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Juli 2006 | Marc Degens für satt.org |
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Die Vielfalt an kulturellen Zeitschriften aus dem alternativen Literaturraum ist in Deutschland derzeit so groß wie lange schon nicht mehr. Anfang bis Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts sorgten wilde Punkfanzines („Ich und mein Staubsauger“, „Die kleine Mechthild“ u.v.a.) ansprechend gestaltete, Pop und Politik verbindende Zeitschriften („Heaven Sent“, „Auseinander“) und untergründige Literaturmagazine („Der Störer“, „molli“ etc.) für viel frischen Wind im Blätterwald. In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts verschwanden diese Organe dann von der Bildfläche – und mit ihnen alteingessene Vorzeigeprojekte wie „Der Alltag“ oder „Die Gegenwart“. Ein wichtiger Grund für den Verlust der unzähligen literarischen Lyrik- und Prosa-Hefte läßt sich der Tod von Josef „Biby“ Wintjes (1947-1995) ausmachen, dessen Literarisches Informationszentrum in Bottrop und insbesondere das von ihm herausgegebene Nachrichten- und Anzeigenmagazin „Impressum. Der literarische Markt“ für den alternativen Literaturraum eine zentrale Netzwerkfunktion erfüllte. Die Hauptursache, weil für alle Zeitschriften von Bedeutung, war die Etablierung des Internets als preiswerte Veröffentlichungsalternative zum Druck oder zur Kopie. Bis das Potential des Internets allerdings erkannt und ausgenutzt wurde, vergingen mehrere Jahre – heute läßt sich kurioserweise feststellen, daß das Internet für die neue Zeitschriftenblüte durchaus mitverantwortlich ist. Die Lücke, die Josef Wintjes’ Tod 1995 hinterlassen hat, wird heutzutage von Internetmagazinen, allen voran von uschtrin.de, geschlossen – wohltuenderweise ohne die früher gängigen Feindbilder (Suhrkamp Culture vs. Privatautor). Dadurch, daß der schreibende Schüler die gleichen Informationsquellen benutzt wie der preisgekrönte Romancier oder der dichtende Beamte, rückt das literarische Feld sogar enger zusammen. Zumindest ein Stück weit. „BELLA triste“ aus Hildesheim ist eines der schönsten neuen Literaturmagazine, mit geschmackvoll ausgewählten Gedichten und Erzählungen junger Autoren, einem edlen, leicht wiedererkennbaren Layout und ungewöhnlichen Aufsätzen und Gesprächen. In der aktuellen vierzehnten Ausgabe wird der 1970 geborene Schriftsteller Dietmar Dath zu seinem in vielerlei Hinsicht einzigartigen, inzwischen auf dreizehn Einzelveröffentlichungen angewachsenen Werk befragt, und in der vorletzten Ausgabe von „BELLA triste“ klagt Ingo Niermann, dessen Buch „Minusvisionen“ für Kulturschaffende Pflichtlektüre sein sollte, zu Recht über die Verschanzung des etablierten Literaturbetriebs hinter dem Renommee ausgewählter Verlage. Tatsächlich sollte nicht entscheidend sein, wo, sondern was für ein Buch veröffentlicht wird. „In Film, Musik, Kunst und sogar Theater gibt es die Möglichkeit, daß Künstler selbst Produktionsfirmen gründen und mit eigenständigen Vertrieben kooperieren“, so Niermann. „In der Literatur dagegen trägt der Selbstverlag weiterhin einen unabwendbaren Makel.“ Niermanns These, daß in naher Zukunft die urteilsbildende Macht der Verlage durch neue Technologien deutlich eingeschränkt wird, kann man zustimmen – auch wenn man Niermanns Einschätzung, daß der Leser sich bald gänzlich vom gedruckten Buch (und also auch vom Buchmarkt) lösen wird, nicht teilt. Schließlich erlauben der Digitaldruck und das „print on demand“-Prinzip Buch- und Heftproduktionen mit geringem Risiko und günstigem Verkaufspreis, bieten elektronische Rundbriefe nahezu kostenlose Informations- und Werbeflächen, stellt das Internet dezentrale Vertriebswege zur Verfügung und sorgt die Verbreitung von Textverarbeitungsprogrammen für eine Demokratisierung des literarischen Feldes. Die Zeiten sind vorbei, in denen man ein Erzeugnis aus dem alternativen Literaturraum auf dem ersten Blick am Schreibmaschinensatz und den Letraset-Überschriften identifizieren und klassifizieren konnte. Heutzutage entstehen mit verhältnismäßig geringem Aufwand und zum Preis von nur einem Euro literarische Kleinode wie die in Potsdam erscheinende, studentische Literaturzeitschrift „schreib“. Die achte Ausgabe des 52 Seiten umfassenden, DIN A5-großen Heftes im Querformat wurde einfach, aber liebevoll layoutet, die Qualität der veröffentlichten Gedichte und Kurzprosatexte ist schwankend, was der Natur eines solchen Kollektivprojektes innewohnt, trotzdem weist die Ausgabe keine textlichen Ausfälle, dafür aber zwei starke Erzählungen auf, und weiß insbesondere durch die im Heft abgedruckten s/w-Fotografien und das tolle Panoramatitelbild von Carmen Winter zu überzeugen. Finanziert wird „schreib“ vom Fachschaftsrat Germanistik der Universität Potsdam – und es bleibt zu hoffen, daß auch in Zukunft die Kosten für dieses äußerst charmante Heftprojekt gesichert sind. Gestrichen wurde dagegen vom Rat der Stadt Münster am 5. April 2006 die jährliche Förderung in Höhe von 2000 Euro der zweimal im Jahr erscheinenden Literaturzeitschrift „Am Erker“, was den Fortbestand der Zeitschrift, die nächstes Jahr ihr 30jähriges Bestehen feiern will, existentiell gefährdet. Erst vor kurzem erschien die fünfzigste Ausgabe von „Am Erker“ zum Thema „Literarisches Scheitern“ und bot wie gewohnt eine Mischung von Gedichten und Erzählungen neuer Stimmen und namhafter, oft junger und bereits seit längerem zum Autorenstamm zählender Schriftstellern (Tanja Dückers, Marcus Jensen, Markus Orths, David Wagner). Auch wenn „Am Erker“ äußerlich an das in Essen beheimatete exzellente Literaturmagazin „Schreibheft“ erinnert, fehlt „Am Erker“ jede Form von Elitismus, wofür schon die regelmäßig im Heft abgedruckten, schülerzeitungshaften Cartoons von VerstAnd (Andreas Verstappen) sorgen. Die respektlose Haltung setzt sich im umfangreichen Rezensionsteil fort, der in der Regel ein Drittel einer Ausgabe füllt. Die Bücherschau von „Am Erker“ kümmert sich wenig um Verlags- und Autorennamen, deckt ein enormes Spektrum der deutschen Literaturproduktion ab, und macht „Am Erker“ für viele Leser und Literaturschaffende unverzichtbar. Ein eigenes Forum für die neue deutsche Literaturkritik und -wissenschaft bietet die „Kritische Ausgabe“. Die neunte abwechslungsreiche Ausgabe widmet sich dem Thema „Rausch“ und bietet u. a. eine schöne biographische Annäherung an Jörg Fauser (1944-1987), ein aufschlußreiches Gespräch mit dem Schriftsteller Norbert Gstrein und eine außergewöhnliche Charakteristik des Werkes des Büchnerpreisträgers Wilhelm Genazino von Benedikt Viertelhaus. Gefördert wurden die vorliegenden Ausgaben von „Am Erker“, „Bella Triste“ und „Kritische Ausgabe“ allesamt vom Deutschen Literaturfonds, der im April 2006 wegen der Gewährung einer Ausfallbürgschaft in Höhe von 300.000 Euro für eine kostenlose Sondernummer der Literaturzeitung „Volltext“ in die Schlagzeilen geriet. In der Diskussion stand allerdings weniger die Frage, ob man Gelder eher nach dem Gießkannenprinzip verteilt oder gezielt größere Projekte unterstützt, als vielmehr die Person Gunther Nickels, der Gutachter und Projektbetreuer des Deutschen Literaturfonds ist und gleichfalls als freier Autor an der Zeitung „Volltext“ mitgearbeitet hat. Dieser Fall ist ein Musterbeispiel für die Funktionsweisen, Verflechtungen und Kämpfe innerhalb des literarischen Feldes – und es ist auch keinesfalls überraschend, daß sich die Herausgeber Joachim Feldmann (Am Erker), Florian Kessler (BELLA triste) und Chefredakteur Marcel Diel (Kritische Ausgabe) in einem offenen Brief für Gunther Nickel eingesetzt haben. „Volltext“ hat im Mai 2006 als Reaktion auf die mediale Diskussion schließlich auf das Kooperationsprojekt mit dem Deutschen Literaturfonds zur Produktion einer gemeinsamen Sonderausgabe verzichtet. Nicht vom Deutschen Literaturfonds, sondern vom FUKA-Fonds der Stadt Luzern gefördert wurde die neunte Ausgabe des schweizerischen Literaturmagazins „das heft das seinen langen namen ändern wollte“, das durch das DIN A5-Format und mit seiner Klammerheftung am stärksten an die Literaturfanzines früherer Zeiten erinnert. Zu Recht trägt sie den Untertitel „Zeitschrift für sympathische Literatur“ und bietet auf 44 Seiten kurze, kunstvolle und durchweg originelle Lyrik und Prosa. Einer der vielen Höhepunkte des Heftes ist Christoph Simons Beitrag „Lollypoplutschen“ zum „Lexikon der ausgestorbenen Sportarten“. Für Liebhaber des absurden und subtilen Humors sollte diese Ausgabe ein Pflichtkauf sein. Weniger ausgewogen und mehr als Fundgrube präsentiert sich dagegen noch die erste Ausgabe von „Exot“. Die „Zeitschrift für komische Literatur“ präsentiert einige schöne und gelungene Texte, doch in den 84 Seiten des Debüts stecken zu viele, nicht konsequent ausgeführte Ideen. Die Besprechung einer „Zimmer frei“-Folge oder Gespräche mit Poetry Slam-Legenden und -akteuren lenken zu sehr vom eigentlichen, von der Komik und dem Komischen, ab. Das Ergebnis ist trotzdem beachtlich – und es wird spannend zu sehen sein, wie es den Machern gelingen wird, die Kräfte in Zukunft mehr zu bündeln: Der „Salbader“ aus Berlin könnte in dieser Hinsicht ein Vorbild sein. Entdeckungen machen, Entwicklungen beobachten … Es macht die Freude der Lektüre literarischer Magazine aus. Ich freue mich bereits sehr auf die zweite „Exot“-Ausgabe. Erstveröffentlichung in Kultur & Gespenster 1 (Sommer 2006).
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