Es war vorauszusehen, dass aus Anlass des 50. Todestages von Gottfried Benn nicht nur der Dichter im Mittelpunkt stehen wird, sondern auch, wie Helmut Lethen es nennt, „Benns Verbrechen“. Benn habe, lauten bis heute die drei wesentlichen Vorwürfe, bei der „Säuberung“ der Berliner Akademie der Künste von jüdischen, republikanischen und sozialistischen Schriftstellern mitgewirkt, die NS-Eugenik unterstützt und die Vertreibung kritischer Künstler aus ihrer Heimat gerechtfertigt. Von Helmut Lethen durfte man erwarten, dass er verstehen hilft, warum ein belesener, kluger und sensibler Mann wie Benn sich 1933 in den Nationalsozialisten hatte täuschen können.
Lethen ist durch eine Reihe von brillanten Aufsätzen, vor allem aber durch sein bahnbrechendes Buch „Verhaltenslehren der Kälte“ ein ausgewiesener Experte für unheimliche geistige Nachbarschaften von Intellektuellen der Weimarer Republik, die das politische Lagerdenken der „68er“ noch in steter Opposition wähnte, zum Beispiel Brecht und Ernst Jünger oder Georg Lukács und Carl Schmitt. Auch in seinem jetzt erschienenen Buch über „Gottfried Benn und seine Zeit“ arbeitet Lethen die intellektuelle Nähe vermeintlicher Antipoden plastisch heraus. Kein anderer Name fällt dabei häufiger als der Brechts. Wieder ist es für Lethen der Habitus der Kälte, der amoralische Blick, der den Autor der „Morgue“-Gedichte und den Verfasser der „Maßnahme“ ganz eng zusammenrücken läßt. Dabei charakterisiert er wie nebenbei in funkelnden Sätzen das große Faszinosum, das Benns Lyrik bis heute ausmacht. „Benns Kunst“, schreibt er etwa, „besteht darin, die ,Kühlkammern weißer Wissbegier’ zum Klingen zu bringen.“
Stilistisch ist dieses Buch ein germanistisches Glanzstück, inhaltlich bietet es im wesentlichen nur eine Reprise der Ergebnisse, die Lethen bereits 1994 in seiner Studie über die „Verhaltenslehren der Kälte“ präsentierte. Die Erwartungen waren indes bei vielen höher. Und deshalb ist dieses Buch für jeden Benn-Novizen zwar eine vorzügliche Einführung, aber für alte Hasen des Betriebs eine kleine Enttäuschung, zumal die Vorbehalte gegen Benn wegen seines politischen Verhaltens nach Hitlers „Machtergreifung“ nicht mit dem geisteswissenschaftlichen Seziermesser positivistischer Akribie einer peniblen Überprüfung unterzogen wurden, sondern in Lethen erneut einen allzu getreuen Korrepetitor fanden.
Joachim Dyck hat dagegen den langwierigen Gang in die Archive nicht gescheut und minutiös rekonstruiert, wie von Februar bis Juni 1933 die Gleichschaltung der Berliner Akademie der Künste vor sich ging und welche Rolle Benn dabei spielte. Man liest diese nüchterne, sachliche und unaufgeregte Darstellung mit Seite um Seite wachsender Erregung, ja Empörung. Empörung nicht etwa über Dyck, sondern über all die Literaturwissenschaftler, die Benn ohne genaues Quellenstudium als Opportunisten verurteilt haben – Helmut Lethen eingeschlossen. Tatsächlich hat Benn nicht die Gleichschaltung der Akademie in vorauseilendem Gehorsam betrieben, er hat sich ihr vielmehr widersetzt.
