"Ein erstklassiger Flickenteppich
… den ich mir allerdings mit großer Freude in meinem Lyrikzimmer auslege": Theo Breuers umfassende Darstellung zur zeitgenössischen deutschen und europäischen Lyrik
"Aus dem Hinterland" heißt das Buch, weil sein Verfasser Theo Breuer weitab der Metropolen in einem Eifeldorf wohnt und von dort aus enthusiastisch und kenntnisreich wie kein zweiter das deutschsprachige Lyrikgeschehen verfolgt. Es heißt auch so, weil Lyrik im Vergleich zu den glamourösen und kommerziell erfolgreichen Bestsellern stets "aus dem Hinterland" der Literatur- und Verlagsszene kommt. Was aber auch bedeutet, dass sie so nachhaltig wirken kann, wie vielleicht der Biobauer "aus dem Hinterland" seine Felder bestellt.
"Aus dem Hinterland" trägt den Untertitel "Lyrik nach 2000" und kann bereits nach Durchsicht des Registers als die umfassendste Publikation zu diesem Thema zumindest im deutschsprachigen Raum gelten. Wobei das Buch durchaus auch Dichter aus anderen Literaturen behandelt, sofern zwischen 2000 und 2005 deutsche Übersetzungen ihrer Werke publiziert wurden. Denn Breuers Kriterien sind nicht die des Germanisten – der er seiner Ausbildung nach ist –, sondern die des bedingungslosen Lyrikfans, ja -fanatikers ("In den letzten 10 Jahren ist mein Hunger auf Gedichte oft derart unerträglich gewesen, daß mir nichts anderes übrigblieb, als immer wieder von morgens bis abends Lyrik zu lesen. Das führte bis zum Höchstverzehr von acht Lyrikbänden an einem einzigen Tag.").
Was der bekennende Bibliomane über seine subjektiven Lesegewohnheiten und -vorlieben erzählt, muss man nicht in aller Ausführlichkeit nachvollziehen – die vielen in voller Länge zitierten Gedichte erlauben einem meist ein eigenes Urteil. Unbestritten bleibt unter dem Strich der Eindruck, dass Theo Breuer praktisch alle Neuerscheinungen der letzten Jahre aus den wichtigen Lyrikverlagen gelesen hat und darüber hinaus eine hochinteressante, hunderte von Titeln umfassende Auswahl der Produktionen aus dem Hinterland kleinster und noch kleinerer Independent- und Wohnzimmerverlage. Genau dies unterscheidet "Aus dem Hinterland" von anderen vergleichbaren Publikationen: Der Band würdigt jene Zonen am Rande und außerhalb des Literaturbetriebs, die den Humus jener fruchtbaren Lyrikszene bildet, die bereits in Anthologien wie "lyrik.log" und "Lyrik von jetzt" dokumentiert wurde. Die gute Übersicht über versteckte Szenen und Nischen, die man so umfassend derzeit vermutlich nirgends anders findet, sollte für jeden Lyrikinteressierten die Ausgabe für dieses Buch rechtfertigen.
Denn weil es enorm zeitaufwändig ist, all diesen Spuren im Hinterland der Lyrik zu folgen, ist "Aus dem Hinterland" für den an neuen Entdeckungen interessierten Lyrikleser eine unschätzbar wertvolle Schatzkarte – die man übrigens keineswegs von vorn bis hinten zu lesen braucht. Schon beim Querlesen und Zappen mithilfe des Registers bleibt man ständig an Namen, Texten und Titeln hängen, die eine größere Bestellung in der Buchhandlung rechtfertigen. Ich selbst verdanke bereits Breuers Band "Ohne Punkt und Komma. Lyrik in den 90er Jahren" (1999) die Entdeckung einer so interessanten und mir vorher vollkommen unbekannten Lyrikerin wie Jennifer Poehler; deshalb vertraue ich mich gerne den mäandernden Fährten und Abwegen dieses unausschöpflichen Ziegels an. Die vielen vollständig zitierten Gedichte und das nach Personen, Verlagen und Zeitschriften differenzierte Register machen es leicht, dieses Buch nicht nur als Lese-Buch, sondern als Enzyklopädie unendlicher Verweise zu benutzen.
Nicht nur die physischen Proportionen von "Aus dem Hinterland" erinnern an die deutsche Ausgabe von "Tausend Plateaus" – man muss Theo Breuers hundertjährigen Almanach auch so lesen wie den rhizomatischen Klassiker von Deleuze/Guattari: In einem Buch gibt es nichts zu verstehen, sondern die Teile zu finden, mit denen man etwas anfangen kann, sprich: die Gedichte und Gedichtbücher, mit denen Theo Breuers Lesetagebuch "Rhizom macht".