„Ein Passant wie tausend andere“
Peter Stamm lehrt uns auf großartige Weise die Tugend der Bescheidenheit.
In diesem Buch sind alle Touristen. „Er stellte sich vor, wie sie durch Paris gingen, auf der Suche nach der Schönheit der Stadt, und er fragte sich, ob sie sie gefunden hatten. Die Füße taten ihnen weh, und am Mittag aßen sie in einem Restaurant mit deutscher Speisekarte und wurden vom Kellner übers Ohr gehauen. Dann gab es Streit, weil die Eltern in ein Museum wollten und der Junge nicht. Und wenn sie ihn fragten, was er denn sehen wolle, konnte er es nicht sagen.“ So phantasiert Andreas, der Protagonist, über eine deutsche Familie zu Besuch in Paris. Er weiß: mit der gleichen Kombination aus Ergebenheit, verschwommener Entschlossenheit und Ziellosigkeit verläuft sein eigenes Leben.
Der aus der Schweiz stammende, allein lebende Deutschlehrer aus einem Pariser Vorort nimmt „jeden Tag den gleichen Zug“, damit er „immer eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn im Schulhaus“ ist. Den „Traum von einer Stelle in der Innenstadt [hat er] längst aufgegeben.“ Er hat sich der Monotonie seines Berufes („Dieselben Geschichten, dieselben Witze. Nur das Publikum hat gewechselt.“) ergeben. Wie viele andere Figuren ist er ein permanent Müder. Alle zwei Wochen trifft er sich mit einer seiner beiden Geliebten Nadja und Sylvia; die eine ist geschieden, die andere Mutter dreier Kinder. Dabei ereignet sich jedesmal die „Wiederholung des immer gleichen Abends, der immer gleichen Nacht, ohne sich je näher zu kommen“. Andreas wohnt in einer kleinen Eigentumswohnung, in der es „nichts Besonderes, nichts Wertvolles“ gibt. So ist auch sein Leben: bedeutungs- und anspruchslos. „Die Leere war sein Leben, waren die achtzehn Jahre, die er in dieser Stadt verbracht hatte, ohne dass sich etwas verändert hatte, ohne dass er sich eine Veränderung wünschte.“ Andreas (auch der Name fällt nicht aus dem Rahmen) lebt ein Leben als „Exemplar“, als „Ding, Zentrum von Verhaltensweisen“ (Adorno) im künstlichen, verdinglichenden und vereinheitlichenden global-spätkapitalistischen „System“, der großen „Maschinerie“, in der Veränderung nur eine Variation des Immergleichen heißen kann und ein Ausbruch unmöglich ist. Ein Sinn ist dieser fragwürdigen und unwirklichen Existenz nicht abzuhandeln. Die Erfahrung des Immerwiedergleichen der Warenproduktion (Benjamin) schneidet den Einzelnen von seiner erfahrungsbildenden Geschichte ab. „Wenn er an seine Jugend dachte, war es ihm, als blättere in Gedanken in einer fremden Biographie und betrachte Bilder, die nichts mit ihm zu tun hatten.“ Daraus erklärt Benjamin die melancholische Verfassung des modernen Menschen.
Eine Art von Glück erfährt Andreas einzig in der allmorgendlichen „besinnungslosen“ Versenkung in den Anblick seines „kleinen, aufgeräumten Hinterhofes“. Als sein „bester Freund“, der Sportlehrer Jean-Marc fragt, „Darf ich dir eine persönliche Frage stellen?“, antwortet Andreas mit „Lieber nicht“. Den Begriff der Person möchte er besser nicht mehr in Anspruch genommen sehen. Die „gleichgültige Freundlichkeit“, die Andreas auf einem von seinem Vater aufgenommenen Foto ausstrahlt, definiert seine Beziehung zur Außenwelt. Für identitätsdepravierte Wesen ist es schwer, Gefühle füreinander aufzubringen. „Es war grotesk, dachte er, dass er Jean-Marc als seinen besten Freund bezeichnet hätte.“ Die einzige Bindungsart, die für Andreas Bedeutung hat, ist die sexuelle. Als er in seinen Ferien in der Normandie sich „wieder einmal vorgenommen [hatte], Proust zu lesen“, endet er mit einer Frau, deren „großen Brüste“ ihn „fasziniert“ hatten, in seinem Zimmer, doch auch an dieser Front wenig Neues unter der Sonne. Kurz zuvor hatte er bereits Delphine kennengelernt, eine 24-jährige Praktikantin an seiner Schule, mit der sein Freund Jean-Marc schon eine Nacht verbracht und die dieser als „erfrischend“ attribuiert hatte. Delphine hilft ihm, als Andreas mit Verdacht auf Lungenkrebs sich plötzlich einer Operation unterziehen muss. Dann bekommt Andreas Angst vor den Resultaten. In dieser „Grenzsituation“ (Jaspers) entscheidet er sich: „Er musste ein neues Leben beginnen“, bzw. „sich heilen von diesem Leben, das keines gewesen war.“ Dabei gilt, dass ohne die das Ich zeitlich-qualitativ prägende und konstituierende „Einheit der Erfahrung“ (Adorno) auch die Vorstellung des real eintreffenden Todes absurd bzw. unmöglich erscheint: „sein Leben war so ereignislos gewesen, dass er sich seinen Tod nicht vorstellen konnte.“ Davon zu unterscheiden sind Andreas’ häufige Imaginationen seines eigenen Todes. Hierbei geht es um Wunschphantasien, den Versuch der Bedeutungsgebung und die letzte zu machende Erfahrung (Baudelaire) des modernen Menschen.
