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April 2006 Patrick Baumgärtel
für satt.org

Tanja Dückers: Der längste Tag des Jahres
Aufbau Verlag 2006

Cover

214 S., 18,90 €
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Denver-Clan in Fürstenfeldbruck

Auf der Suche nach den verlorenen Gemeinplätzen: Tanja Dückers’ neuer Roman „Der längste Tag des Jahres“ entpuppt sich als literarische Fata Morgana

Tanja Dückers’ Projekt der Aufarbeitung deutscher Vergangenheit schreitet voran. Diente in ihrem letzten Roman „Himmelskörper“ noch der Untergang der „Wilhelm Gustloff“ als Hintergrund für eine Familiengeschichte, in der die Schuldfrage der Großelterngeneration thematisiert wurde, ist in ihrem neuen Roman „Der längste Tag des Jahres“ die Elterngeneration mit dem so genannten „Glück der späten Geburt“ Ziel kritischer Auseinandersetzung. Oder zielt die Kritik auf die Enkelgeneration? Oder auf beide? Wahrscheinlich schwebte der Autorin so etwas wie ein „Spiegel der Generationen“ vor. Herausgekommen ist eine Art Familienkasperletheater, in dem sich die holzschnittartigen Figuren permanent selbst die Beine stellen und in dem die große Weltgeschichte die etwas aus dem Fokus geratene Spielstätte abgibt. Aber langsam. Bekanntlich sind es die kleinen Dinge, die den Schatten auf das Große vorauswerfen. Da fangen wir am besten mit den Namen an, die in diesem Buch so heißen: Bennie und Nana, Miriam und Sami, Janina und Jonas. Es dominieren die Vokale a und i, hell und leicht, als sollten sie allein schon das Gegengewicht zu der hier diskutierten düsteren und dunklen deutschen Geschichte stemmen. Und wahrscheinlich ist das Erhalten und Weitergeben dieser Namen auch schon der größte moralisch-politische Beitrag, den die Enkelgeneration der Täter geleistet hat. Die weit entlegene Vergangenheit mit ihren fernen drängenden und existenziellen Fragen konzentriert sich in dem überlieferten Schwarzweiß-Foto des namenlosen Großvaters mit dem „irgendwie unbarmherzige[n] Blick“ über dem Schreibtisch des Vaters. Seine Enkel genießen noch so viel historisches Wissen, dass sie schulterzuckend berichten können, bei ihm habe es sich um einen „ganz normalen, wahrscheinlich hitler- oder rommelbegeisterten Deutschen“ gehandelt, der in Nordafrika womöglich „einen Haufen junger Männer aus überfallenen Völkern umgebracht hatte, bevor es ihn selbst erwischte“. Diese Informationen sowie das Foto verdanken sie seinem Sohn Paul (dunkler, unheilverkündender Diphthong), „typischer Vertreter der Gründergeneration“ (Klappentext). Als Zeichen des der Familie Kadereit (strenger Name, strenge Vergangenheit) gemeinsamen Gen- und Schicksalsschatzes ist er zum „Wüstenspezialisten“ geworden und führt nun mit friedlichen Mitteln den „Überlebenskampf“ seines Vaters fort, indem er in Fürstenfeldbruck eine exotische Tierhandlung sowie eine Firma für Imkereibedarf betreibt. Am Ende wird er jedoch von den kapitalistischen Raubtieren der globalisierten Wirtschaft gestellt. Einige Jahre nach der Wende wirft Paul Kadereit das ökonomische Handtuch und gibt die Firmen auf, woran sein Wirtschaftswunderherz zerbricht und er stirbt. Das vernehmen nun seine fünf Kinder, ihrerseits wahrscheinlich von der Autorin als bunter soziologischer Strauß potenzieller Entwicklungsformen der Generation Golf entworfen. Jedem ist ein Kapitel gewidmet, das ein neues Licht auf den Vater werfen soll. Doch schon nach dem ersten weiß man eigentlich schon, dass man alles weiß.

