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September 2006 Gunther Nickel
für satt.org

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Die Ausdifferenzierung und Professionalisierung
der Theaterkritik zwischen 1870 und 1933



I. Vorbemerkung

Kritik, so Alfred Kerr, sei eine Kunst. Damit war nicht allein die Selbstverständlichkeit gemeint, daß es bei der Ausübung des kritischen Metiers einer gewissen Kunstfertigkeit bedürfe. Gemeint war vielmehr, Kritik gebe eine eigene Kunstform ab, zumindest dann, wenn jemand wie Kerr sie betreibe. »Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden«, schrieb bereits Friedrich Schlegel und wandte sich damit gegen die bis weit ins 18. Jahrhundert verbreitete Auffassung vom »Kunstrichter«, der vor allem auf die getreue Anwendung eines Katalogs von Regeln zu achten habe. Wie schon Lessing opponierte er gegen die Vorstellung, Normativität sei bei Urteilen über Kunstwerke hilfreich. »Objektive Kriterien für eine Theaterkritik gibt es nicht«, heißt es dementsprechend in einem verbreiteten Literaturlexikon. Aber erstens ist diese Vorstellung relativ jung, sie fand zweitens keineswegs immer ungeteilte Zustimmung, und sie gestattet drittens nicht den Schluß, in der Theaterkritik sei ad libitum alles erlaubt.

Peter Hacks, ein maßloser Verächter allen Rezensententums, konzedierte in seinem Essay Das Arboretum, Kritiker seien durch »eine gewisse aufsaugende Durchschnittlichkeit« als »Fachleute des Laientums« in der Lage, über den Bewußtseinsstand des Publikums ihrer Zeit Auskunft zu geben: »Sie sind gleichsam die Zungen des Publikums, welche den Zeitgeschmack sowohl empfinden als auch aussprechen. Die großen Kritiker sind, um in dem Bild zu verweilen, die feineren Zungen; so hat Kerr die Wedekindmode und Ihering die Brechtmode eher erleckt als andere.« Sammlungen alter Rezensionen würden sonst neben der Belustigung nur der Belehrung darüber dienen, »unter was für ulkigen Leuten« ein Dichter habe dichten müssen. »Das ist natürlich keine unwichtige Nachricht, aber es war und bleibt die ausschließliche Nachricht der Kritik.«

Hacks’ Urteil ist forsch, es ist frech, und es stimmt natürlich nicht, es sei denn, man wäre bereit, sich von allen Ansprüchen der Aufklärung zu verabschieden. Ihr verdanken wir jedoch nicht nur die maßstabsetzende Hamburgische Dramaturgie Gotthold Ephraim Lessings, sondern auch die nicht minder maßstabsetzenden Hauptwerke Immanuel Kants, die den Namen Kritik schon in ihrem Titel führen: Kritik der reinen Vernunft, Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft. Auch Karl Marx schrieb ja keine »Politische Ökonomie«, sondern er widmete sich hingebungsvoll ihrer Kritik, und zwar mit dem Ziel, etwas unmittelbar nicht Begreifbares und scheinbar Naturwüchsiges dem Verständnis aufzuschließen. Um nichts anderes bemühen sich auch Literatur- und Theaterkritiker. Jedenfalls tut es ein bestimmter Typus. Er nimmt es sich zumindest vor. Sein Ziel sei, bekundete etwa C. Bernd Sucher, »daß der Leser über die Kritik in einen Zustand versetzt« werde, »der ihn urteilsfähig macht«. Ein Kritiker benötige dazu selbstverständlich eine umfassende Kenntnis des Werks einschließlich der gesamten Rezeptionsgeschichte.

