Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



August 2006 Marc Degens
für satt.org

Wolfgang Welt: Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe. Drei Romane.
Suhrkamp 2006

Cover

496 S., 15 €
   » amazon

Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe:
Die Wolfgang-Welt-Werkausgabe

Es gibt mindestens drei Formen der so genannten Popliteratur. Die klassische Popliteratur verarbeitet Popthemen und -techniken literarisch, zu denken ist hier an Werke von Schriftstellern wie H. C. Artmann, Rainald Goetz oder Thomas Meinecke. Dann gibt es den Fall der Popliteraten, in denen weniger die Texte, als vielmehr die immense Popularität der „Schriftsteller“-Autoren die Zugehörigkeit zur Gruppe bestimmen – die prominentesten Beispiele heißen Alexa Hennig von Lange, Benjamin Lebert und Benjamin von Stuckrad-Barre. Eine dritte Spielart und ein Sonderfall der Popliteratur ist die Enthüllungs- und Bekenntnisliteratur von Autoren, die dem literarischen Feld zwar nahe stehen, aber vorrangig nicht als Schriftsteller wahrgenommen werden. Stilprägend sind etwa die Gesprächsprotokolle des ehemaligen März-Verlegers Jörg Schröder, die Schlüsselromane von Joachim Lottmann oder die schnörkellose Tagebuchprosa von Wolfgang Welt. Welt, der wie Lottmann seine Schreibe im journalistisch-literarischen Grenzbereich der Zeitgeist-, Stadt- und Musikmagazine der achtziger Jahre ausbildete, debütierte 1986 im Konkret Literatur Verlag mit dem Roman „Peggy Sue“, dessen erster Satz legendär wurde: „Etwa zwei Jahre nach unserer ersten Begegnung machte mir Sabine am Telefon Aussicht auf einen Fick, allerdings nicht mit ihr selber, sondern mit ihrer jüngeren Schwester.“

Maßstabsgetreu erzählt der 1952 in Bochum geborene und noch heute im Haus seiner Eltern in der Bergarbeitersiedlung Wilhelmshöhe wohnende Autor in „Peggy Sue“ von seiner Heimat, seinem abgebrochenen Studium, seinem Nebenjob als Verkäufer im ELPI-Plattenladen, seinen Geld- und Liebesmühen und seinen Anfängen als Popkritiker bei „Marabo“ und „Sounds“. Das Buch ist ein Ruhrgebietsroman, ein Bericht über die Arbeitswelt eines Musikjournalisten und die Anfänge der Stadtmagazine, die Beichte eines Sexsüchtigen und das Tagebuch eines angehenden Schriftstellers – geschrieben in einem aufregend atemlosen Stil: „Ich schlief bei meinen Eltern. Von Bochum aus konnte ich schneller nach D‘dorf kommen. Ich stand um halb sechs auf. Ich ließ mir ein paar Butters von meiner Mutter für unterwegs machen, weil ich nicht wußte, ob‘s auf dem kurzen Flug ein Frühstück gab. Am Flughafen holte ich mir die reservierte Karte ab und landete keine Stunde später in München. Mit ‘ner Taxe fuhr ich in die Innenstadt. Im Hotel sollte ich Jörn Reinshagen kontaktieren. Das tat ich auch um punkt zehn. Von der Halle aus rief ich ihn im Zimmer an. Offensichtlich weckte ich ihn. Er erzählte mir, sie seien bis sechs im Hilton gewesen. Carolyne hätte da Queen untern Tisch gesoffen. Die würde jetzt noch pennen. Außerdem hätten die noch einen Termin beim AFN. Ich sollte um zwölf noch mal wiederkommen. Auch nicht schlimm, dachte ich, kann ich mir die Stadt ‘n bißchen angucken. Oder Hermann Lenz besuchen. Ich rief bei ihm an.“

Bochum, D’dorf, München … Mutters Butters, Queen und Hermann Lenz … Rock’n’Roll und Suhrkamp. Thematisch ist „Peggy Sue“ ein interessantes Zeitdokument, erzählerisch aber ein fast unerreicht „lässiges“ (Rainald Goetz) und schnörkelloses Buch, mit vielen Parallelen zu Jörg Fausers meisterhaftem Roman „Rohstoff“ aus dem Jahr 1982. Peter Handke erklärt die Faszination von „Peggy Sue“ damit, daß Wolfgang Welt „einerseits ein großer Verehrer von Hermann Lenz [ist,] und andererseits ist er der größte Verehrer von Buddy Holly. Und aus diesen zwei Polen, Buddy Holly und Hermann Lenz, bestehen eigentlich alle seine Bücher.“ Noch vor der Abfassung von „Peggy Sue“ wurde der Suhrkamp Verlag auf den Autor aufmerksam und plante, dessen Romandebüt zu veröffentlichen. Dazu kam es leider nicht. Es wäre wirklich interessant zu erfahren, was andernfalls aus Wolfgang Welt und dem Suhrkamp Verlag geworden wäre.

2001, fünfzehn Jahre nach dem Debüt, veröffentlichte der Heyne Verlag Wolfgang Welts zweiten Roman als Taschenbuch. „Der Tick“ des inzwischen als Nachtportier am Bochumer Schauspielhaus arbeitenden Autors knüpft nahtlos an „Peggy Sue“ an. Und das ist das Problem. Die Fortsetzung liest sich wie die knapp 200 Seiten umfassende Verlängerung des offenen Endes von „Peggy Sue“. Die Wiederholungen ermüden, auch der ehemals fortschrittliche Erzählstil hat in der Zwischenzeit viel von seinem Reiz verloren. Welt hat seine Prosa noch stärker verdichtet, zu einer Bleiwüste mit wenigen Absätzen, aber der Leser wünscht sich statt Enge vielmehr Lockerung, gedanklich wie auch gestalterisch, und eine Befreiung vom starren Korsett der Chronik der Ereignisse.

Jetzt nun, noch einmal fünf Jahre später, verlegt der Suhrkamp Verlag doch noch Welts Werke, das Buch mit dem Titel „Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“ versammelt die ersten beiden Romane plus einen dritten, unveröffentlichten Roman namens „Der Tunnel am Ende des Lichts“, der wiederum nahtlos an „Der Tick“ anschließt. Dieser dritte Roman steuert sogar einem vorläufigen Ende entgegen, einer seelischen Zerrüttung und Welts Psychiatrie-Einweisung, doch trotz dieses Verlaufs und des Abdrucks in einem Buch, denkt man während der Lektüre weniger an eine aufeinander aufbauende Romantrilogie, als vielmehr an „Der weiße Hai Teil drei“. Nach „Der Tunnel am Ende des Lichts“ folgen dann noch fünf kürzere, zwischen 1983 und 1995 erstveröffentlichte Erzählungen von Wolfgang Welt – so daß man statt „Drei Romane“ wohl auch „Werkausgabe“ auf das Cover des Buches hätte drucken können. Schade schade. Für Wolfgang Welt, den „Ghostwriter des Lebens“ (Willi Winkler), und für den Suhrkamp Verlag kommt diese Veröffentlichung leider zwanzig Jahre zu spät.