Anzeige: |
satt.org | Literatur | Comic | Film | Musik | Kunst | Gesellschaft | Freizeit | SUKULTUR |
Juli 2006 | Gerald Fiebig für satt.org |
||
| augsburg brecht connectedDer ICE Bertolt Brecht
|
Erstaunliches Fazit: Politische Lyrik ist vielleicht aktueller denn je |
Angesichts der angespannten Haushaltslage der Kommune wäre ein Festival dieser Größenordnung in Augsburg nicht ohne finanzielle Zuwendungen des Bayerischen Kultusministeriums und der Bundesregierung möglich gewesen. Erfreulicherweise vermochte weder der Redebeitrag des Staatsministers im Bundeskanzleramt Bernd Neumann noch der von Kultusminister Thomas Goppel das vielfältige Festival in eine einseitig unpolitische Lesart Brechts hineinzudrängen. Zu vorhersehbar waren Neumanns Vorbehalte gegen Brechts Marxismus, zu inhaltsleer und fern aller politischen Aktualität Goppels Meditationen über den Dialog mit Brecht im Speziellen und den Künsten im Allgemeinen. Die Auseinandersetzung mit den Texten Brechts in den Lesungen und den daran anschließenden Diskussionen ging um so vieles tiefer, dass die Politiker – sehr zum Wohle eines gelungenen Festivals – nicht aus dem Schatten der Dichter treten konnten.
Wer sich daran gewöhnt hat, Brecht als einen literarischen Klassiker der internationalen Linken zu sehen, mochte zwar bei des Staatsministers Rede vom „deutschen Klassiker“ zusammenzucken. Interpretiert man den Begriff aber dahingehend, dass Brecht für uns heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, historisch geworden ist, so trifft er etwas Wahres: Die Texte, in denen Brecht seine linken Wertvorstellungen und Hoffnungen an Weltrevolution und Kaderpartei knüpft, sind auch für heutige linke Politik nur noch historisch relevant; der Berliner Autor Michael Wildenhain wies zu Recht darauf hin, dass es für eine volle Würdigung der Brechtschen Texte unabdingbar wäre, diese Geschichte der Linken im 20. Jahrhundert mit zu verhandeln. Unveränderte Relevanz haben viele von Brechts politischen Gedichten, die im Rahmen von „ABC“ zu hören waren, wo sie jene sozialen Missstände luzide benennen, gegen die es für linke Politik auch heute noch anzugehen gilt – und wenn sie zugleich eine sprachliche Suggestionskraft entwickeln, die den Leser/Zuhörer zu Empörung und Engagement anzustiften vermag.
Ist nun aber gerade die Nischengattung des Gedichts die richtige, um mehr Menschen zu solchem Engagement anzustiften? Die Lyrik etwa von Bert Papenfuß, der bei mehreren Veranstaltungen des Festivals vertreten war, zeigt, dass gerade in dieser nicht unmittelbar gesellschaftlich wirksamen Gattung politische Aussagen von einer unversöhnlichen Grundsätzlichkeit möglich sind, wie sie in den Diskursen der politischen Praxis so nicht möglich wäre: „Es gibt keine Freiheit / in der Diktatur der Bourgeoisie, / Demokratie genannt, Sklaverei ist gemeint.. / Es gibt keine Freiheit / in der Diktatur des Proletariats, / Sozialismus genannt. Bestenfalls Toleranz.“ Gerade darum könnten Gedichte als Substrat jener grundlegenden Werthaltungen oder jenes utopischen Wünschens dienen, die für grundlegende politische Veränderungen vonnöten wären. (Die gegenwärtige Stasis in der politischen Klasse, der wohl kaum jemand grundlegende Werthaltungen oder gar Utopien unterstellen wird, scheint die Richtigkeit dieser Aussage zu bestätigen.)
Auf ganz andere und durchaus erstaunliche Weise politisch brisant präsentierten sich bei diesem Festival die Gedichte des US-amerikanischen Lyrikers Brian Turner. Turner, der sieben Jahre in der US-Armee diente, darunter 2003 und 2004 im Irak, macht in seinen Texten das alltägliche Grauen der Zustände im Irak in einer Weise sicht- und spürbar, wie man sie in den Nachrichtenmedien vergeblich sucht – nicht nur in den USA, wo sein Gedichtband „Here, Bullet“ gewissermaßen als durch die Desinformationszensur geschmuggelter Kassiber enthusiastisch begrüßt wurde.
Lyrik als fundamentale Gesellschaftskritik und aufklärerische Anti-Propaganda – hier gewinnen zwei durchaus Brechtsche Schreibmodelle erstaunliche Aktualität. Dass diese Texte nicht unmittelbar eine neue politische Bewegung auslösen werden, kann man weder den Texten noch ihren Autoren zum Vorwurf machen – auch durch Brechts Texte wären weniger Menschen politisiert worden, wenn sie in einen weniger stark ideologisch polarisierten Zeitgeist hineingesprochen hätten, wie aus den erhellenden Ausführungen Harald Hartungs zur Brechtrezeption in der westdeutschen Linken der 50er- bis 70er-Jahre deutlich wurde.
Dass darüber hinaus eine Vielzahl ganz anderer Annäherungen an Brechts Lyrik, die sich ja bei weitem nicht in explizit politischen Themen erschöpft, stattfanden, machte das Festival in inhaltlicher Hinsicht zu einem Erfolg, auf dessen Nachfolger man gespannt sein darf. Wenn das Niveau von „ABC“ Nr. 1 gehalten werden kann, dürfte sich ein langes Wochenende in Augsburg im Juli 2007 für Literaturfans aus dem ganzen deutschsprachigen Raum lohnen.
satt.org | Literatur | Comic | Film | Musik | Kunst | Gesellschaft | Freizeit | SUKULTUR |