeit, glücklich zu sein, oder mit unserem Hang zu Melancholie oder Leichtlebigkeit zu tun haben.“ An dieser Stelle kommen wir dann auf das anfangs zitierte „Vergehen der Zeit“ zurück. Jochen Schimmang scheint ein merkwürdig krudes Hybrid entwickelt zu haben, dass einen vulgärmaterialistischen Manichäismus zwischen oben und unten, reich und arm, gut und böse beibehält, gleichzeitig jedoch – damit sind wir in der Gegenwart angekommen - dessen geschichtliches Denken radikal zurückweist. Letzteres hatte sich schon in Schimmangs Roman „Die Murnausche Lücke“ gezeigt, wo Murnau (der in „Auf Wiedersehen, Dr. Winter“ auch in diesem Buch einen Auftritt erhält), der schlaflose Mathematiker, mit der Kulisse der Studentenunruhen am Ende der sechziger Jahre konfrontiert wird. Selbstverständlich kann eine solche Verbindung – so sie nicht von vornherein widersprüchlich ist – nicht überzeugen. Man muss kaum noch auf die (unfreiwillige) Komik hinweisen, die aus einer Geschichte über einen ehemaligen RAF-Terroristen erwächst, die mit dem Satz endet: „In wenigen Wochen kommen die ersten Gänse zu uns."

Tatsächlich sind es aber nicht nur dieses ideellen Inkonsequenzen, die den Leser ratlos und unzufrieden zurücklassen. Es ist vor allem die Unfähigkeit des Autors, einen sprachlich konsistenten, konzentrierten und einheitlichen Text vorzuweisen. Schimmangs Sprache erschöpft sich (und uns) in überbordenden Außenansichten, die nichts über das Innen verraten, das ihr Objekt bildet, die sich folgerichtig in Banalitäten, Allgemeinplätzen und Redundanzen verausgaben. Im bloßen Wiedergeben von Lebensläufen und Ereignissen befriedigt man vielleicht ein rein nostalgisches Interesse an Geschichte, Literatur aber holt die Bedeutung der Vergangenheit in die Gegenwart zurück. Dieses „Bild unserer letzten fünfzig Jahre“ ist eine Bühne, auf der die Figuren als hölzernes Kulisseninventar ein- und ausgehen, blass, konturlos und ohne einen Hauch von Leben. Aufgrund der mangelnden Distanz zu seinen Figuren gelingt es dem Autor nicht, Konstellationen psychologisch einfühlsam und nachvollziehbar zu gestalten. Allzu schnell gleitet er dabei entweder ins Pathetische und Sentimentale oder aber ins Abschätzige ab. Schimmang zeigt darüber hinaus nicht nur stilistische Unsicherheiten ("In der Schule mochte er anfangs Geschichten, später die Geschichte", „die Liebste zu Grabe tragen"). Wie kann man – selbst der modernen Terroristin in „New Economy“ – solche nichtssagenden, dummen Sätze entfleuchen lassen wie: Mao „mag zwar ein Massenmörder gewesen sein, aber Klugheit, in griffige und einfache Formeln umgesetzt, läßt sich ihm nicht absprechen.“ Als wäre dies nicht genug gibt es auch noch grammatikalische Irrungen ("Die Fahrt von Göttingen bis dort", „Das war ein Lied vor meiner Geburt"). Hier kann man wiederum auch den Lektor in die Pflicht nehmen, diesmal reinen Gewissens.