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Juni 2006 Enno Stahl
für satt.org

Thomas Kling: Gesammelte Gedichte
Dumont 2006

Cover

976 S., 68 €
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Thomas Kling
Gesammelte Gedichte

Vor etwas mehr als einem Jahr ist Thomas Kling gestorben. Im April erschienen nun die „Gesammelten Gedichte“, herausgegeben von Marcel Beyer und Christian Döring. Enno Stahl sprach mit Christian Döring, der Kling seit den 80er Jahren als Lektor betreute.

Thomas Kling war einer der größten Lyriker deutscher Sprache in den 80er und 90er Jahren, das kann man bedenkenlos sagen. Und da die Eigenkanonisierungen möglicher Konkurrenten um diesen Titel, links vom Kanzler, rechts vom Kanzler, eher peinlich sind, sparen wir nicht mit dem Superlativ, sagen wir es frei heraus: Kling war der größte deutsche Dichter der letzten zwei Dekaden. Thomas Kling ist sich selbst treu geblieben, Thomas Kling hat sich nicht angepasst, Thomas Kling hat seine Lyrik konsequent weiterentwickelt – von den punkig angehauchten Versen seines Erstlings „Erprobung herzstärkender Mittel“ aus dem Jahr 1986 hin zum mythologie-kritischen und geschichtsphilosophischen Spätwerk. Seine Dichtung hat einen erstaunlichen Wandlungsprozess erfahren, ohne je ihre ureigene Diktion aufzugeben. Dennoch erscheint es ungewöhnlich, dass der Dumont-Verlag bereits zum ersten Todestag mit einer Ausgabe der Gesammelten Gedichte aufwartet. Sein langjähriger Lektor Christian Döring, Mitherausgeber des Buches, sieht das anders:

CHRISTIAN DÖRING: Ich weiß gar nicht, ob das ungewöhnlich ist. Ich empfand das mit dem Mitherausgeber Marcel Beyer als eine Verpflichtung, eine Selbstverständlichkeit, zumal in dem jetzt erschienenen Band der gesammelten Gedichte bei diesen 950 Seiten ja nur die Gedichte zu versammeln waren, die in den erschienenen Büchern, wenn auch teilweise nur in sehr kleinen Auflagen, vorlagen. Und wir haben ja keine historisch-kritische Ausgabe veranstaltet und im Nachlass von Thomas Kling Ausschau gehalten nach Unbekannten.

Eben das ist verwunderlich. Wenn Beyer/Döring im Nachwort von einer „ersten Sicherung“ sprechen, muss man dagegen halten, dass Klings Bücher letztlich greifbar sind, wieso also ein solch eiliges Projekt, wäre es nicht doch sinnvoller gewesen, das Kling’sche Archiv mit einzubeziehen und gleich eine wirkliche Gesamtausgabe seiner Lyrik vorzulegen?

CHRISTIAN DÖRING: Es gibt vergriffene Bücher, gerade diese Bücher, die mit Ute Langanky zusammen entstanden sind, diese Kunstbücher, und das waren ja teilweise auch Kleinauflagen, Kleinstauflagen unter 100 Exemplaren, so dass man da dann oder der ein oder andere Gedichte lesen kann, die er von Thomas Kling noch nicht kannte, aber Sie haben grundsätzlich recht, es ging um eine Bestandsaufnahme des vorhandenen Werkes.

Für Döring erschließt sich der Sinn dieser Publikation jedoch allein schon aus der Bedeutung des Lyrikers Thomas Kling, die er als gar nicht hoch genug zu veranschlagen sieht:

CHRISTIAN DÖRING: Ich glaube, das liegt auf der Hand, und darüber kann es keinen Streit geben, er hat mit seinen Gedichtsprachen die junge Generation enorm beeinflusst, und jedes von ihm erschienene Gedichtbuch hat eine neue Rezeption ausgelöst, er war ein Impulsgeber im Bereich des Lyrischen.

Döring hat Thomas Kling nahezu seine gesamte Schaffenszeit lang betreut, wie gestaltete sich das Verhältnis zu diesem schwierigen Autor, der vielen Menschen, gerade auch Veranstaltern, nicht zuletzt durch lautstarke Ausbrüche bekannt gewesen ist.

CHRISTIAN DÖRING: Thomas Kling war ein sehr impulsiver, ein, das wissen wir, liebenswerter, geradezu zärtlicher Autor, sowohl im Umgang mit nahezu täglichen Anrufen, Telefonaten, Erkundigungen nach dem Wohlbefinden, dem Durchsprechen von Kritiken, Büchern anderer Autoren, das Sichten sozusagen der Konkurrenz, das auf der einen Seite. Nehmen wir sein Schreiben, den Schreibprozess, das Entstehen seiner Manuskripte, so war er hier ein Lyriker, mit dem man auch sehr leicht umgehen konnte, in dem Sinne, dass er aller Kritik gegenüber sehr aufgeschlossen war, sehr hellhörig war. Und er hat niemals um ein Gedicht gestritten, wenn ich der Meinung war, das passt hier nicht rein, oder das fällt ab oder das ist schwächer.

Wie schätzt Christian Döring die erstaunliche Bandbreite der Kling’schen Lyrik ein, die auffällige Fortentwicklung dieses Schreibens?

CHRISTIAN DÖRING: Ich glaube, es ist vor allem eine Historisierung, die da stattgefunden hat. Gleichsam von den Oberflächen der Gegenwartsphänomene, denken wir an „Geschmacksverstärker“ hin dann zu den Gedichten, erster Weltkrieg, ein zentrales Thema, die Erkundung von Geschichtsräumen und die Erkundung von Landschaftsräumen, ein Weg also, der in immer größere Tiefen geführt hat, in gewisser Weise dann auch das ganze Wilde des Anfangs abgestreift hat.

Christian Döring weist noch auf einen anderen Zug der späten Werkphase Thomas Klings hin:

CHRISTIAN DÖRING: Es kommt zu dieser Historisierung auch eine immer stärkere Rezeption von Kollegen aus der deutschen Lyriktradition hin zu dem, was Thomas Kling dann das Bildgedicht nannte, und dann auch immer stärker auch die, wenn man das überhaupt so sagen kann, Einbeziehung seiner Selbst bis eben dann zu seinen letzten Gedichten, in denen er die Krankheit zum Thema macht.

Thomas Kling, der an Lungenkrebs litt, hat sein Siechtum in diesen letzten Gedichten ebenso schonungslos wie unprätentiös dargestellt, ja, auch dieser Erfahrung gewann er kühne Bilder ab: „schraffuren erzeugend im blau/yves-klein-pigment? Sei’s drum./ wenn diagnose ersma’ steht – frantic. // wie man eintäufte in meine Brust,/ rumfuhrwerkte darin und loren proben/ abtransportierten, nix von gemerkt – frantic.“

Souverän klang die Stimme Klings. Gerade in seinen letzten Gedichtbänden hatte seine Diktion an Reife gewonnen. Ja, so seltsam sich das bei einem einstmals geradezu „ungehörigen“ Poeten anhört, auch ein Zuwachs an Weisheit ist da zu vernehmen, ein Zug, der ja bei vielen Autoren fortgeschrittenen Alters auftritt.

CHRISTIAN DÖRING: Dieses Weiserwerden gibt es in der Literatur. Thomas Kling ist davon nicht ausgenommen, ich finde bloß, dieses Weiserwerden kann sich verschieden ausdrücken und oft bedeutet es ja ein Konventionellerwerden, eine Art dann auch wieder Konservatismus, das kann man Thomas Kling gewiss nicht nachsagen.

Hier kann man Döring nur zustimmen.