In „Berliner Stille“ präsentiert uns Ralf Bönt die Dinge, wie sie nun einmal sind in Post-Hartz-IV-Deutschland. Da gibt es nichts zu lachen.
Ralf Bönts Erzählungen „Berliner Stille“ scheinen sich auf den ersten Blick in den normalitätssüchtigen, beziehungsbesessenen und beziehungsgenervten Beiläufigkeitssound vieler jüngerer literarischer Erzeugnisse einzureihen, die manchmal mit dem Namen „Leipziger Schule“, nach dem dort ansässigen Literaturinstitut, versehen werden. Bönt verschreibt sich dem Alltäglichen, dem Offensichtlichen, der Oberfläche. Er begibt sich gar nicht erst in schwiemelige Milieus, Berliner Intellektuellenkreise oder die internationale Haute Volé. Seine Helden sind die Durchschnittsbürger, die Kneipengänger, die Familienväter, die Fußballgucker. Sie sind spießig genug, um Jimi Hendrix gut und Bukowski „scheiße“ finden zu können, fahren einen R4 und gehen zusammen in den Türkenhof zum Fernsehen. Wenn sie sich einen BMW und einen Flug nach New York leisten können, ist das schon der Gipfel der Gefühle. Bönt beschreibt Post-Hartz-IV-Deutschland. Da gibt es nichts zu lachen. Frauen wohnen im Frauenhaus, Männer in monotonen Vorstadt-Wohnblocks. Wenn man sich begegnet, dann auf der Post, auf dem Bahnhof. Großstadtanonymität wohin das isolierte Auge blickt. Zwei mal werden von der Polizei Wohnungen aufgebrochen, weil sich die Bewohner („Namenlose“) untereinander nicht zu verständigen wissen. In München und New York. Im Unterschied zur obigen Schreibschule sind die Protagonisten in „Berliner Stille“ nämlich schon alt genug, um uns nicht nur aus einigen weltabgewandten Winkeln Neu-Köllns oder Magdeburgs erzählen zu können. Sie sind ein wenig herumgekommen in der ersten Hälfte ihres Lebens, und sei es auch nur, weil sie „weg [wollen] aus diesem Land, in dem man nicht leben kann, aber muß“.
Und da merkt man als Leser auch schon, dass es ebenfalls im Gegensatz zu den besseren Beispielen aus der genannten Leipziger Schreibwerkstatt Ralf Bönt nicht gelingt, aus dem Alltäglichen, dem Normalen sprachliches Kapital zu schlagen, uns Beziehungen nicht nur alltäglich, sondern auch glaubwürdig und in der Feinheit all ihrer Äußerungen zu präsentieren. Ralf Bönt vermag es nicht, den Alltag als das Besondere zu präsentieren, in dem die Wahrheit liegt, die die Trennlinie zwischen Leben und Kunst ausmacht. Die Normalität, die in diesen Erzählungen zur Kunst erhoben werden soll, ist nur die, die wir alle aus unserem eigenen banalen, kleinen Leben zur Genüge kennen. Ihr fehlt der literarische Mehrwert, das auf das Ganze Verweisende. In der Manier redseliger Kneipenbewohner werden uns Gemeinplätze präsentiert („Den Fußball, den liebst du für seine Sinnlosigkeit“), unbedeutende Einsichten zu bauschigen, hohlen Sentenzen aufgemöbelt („Die Jugend ist der Vorbote der Trennung.“, „New York ist für Täter gemacht, nicht für Opfer.“) und aus dem sprachlichen Nichts Pathosformeln zusammengeschraubt („Die Fähre nehmen ist wie träumen“). Hin und wieder wird der banale Inhalt durch ein paar Prisen Aus-dem-Zusammenhang-Gerissenes-Mysteriöses gewürzt. Dieses Schwungrad sprachlicher Trivialitäten wird durch alle Erzählungen hindurch angetrieben. Erzähler teilen uns Weisheiten mit, an die wir uns gar nicht mehr erinnern, Erzählstränge verzweigen sich, ohne sich zu treffen und laufen wie bunte, kleine Plastikschiffchen in den leeren Hafen der böntschen Mitteilsamkeit ein. Wozu das alles, fragt man sich und erfährt: „Unten ragte der Fernsehturm lustig aus der Stadt heraus“. Eines dieser Schiffchen trägt den Namen „Männlichkeit“. Leider ist es ein bisschen zerknautscht an den Enden, so wie die Männer, von denen hier erzählt wird. Sie sind die von den Frauen (die zur Zeit ihrer Blutung natürlich „genervt“ sind) Verlassenen, die Sitzengelassenen, die im Sonnenstudio ihre „Biologie genießen“ müssen oder sich unter dem Premiere-sendenden Fernseher in der Kneipenecke versammeln, um sich gemeinsam neuen Mut anzutrinken, damit sie auch in der Zukunft „die männliche Rauhheit“ ausstrahlen können, die das andere Geschlecht so mag. Leider ist dieses Schiffchen nur eines von allen: aus mangelnder Sensibilität und psychologischem Feingefühl und Einfühlungsvermögen heraus präsentiert uns der Autor einen Strauß von Klischees, Stereotypen und nur allzu gängigen Vorstellungen von den Dingen, wie sie nun einmal sind.
Bei einem dem Erzähler ungelegenen Zusammentreffen mit einem alten „Schulfreund“ heißt es in der titelgebenden Erzählung: „ich habe den Fehler nie ablegen können, besonders viel zu reden, wenn ich gar keine Lust dazu habe.“ Diesen Eindruck muss der Leser auch von dem ihm vorliegenden Erzählungsband erhalten. Man spürt den guten Willen des Autors, Exemplarisches mit leiser Stimme vorzutragen, eine kleine Chronik bundesdeutscher Normalität der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts zu schreiben, doch insgeheim scheint er dabei mit seinen Gedanken doch woanders gewesen zu sein. Mit der – was will uns der Autor damit sagen? Sind Feiertage womöglich doch nicht gottgegeben? - Aussage, Silvester sei doch der „Inbegriff der jubilierenden Sinnlosigkeit“ schwingt Ralf Bönt dann auch das Richtschwert über sein eigenes Werk.