So berechtigt die Klage von Günter Grass über den Sieg des Sekundären in Form einer »feuilletonistischen Aufbereitung, die sich Kritik« nenne, im Einzelfall sein mag, so sehr muß auch betont werden, daß Kritik als Ferment für ein kulturelles Leben unverzichtbar bleibt, will sie sich vom Ideal einer räsonierenden Öffentlichkeit nicht restlos verabschieden. Daß es sich bei Kritiken im allgemeinen und Theaterkritiken im besonderen nicht nur um Sekundärliteratur, sondern um einen wesentlichen Bestandteil der kulturellen Reproduktion mit einer eigenen Geschichte handelt, hat die Theaterwissenschaft als zuständige geisteswissenschaftliche Disziplin bislang allerdings nur am Rande gewürdigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden zwar eine Reihe monographischer Studien über Theaterkritiker, aber ihre Ergebnisse bleiben unbefriedigend, sie sind, wie Lothar Schöne in seinem Buch Neuigkeiten vom Mittelpunkt der Welt befand, »von schlichter Art«, »teils nichtssagend, teils allgemein«, und – so die Theaterwissenschaftlerin Heike Adamski in ihrer Dissertation Diener, Schulmeister und Visionäre – wegen ihrer »Werkimmanenz« auch methodisch überholt. Schöne und Adamski haben mit Ihren Büchern einen Anfang gemacht, an den die folgende Tour d’Horizon anknüpft.


II. Von Fontane zu Schlenther

Am 10. Januar 1887 erschien in der traditionsreichen, altehrwürdigen Vossischen Zeitung in Berlin die Besprechung einer Inszenierung von Henrik Ibsens Drama Gespenster. Ihr Verfasser, der Theaterkritiker Paul Schlenther, sollte es in späteren Jahren zum Intendanten des Wiener Burgtheaters bringen. 1887 hatte er sich jedoch noch nicht etabliert, sondern erschrieb sich als junger, streitbarer Vorkämpfer eines neuen Theaters und einer neuen Literatur langsam einen Namen. Bereits 1883 war er durch seine gegen den Generalintendanten der Königlichen Schauspiele gerichtete Streitschrift Botho von Hülsen und seine Leute »mit einem Schlage bekannt« geworden – wenigstens in Berlin. Sie brachte ihm auch Ärger ein, nicht anders als seine begeisterte Besprechung der Gespenster. Die Redaktion distanzierte sich öffentlich von der Rezension und erklärte, Kunst solle »Genuß, Freude, Erhebung« und nicht wie Ibsens Stück »Entsetzen, Qual« oder, »was noch schlimmer ist, hoffnungslose Verzweiflung« bereiten. Der Widerspruch war allgemein. Noch zweieinhalb Jahre später, als das Drama von der »Freien Bühne« erneut in Berlin aufgeführt wurde, sprach Theodor Fontane rückblickend davon, der Erfolg sei von den Gegnern »hart bestritten« worden. Damit war vornehm umschrieben, was sich nach dem Ende der Vorstellung abgespielt hatte: »Zum Schlusse«, erinnerte sich Leopold Schönhoff in der Frankfurter Zeitung, »entbrannte ein förmlicher, tobender Kampf der Parteien.«

Es war ein Akt der Diplomatie, als Fontane drei Tage nach dem Erscheinen von Schlenthers Kritik seinem jungen Kollegen beisprang und erklärte, Schlenther sei »dem eminenten Talente des Dichters, die Redaktion der im Publikum vorherrschenden Anschauung gerecht geworden«. Denn bei aller Liberalität konnte es sich die Vossische Zeitung unter dem stetig wachsenden Konkurrenzdruck nicht erlauben, ihre angestammte Leserschaft zu verärgern. Daß Fontane von vornherein vorgehabt hatte, sich ebenfalls über Ibsens Stück zu äußern, erwies sich für die Zeitung unter diesen Umständen als Glücksfall. Erst glättete er die Wogen, dann widersprach er dem euphorischen Urteil Schlenthers, indem er fragte: »Was will Ibsen?«, und gab sogleich die Antwort:

»Es sind zwei Sätze, die, wenn ich sein Stück recht verstanden habe, von ihm wie Thesen an seine neue Wittenberger Schloßkirche geschlagen werden. Erste These: Wer sich verheiraten will, heirate nach Neigung, aber nicht nach Geld. Zweite These: Wer sich dennoch nach Geld verheiratet hat und seines Irrtums gewahr wird, ja wohl gar gewahr wird, sich an einen Träger äußerster Libertinage gekettet zu haben, beeile sich, seinen faux pas wieder gut zu machen, und wende sich, sobald ihm die Gelegenheit dazu wird, von dem Gegenstande seiner Mißverbindung ab und dem Gegenstand seiner Liebe zu. Bleiben diese Thesen unerfüllt, so haben wir eine hingeschleppte, jedem Glück und jeder Sittlichkeit hohnsprechende Ehe, darin im Laufe der Jahre nichts zu finden ist als Lüge, Degout und Kretinschaft der Kinder. Physisches und geistiges Elend werden geboren, Schwächlinge, Jammerlappen, Imbeciles. So die Thesen, die das Ibsensche Drama, dessen Kunst und Technik ich rückhaltlos bewundere, zur Anschauung bringt. Sind diese Thesen richtig?«