Sorgsam entwickelt Dyck, warum für einen Mann von Benns Prägungen überhaupt keine andere Alternative bestand, als sich 1933 für den autoritären Staat auszusprechen. Wie der preußische Finanzminister Johannes Popitz, der wegen seiner Beteiligung am gescheiterten Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 hingerichtet wurde, sah Benn im Wahlsieg der Nationalsozialisten eine unausweichliche Folge der seit 1930 bestehenden Staatskrise und als „ein Bündel offener Möglichkeiten“. Diesen irrtümlich von ihm vermuteten Handlungsspielraum nicht zu nutzen, erschien Benn wie Popitz schlechterdings verantwortungslos. Beide haben ihre Fehleinschätzung bitter bereut. „Für Benn“, schreibt Dyck lapidar, obwohl dieses Ergebnis eine beträchtliche Zahl von Forschungsarbeiten zu Makulatur werden lässt, „sind alle Illusionen, die er sich über den ,Neuen Staat’ gemacht hatte, spätestens am 7. und 8. Juni 1933 verflogen.“
Hatte sich Benn aber nicht zuvor durch seine berühmt-berüchtigte „Antwort an die literarischen Emigranten“, mit der er öffentlich auf einen privaten Brief von Klaus Mann reagierte, ein für alle Mal kompromittiert? Auch hier widerspricht Dyck dem bisherigen Forschungskonsens. Benn habe annehmen müssen, Klaus Mann werde seinen privaten Brief demnächst veröffentlichen, und er habe unmöglich schreiben können, wovon er längst überzeugt gewesen sei: „Sie haben recht, und ich habe den Wunsch die Akademie zu verlassen.“
Es bleibt noch der Vorwurf, Benn habe die rassistische NS-Eugenik unterstützt. Dyck widerspricht eingebürgerten Vorurteilen erneut, zeigt, dass Benn bei der Verwendung des Begriffs „Züchtung“ sich vor allem an Nietzsche orientierte und von der mechanistischen Auffassung der nationalsozialistischen Eugenik klar distanzierte: „Rassenzüchtung als Politik ist die Kinderliebe von Kidnappern.“
Bange fragt man sich: Schießt Dyck nicht über’s Ziel hinaus? Denn ein Bekenntnis zum NS-Staat hat Benn ja doch sehr wohl abgelegt, und einen Brief wie den von Klaus Mann hätte er zweifellos auch unbeantwortet lassen können. In der Tat hat die Darstellung einen apologetischen Zug. Aber das ist in diesem Fall überhaupt kein Nachteil. Dyck leugnet schließlich nicht Benns politischen Sündenfall. Vielmehr zeigt er, dass dieser Sündenfall beängstigend unausweichlich war; dass Benn die politischen Umwälzungen bis zum Sommer zu keinem Zeitpunkt ohne kritische Eintrübungen bejahte; dass er nicht ein einziges Mal dem Antisemitismus das Wort geredet hat; und dass er sofort die Konsequenzen zog, als er seines politischen Irrtums gewahr wurde. Dyck versetzt den Leser gleichsam in Benns Lage, weist auf viele wichtige, oft übersehene Details und Zusammenhänge hin. Und mit fortschreitender Lektüre wird man gewahr, wie wohlfeil eine gewisse Sorte moralischer Urteile über einen der bedeutendsten Dichter des 20. Jahrhunderts doch ist.
Zu den vielen nicht überprüften Topoi der Benn-Forschung gehört auch, seinen Namen in einem Atemzug mit dem Ernst Jüngers zu nennen. Der schmale Briefwechsel, den Holger Hof jetzt sorgfältig ediert und mit einem glänzenden Nachwort versehen hat, beweist indes, wie wenig sich die beiden Autoren zu sagen hatten. „Wir sind von Außen oft verbunden / wir sind von Innen meist getrennt“, schrieb Benn im Dezember 1949 „mit empfehlendem Gruß“ an Jünger – und faßte damit eigentlich alles zusammen, was es zu diesem Thema zu sagen gibt. Seinem Freund F. W. Oelze gegenüber war Benn noch deutlicher: Gern lasse er sich mit Heidegger, nicht aber mit Jünger „zusammenstelln“. Bei Jünger finde er nämlich „enorm viel inneren Kitsch u was er als ,Angriff’ gesehn haben möchte“, sei „mehr Vorwölbung u. Blähung bei ihm als Front.“ Es blieb daher beim Austausch von Höflichkeiten, Blumensträußen aus Anlass von Geburtstagen und Empfehlungen an die Gattin.
Während Benns unergiebiger Briefwechsel mit Jünger nun vollständig gedruckt vorliegt, läßt sich seine komplette und vorzüglich kommentierte Korrespondenz mit dem Limes Verlag lediglich auf einer CD-ROM nachlesen. 139 Schreiben Benns fanden immerhin den Weg in ein Buch, aber diese Auswahl bleibt unbefriedigend. Die Stimme Max Niedermayers, der den Limes Verlag nach dem Zweiten Weltkrieg gründete, wurde ganz unterschlagen. Dadurch kommt zum Beispiel seine „moderne Gretchenfrage“ vom 29. Oktober 1948 nicht vor: „Sind Sie irgendwo entnazifiziert und eingestuft worden? Um den Vorschriften zu genügen, muß ich darüber eine Vermerkung in meinen Akten haben.“ Benns Antwort vom 8. November 1948 fehlt ebenfalls: „Ihre Gretchenfrage erschüttert mich: ich bin nie P. G. gewesen, gehörte weder der Partei noch einer ihrer Gliederungen an, bin also auch nicht entnazifiziert u. eingestuft, ich falle ja nicht ,unter das Gesetz’!“
Diese denkwürdige Klarstellung würde man zum 50. Todestag des vermeintlichen „Verbrechers“ Gottfried Benn gerne nicht nur auf einer CD nachlesen können.