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August 2006 David Wagner
für satt.org

Florian Illies: Ortsgespräch
Blessing 2006

Cover

250 S., 16,95 €
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Florian Illies: Ortsgespräch

Tante Do, Tante Ria, Tante Marthel und Tante Didl. Das sind die Namen seiner Tanten in Schlitz, seinem oberhessischen Heimatort, mit denen Florian Illies uns in seinem neuem Buch bekannt macht. „Ich weiß noch, wie ich manchmal …“ lautet die Formel, mit der er uns in das Städtchen führt, in dem er heute nicht mehr die Töchter kennt, die zum Reitunterricht gefahren werden, sondern nur noch deren Mütter. Auf der Suche nach seinem verlorenen Schlitz fallen ihm, das wird großartig beschrieben, die Tauschringe wieder ein, die in dieser Tantenwelt für saisonal im Überfluß vorhandene Gemüse und Marmeladen existieren.

Sentimentale Menschen, eigentlich bin ich so einer, sind da gerührt. Menschen, die noch viel sentimentaler sind als ich, werden bei der Lektüre dahinschmelzen. Unsentimentale Menschen jedoch werden dieses Buch spätestens bei dem Satz „Wenn die ersten Flocken im Apfelsaft herniederfielen, dann war der Winter nicht mehr weit“ irritiert zur Seite legen und sich fragen: was will uns der Autor sagen?

„Ortsgespräch“ liefert keine Theorie der Provinz. Es fällt kein Wort über ihre Häßlichkeit, über Zersiedelung und Landschaftszerstörung. Georg Simmel wird erwähnt, dann aber, hier bleibt kein Kalauer aus, folgt unweigerlich ein Verweiß auf Johannes Mario Simmel. Dennoch, zwei interessante Thesen prägen sich ein. Die eine besagt, weibliche Unterwäschemodelle seien „sozusagen die Provinz unter den Berufen“. Gilt das eigentlich auch umgekehrt? Wäre Schlitz, wenn es einen Beruf hätte, ein Unterwäschemodell? Die andere, in der Provinz sicher avanciert klingende These behauptet, „die Provinz sei ein DJ und halte den Lauf der Zeit an, immer wieder, lasse sie wieder laufen, stoppe, und schaffe genau dadurch einen ganz eigenen, neuen Rhythmus.“ Ja, ja. Der DJ ist ein seltsam Ding. Und auf dem Land gehen die Uhren anders.

Hat Florian Illies die Musik seines Provinz-DJs zu laut gehört? Er scheint sich in einer Zeitschleife verfangen zu haben, verdammt zu einem ewigen Klassentreffen mit den achtziger Jahren. Aus dieser Zeit stammen seine Erzählrequisiten, wie stets sehr auffällig, wie extra ausgeleuchtet, plaziert. Da finden sich die Carrerabahn, Playmobilfiguren, Schokostreusel und, natürlich, die unverzichtbare, auch von mir einst geliebte Goldfolie über dem Nutellaglas. Dazu kommen Moonboots, Wim Thoelke, Freibaderinnerungen und Frühstücksbrettchen. Abwaschbare, beschichtete Frühtstücksbrettchen kommen öfters vor. Das aber soll hier nicht psycholanalysiert werden.

Kolja Mensing, wie Illies Jahrgang 1971, sagt in seinem Provinzbuch „Wie komme ich hier raus?“ von seiner Altersgruppe „ …und wenn wir eine melancholische Anwandlung verspüren, dann erinnern wir uns lieber an die Fernsehsendungen unserer Kindheit als an die Landschaft, in der wir aufgewachsen sind.“ Florian Illies widerspricht. Er erinnert sich zwar an die „Rauchenden Colts“, das Schlitzer Land aber scheint ihm wichtiger zu sein. Dort liegt sein Combray, seine übersichtliche Räuber-Hotzenplotz-Welt, wie von Ottfried Preußler und Wilhelm Raabe gemeinsam erfunden. Da spielen alle Anekdötchen seiner Jugend. Florian Illies will da nicht raus. Im Gegenteil. Er würde am liebsten für immer wieder rein. Zurück unter die Blautannenhecke seiner ungebrochenen Erinnerung. Denn er weiß, daß „heiße Sonntagnachmittage in einer Fußgängerzone in Essen und Frankfurt auf der Seele kleben wie alter, zäher Kaugummi“. Das wahre Leben, so die Botschaft, gibt’s nur bei Tante Do in Schlitz, zwischen Buttercremetorten und ihrem „stadtbekannten Busen“.