Es ist leicht zu ermessen, wie heute, im Zeitalter der »Partnerbörsen«, mehrheitlich die Antwort auf diese Frage bei einer demoskopischen Erhebung lauten würde. Auch Fontane schilderte 1895 mit seinem Roman Effi Briest das Schicksal einer Frau, nach dessen Lektüre wohl kaum jemand der Vernunftehe das Wort reden würde. Dennoch lautete seine Antwort, auf die Frage, ob Ibsen mit seinen Thesen richtig liege: »Ich halte sie für falsch.« Er begründete seine Ansicht unter anderem mit folgendem Argument:

»Das Hin und Her vom einen zum andern, das Lieben auf Abbruch, die souveräne Machtvollkommenheit ewig wechselnder Neigungen über das Stabile der Pflicht, über das Dauernde des Vertrages, all das würde die Welt in ein unendliches Wirrsal stürzen und eine Verschlimmbesserung ohne gleichen sein.«

Problemlos ließe sich diese Auseinandersetzung aus dem Jahr 1887 heute, 120 Jahre später, im Hinblick auf den zunehmenden Auflösungsprozeß traditioneller familiärer Strukturen in den letzten dreißig, vierzig Jahren und seine sozialen Folgen diskutieren. Denn im Spannungsfeld der 1887 eingenommenen Positionen – Ibsen und mit ihm Schlenther als Anwalt eines individuellen Glücksanspruchs, Fontane dagegen besorgt um die Zukunft des gesellschaftliches Ganzen – bewegte sich auch die unlängst geführte Debatte über Ursachen und Folgen der demographischen Entwicklung in Deutschland.

Die Meinungsunterschiede zwischen Schlenther und Fontane waren zugleich Ausdruck eines jener Generationenkonflikte, die in der Literatur- und Theatergeschichte immer wieder entscheidende Auslöser für eine ästhetische Neuorientierung gewesen sind – im Sturm und Drang genauso wie bei der Durchsetzung des Expressionismus oder der Revolte der »68er« gegen den »dekorativen Überbau« eines »restaurativen Establishments«. Am Ende ist es immer nur eine Frage der Zeit, wann die jüngere Generation sich durchsetzen kann. Um 1890 gelang ihr das relativ schnell. Obwohl Schlenther in der Redaktion der Vossischen Zeitung auf so viel Gegenwehr gestoßen war, übernahm er schließlich von Fontane die Theaterberichterstattung über das Königliche Schauspielhaus. Ein scharfer Kritiker von dessen Leitung und ein Vorkämpfer für ein modernes Theater nahm damit den renommiertesten und einflußreichsten theaterkritischen Posten ein, der in Berlin zu vergeben war; schließlich war die Vossische Zeitung als einzige »königlich privilegiert«.


III. Von Schlenther zu Kerr

In der Auseinandersetzung um Ibsen wie auch bald der um Gerhart Hauptmann standen – was immer sonst Triebfeder des Konflikts gewesen sein mag – inhaltliche Differenzen und nicht stilistische Qualitäten der Kritiker im Vordergrund. Zwar war mit Fontane in Deutschland erstmals der neue Typus des »feuilletonistischen« Kritikers, des »Plauderers«, auf den Plan getreten, aber wie der »räsonierende« Rezensent verfolgte er nach wie vor das Ziel, dem Publikum eine fundierte Meinungsbildung zu ermöglichen. Schlenthers Rezensionen waren ebenfalls viel eleganter formuliert als etwa die Otto Brahms, der sich in Beiträgen für die Vossische Zeitung, Die Nation und die Frankfurter Zeitung für den Naturalismus stark machte. (»Was Schlenther geschrieben hat«, befand Hans Knudsen 1930, »liest man noch heute mit Genuß, gelockt, gereizt und angeregt durch die Feinheit und Delikatesse der Formulierung.«) Doch die Fähigkeit zu einer lebendigen Schilderung und pointierenden Zuspitzung hatte bei ihm ebenfalls noch keine dominierende Bedeutung. Folgt man Siegfried Jacobsohn, von dem 1905 die theaterkritische Wochenzeitschrift Die Schaubühne gegründet worden war, dann wurde fundierte Urteilskraft erst zur Nebensache, als August Scherl 1901 mit dem Tag eine neue Berliner Tageszeitung ins Leben rief und dafür Alfred Kerr als Theaterkritiker engagierte.