Da ist zum einen Benjamin/Bennie, der vom Bayer zum „Homo berolinensis“ mutiert ist, was ihm sein Vater nie so recht verziehen hat. Als Opfer der Berliner Post-New-Economy-Tristesse macht er, was zwischen Torstraße und Danziger Straße alle machen: er betreibt eine Galerie, organisiert ein Stadtteilmagazin, schreibt Kunstkritiken und gibt Malkurse. In ihrer originellen Art fasst seine Freundin Nana ihr gemeinsames Leben so zusammen: „In Berlin lebten sie von der Hand in den Mund und wußten nie, was der nächste Tag bringen würde.“ Bennies Schwester Sylvia könnte sich eine solche Abnabelung nicht vorstellen. Sie spricht immer noch von „Vati“ und wähnt sich als heimliches Lieblingskind ihres Vaters. Die liebevolle Charakterisierung ihres Vaters geht so: „Während die anderen erst zur Tanzschule und später demonstrieren gingen, hatte sich ihr Vater für die heil durch den Krieg gebrachte Chamäleon- und Wüstenechsensammlung seines Nachbarn [ …] interessiert.“ Sylvia durfte dann in seiner Abwesenheit die Leitung des Ladens übernehmen: „Sylvia hatte damals in Vatis Abwesenheit überall kleine Informationstäfelchen angebracht – ihr Beruf als Fremdsprachensekretärin hatte sie nie ganz ausgefüllt.“ Mit ihrem Mann Jan spricht sie vor allem über Tutti-Frutti-Streusel. Es stört sie nicht, dass er sie betrügt. Anders als ihre Schwester Anna, die sich mit ihrem Mann Michael ganz der gemeinsamen Psychologen-Praxis und den beiden Kindern ergeben hat. Von Anna wird Paul Kadereit so charakterisiert: „Manchmal sahen sie sogar zusammen Denver Clan’, und Vater, der sonst nie irgendwelche Bemerkungen über Frauen machte, gestand, daß ihm die blonde, liebenswürdige Chrystel durchaus gefallen würde … Er guckte auch nicht wie sonst, wenn die Familie mal etwas länger zusammensaß, hektisch auf die Uhr und erwähnte weder das Geschäft’ noch die Firma’.“ Annas Bruder David, ein Schauspieler, der Desert Rock hört und Desert trinkt, erfuhr zwar mit seinem Vater nie eine Art von „Wir-Gefühl“, erkennt in sich aber „auch so einen Suchtcharakter“. Als er vom Tod seines Vaters hört, betrügt er seine Freundin mit einer ehemaligen Volontärin. „Er hätte ihn gern noch vieles gefragt.“ Auch Thomas, der seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner Familie pflegt, erfährt vom Tod seines Vaters in seinem Wohnwagen in der Mojave-Wüste. Er hat mit Chantal, der „Wölfin im Engelsgewand“ (warum nicht Schafspelz?), einen „Wüstensohn“ gezeugt und ist Mitglied der Sun People, einer quasi-buddhistischen Sekte. Zum ersten Mal seit langem nimmt er Kontakt mit seiner Familie auf und ruft seinen Bruder Bennie in Berlin an. Die Vergangenheit holt ihn ein, möchte man nach der Lektüre dieses Buches zusammenfassen.

Was soll man dazu noch sagen? Dass die Figuren in „Die längste Nacht der Welt“ das magere Fleisch auf den Knochen zweier einfallsloser historischer Thesen bilden? Da ist zum einen die altbekannte Charakterisierung der Wirtschaftswundergeneration als vergangenheits- und wirklichkeitsblind, arbeitsam und gefühlskalt. Zum anderen ist da die gemeinschafts- und bindungssüchtige Generation der Kinder, die einen „Sinn in gewissen Regeln und Ritualen“ in Religionen oder Sekten sucht. Die neue Religiosität, gähn. Tanja Dückers hätte es bei einer kleinen journalistischen Ausführung dieser Thesen belassen sollen, zumal sie einen journalistisch-flapsigen, unliterarischen Ton anschlägt, der – was nicht gelingt - den Jargon der jeweiligen Figur nachbilden soll, am Ende jedoch vor keinem sprachlichen Gemeinplatz zurückschreckt, da helfen auch die gelegentlichen Versuche der Verwendung von Ironie nicht. Die Autorin zeigt nur wenig Einfühlungsvermögen bei der Ausgestaltung ihrer Figuren, die – von ihr allein gelassen – entweder sympathisch-blass und gesichtslos (Bennie, David, Thomas, Anna) oder als unsympathisch-idiotische Karikaturen (Paul, Sylvia) enden. Eine perspektivische Ausleuchtung der eigentlichen Hauptfigur, des Vaters, scheitert spätestens an dessen Profillosigkeit. Die motivische Einfassung durch das Leitthema der Wüste wirkt bemüht und unfreiwillig komisch. Das Ziel einer sich aus den Charakteren und ihren Handlungen ergebende Einheit, die eine plausible organische Verbindung der Verhaltens- und Denkmuster der verschiedenen Generationen und damit ein Beispiel der sozio-historischen Verläufe der Bundesrepublik geben könnte, kommt nicht zustande. Ein jeder agiert im luftfreien Raum seiner je eigenen Konstruktion. Es scheint, den Deutschen tut die Wüste gar nicht gut. „Der längste Tag des Jahres“ jedenfalls ist nicht mehr als eine literarische Fata Morgana.