Im schönen Schlitz, dem zonenranddeformierten Fachwerkstädtchen mit fünf Burgen und einen Lehrer, der in einer Modellandschaft in seinem Hobbykeller immer wieder die Schlacht von Stalingrad nachspielen muß, bis er eines Tages herausfindet, wie er sie doch noch hätte gewinnen können; in dem Kaff, in dem die Leinenwebereien schließen mußten und auch die einst innovative Lochkartenproduktion eingestellt werden mußte, wird „Ortsgespräch“ nun sicherlich Ortsgespräch sein. So berühmt ist Schlitz nicht mehr gewesen, seit der Kaiser, auch das erfahren wir aus Illies Heimatchronik, zu Besuch war und die Gräfin ihn mit den Worten „Willkommen in meinem Schlitz“ begrüßte. Entrüsten über dieses Buch wird sich dort aber sicherlich keiner. Florian Illies tut niemandem weh.

„Natürlich ist in diesem Buch alles erstunken und erlogen“ behauptet die Vorbemerkung. Wenn dem so sein sollte, dann wohl auch die Vorbemerkung. Bis auf die Anekdote, die davon berichtet, wie der Erzähler eine seiner Mitschülerin dazu gebracht haben will, sich unbekleidet erst in blauer Farbe und dann auf einer Leinwand zu wälzen um Yves Klein nacheifern, wirkt jedoch keine Episode erfunden. Sondern eigentlich recht unspektakulär, manchmal putzig, und, ja, auch bieder. Und gelegentlich, aber das ist eine sehr persönliche Assoziation, erinnert das an den warmen Erzählton in den Reader’s Digest Heften aus den fünfziger Jahren, in denen ich als Kind bei einer meiner Tanten auf dem Land, sie hieß Tante Mirli, gern geschmökert habe.

Und so staunt der Leser, ob irritiert oder gerührt, sich durch Florian Illies privates Heimatmuseum. Erfährt, wie die Schlitzer das nennen, was vom Apfel übrigbleibt. Lernt den Bonsai-Bäumchen-Killer Illies und den Lateinschüler Illies – Latein ist ihm wichtig, auf seinen Lateinunterricht weißt er gleich mehrfach hin – kennen. Der irritierte Leser fragt sich weiter, was wohl ein „Kadettenadmiral“ sein könnte und dann, wenn wieder und wieder vom „aufsteigenden Heimatgefühl“ die Rede ist, wie alt der Mensch, der da schreibt, sich fühlen mag. Sind das die langerwarteten Erinnerungen von Martin Walser? Die Memoiren von Günther Grass? Oder hat der Autor des erfolgreichsten Jugendbuchs für spätkindliche Endzwanziger wirklich weniger als sechs Jahre gebraucht, um sich in den Verfasser patinierter Provinznostalgieprosa zu verwandeln, der berichtet, wie er im Internet antike Rosenstöcke für seine Berliner Dachterrasse ersteigert?

Hallo, Florian Illies, du bist noch nicht siebzig! Du bist erst fünfunddreißig! Du bist im besten Mozartalter und mußt dich noch nicht an deinem „Nachsommer“ versuchen. Parke deinen Golf doch bitte nicht im Biedermeier, sondern vor deiner Berliner Haustür. Da ist die Gegenwart. Schreib dein nächstes Buch bitte wieder für uns, nicht für die Lesegruppe der Generation Pflegeheim und deine alten Tanten, auch wenn sie so bezaubernde Namen tragen. Schreib für uns arme Mittdreißiger, die, ganz ohne Erdung in Schlitzer Heimat, verloren durch die Großstadt zappeln müssen.


Erstveröffentlicht in Welt am Sonntag vom 13. August 2006.