»Mit diesem »Tag« und diesem Tage begann Herrn Kerrs äußerer Aufstieg und sein innerer Verfall. Denn jetzt, wo er zum ersten Mal einigermaßen ins Breite wirken konnte, vergrößerte sich für seine Wünsche diese Wirkung nicht rasch genug. Vielleicht ohne sich dessen bewußt zu werden, spähte er nach Mitteln und Mittelchen aus, dazu angetan, ihn für die Leser absonderlich, amüsant, wunderbar zu machen und jedenfalls merkwürdiger als die andern Kritiker des ›Tag‹ und der übrigen Berliner Zeitungen. Was die Natur ihm mitgegeben, hätte wahrhaftig ausgereicht. Aber dann hätte er fünf bis zehn Jahre länger zu seinem Wege gebraucht, und das ist in unsrer elektrisierten und elektrisierenden Zeit nicht für jeden abzuwarten und zu ertragen.
Herr Kerr wurde also so unnatürlich wie möglich. Er verrenkte, wie er selbst einmal von einem Dramatiker geschrieben hat, seine Halswirbel, um affektierter sein zu können. Er gestikulierte mit Händen und Füßen. Er verstellte seine Stimme und schrie sich heiser. Er schnitt Grimassen und schlug Capriolen und erzielte mit alledem, was er erzielen wollte: er fiel auf. Die Snobs von Berlin W. wurden wirklich auf ihn aufmerksam, staunten ihn an, zogen ihn in ihre Kreise und verdarben ihn zwiefach. Sie betteten ihn auf Rosen und hinderten ihn dadurch, innerlich an sich weiterzuarbeiten, und sie spornten ihn zweitens zu immer gewagteren Verrücktheiten an. Als er alle Widerstände der deutschen Sprache gebrochen und ihr keine Rippe mehr ganz und heil gelassen hatte, mußte ein neuer Reiz gefunden werden.«

Schon 1902 formulierte Kerr im Rahmen der Debatte um Hermann Sudermanns Streitschrift Die Verrohung in der Theaterkritik den Anspruch, Kritik als Kunst zu betreiben:

»Die Wahrheit zu sagen in einer Kritik ist das wenigste; das ist die Voraussetzung. Es kommt darauf an, wie man sie sagt. [. . .] Ich trachte, die Kritik auf eine Stufe zu bringen, wo sie (nach meinen Absichten) eine dichtergleiche Kunst werden kann. Man wird ihm [Sudermann] nie einbleuen können, daß eine Rezension sogar dichterischer sein kann als ein Werk, das sie bespricht.«

Neben Lyrik, Dramatik und Epik wollte Kerr die Kritik als vierte Kunstgattung anerkannt wissen. Stand in der Aufklärung Kritik ausschließlich im Dienst der Vernunft und sollte – so Kant – ihre »Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Einsetzung« hernehmen, »deren Ansehen keiner bezweifeln kann«, so werden in Kerrs genieästhetisch gewendetem Konzept von Kritik diskursive Begründungspflichten nachrangig: »Der wahre Kritiker«, schreibt er in der Einleitung zu seinen Gesammelten Schriften, »bleibt für mich ein Dichter: ein Gestalter. Und es ist beinahe kein großer Unterschied, ob er einen ernsten Autor gestaltet oder einen ulkigen und schlechten Autor gestaltet.« »Wert hat, wie ich glaube, nur Kritik, die in sich ein Kunstwerk gibt: so daß sie noch auf einen Menschen wirken kann, wenn ihre Inhalte falsch geworden sind (oder der Besprochene verschimmelt ist).« »Produktive Kritik ist solche, die ein Kunstwerk in der Kritik schafft. Jede andere Deutung ist leer. Unter den Kritikern hat nur das Recht, einem abgestempelten ›Dichter‹ zu nahen, wer selbst einer ist.