Schließlich verlässt Andreas seine Arbeit, verkauft seine Wohnung und fährt mit Delphine in einem alten 2 CV dahin, wo er herkommt: in sein Schweizer Heimatdorf. Er besucht seinen Bruder und dessen Familie, die im Haus seiner verstorbenen Eltern wohnen. Und er besucht Fabienne, seine einstige französische Jugendliebe, die er wenig später an seinen Freund Manuel verloren hatte. Von ihr, die Andreas immer noch liebt, erfährt er, was er immer hatte wissen wollen, dass sie diese Liebe - nicht erwidert. „Die Liebe dauert zehn Minuten“, fügt sie desillusioniert hinzu. Auf seine Frage, ob sie mit dem bürgerlichen Leben, das sie führt, ihrem Ehemann, ihren beiden Kindern und ihrem Haus glücklich sei, antwortet sie: „Ich bin nicht unglücklich.“ Als mit ihr der letzte Horizont einer Utopie, die Fortsetzung eines als intensiv erfahrenen Liebesmoments, schwindet, merkt Andreas: „Die Gleichheit seiner Tage war sein einziger Halt. Ohne Stelle, ohne Wohnung, ohne Stundenpläne, die regelmäßigen Treffen mit seinen Geliebten und seinen Freunden war er nur noch ein winziger Punkt in einer bedrohlich leeren Landschaft.“ Sind es doch die Institutionen, die das Leben dem „nicht festgestellten Tier“ (Nietzsche) Mensch erträglich machen? Soll sich Andreas, der Verächter bürgerlicher Lebensformen doch in die traute Zweisamkeit schicken? Andreas fährt zurück zu Delphine, die er schon auf immer verabschiedet hatte. Ihre gemeinsame Zukunft sieht er schon geschrieben. Sie ähnelt der Fabiennes und Manuels. Das letzte Bild bestätigt dies: „Über ihre Schulter sah Andreas nicht weit entfernt ein anderes Paar, das sich umarmte, und es war ihm, als beobachte er sich und Delphine, als sei er sehr weit entfernt von allem.“
Peter Stamm ist sich in seinem dritten Roman in Thema, Stil und Anspruch treu geblieben, vielleicht ist es sein bester. Ähnlich wie die Vorgänger ist „An einem Tag wie diesem“ ein großer Roman einer großen Sehnsucht, die, von einer zurückhaltenden, nüchternen Sprache, die – etwas anderes gibt es nicht – nur auf der synthetischen Oberfläche entlanggleitet, begleitet, die Bescheidenheit lernen muss. Stamm ist ein souveräner Erzähler und ein exquisiter Beobachter. Er braucht nur wenige Szenen, um uns zu zeigen, dass „man sein Leben selbst in die Hand“ (Klappentext) nehmen muss, aber dann markiert er auch die Grenzen dieser marktwirtschaftlichen Devise. Er zeigt uns den Traum der Freiheit, aber auch die Grenzen dieses rousseauschen Ideals. Er zeigt uns die Utopie der Liebe, aber auch die Grenzen dieses Konstruktes des bürgerlichen Zeitalters. Dabei scheint vielleicht der größte Gewinn dieses Buches, zu erkennen, dass sie Grenzen von etwas sind. Ein Wissen, um das der Autor, wie es scheint, lange kämpfen musste.