Kerr gab den Wahrheitsanspruch zwar nicht auf und blieb der Aufklärung verpflichtet, aber die Mittel wurden bei seiner als autonom verstandenen Kritik tendenziell wichtiger als die argumentative Substanz. Der Stil bekam das Primat, und der transitorische Bezug zu einem konkreten Bühnenereignis wurde nebensächlich. Ins Zentrum rückte statt dessen der Kritiker selbst. War noch für Kant ein Einzelner nur vermittelt durch das Prinzip der Menschheit eine Persönlichkeit und konnte dadurch als Sprecher des mündigen Publikums auftreten, legitimierte Kerr sich nicht mehr als Repräsentant von Öffentlichkeit. Er nahm sich unvermittelt, allein kraft seines subjektiven Vermögens und befreit vom Zwang auf Allgemeingültigkeit, das Recht zum öffentlichen Kunsturteil.

Selbstverständlich hatte Kerr auch ein inhaltliches Anliegen. Kurioserweise war er einer der treuesten Anhänger des naturalistischen Darstellungsstils, den Otto Brahm von 1904 an am Lessingtheater weiterpflegte, nachdem er das Deutsche Theater hatte verlassen müssen. Brahms Nüchternheit bot Kerr den idealen Anlaß, um als Theaterkritiker zu brillieren, während ihn die effektvolleren Inszenierungen Max Reinhardts meist kalt ließen. Für den Gemeinspruch, daß sich Gegensätze anziehen, findet sich hier also eine schöne Bestätigung.


IV. Alfred Polgar

Bei aller entschiedenen Abneigung gegen Alfred Kerr und seinen Stil, fand Siegfried Jacobsohn durchaus Gefallen an einer zu aphoristischer Kondensierung und Würze neigenden Theaterkritik. Ja, er liebte geradezu die sprachliche Virtuosität, die Alfred Polgar in jeder seiner Kritiken unter Beweis stellte. »Über Polgar«, schwelgte Jacobsohn zum Beispiel 1923 in einem Brief an Kurt Tucholsky, »sind die höchsten Worte noch immer keine Übertreibung. Am 27sten September kommt was: »Jedermann in Salzburger Mundart« − da möchte man ihn für jede Silbe einzeln küssen.« Tucholsky, von 1913 an der wichtigste Mitarbeiter von Jacobsohns Schaubühne, ging es nicht anders. Wenn er, gestand er 1920, nachts nicht schlafen könne und in alten Ausgaben der Schaubühne blättere, suche er sich als erstes alle »Polgars« zusammen und schmunzle im Geist noch einmal alle Wiener Theaterpremieren durch, die mit dessen »bitter-heitern« Gegenwart beehrt worden seien. Jacobsohn war der Anlaß, dem diese Gegenwart gegolten hatte, gleichgültig. Er veröffentlichte auch Rezensionen zu Inszenierungen von Theaterstücken, deren Bedeutung marginal war und die außerhalb Wiens niemanden interessiert haben dürften. Den Abdruck solcher Artikel verteidigte er 1917 gegenüber einem »Provinzler«, der um Beachtung in der Schaubühne gebeten hatte:

»Ich weiß, ich weiß: Sie wie alle Ihre Leidensgefährten in sämtlichen Komitaten des deutschen Reiches – Ihr liebt es, mir Polgar entgegenzuschleudern. Der dürfe seit einem Jahrzehnt, so oft er wolle, über die albernste Schwarte, die schmierenhafteste Bühne Wiens beliebig viele Druckseiten füllen. Ja, Bauern und Kleinstädter: das ist etwas ganz andres. Der könnte jede Woche das Bernhard-Rose-Theater von Wien kritisieren: man würde sich doch an jedem Satz delektieren. Wenn Ihr noch immer nicht erfaßt habt, daß für Wortkünstler dieses Grades das Thema völlig belanglos ist: dann habt ihr kein Recht, auf das Krähwinkler Morgenjournal verächtlich herabzublicken. Dann ist die »Schaubühne« viel zu schade für Euch.«

Jacobsohn bekannte schon 1913 öffentlich, für ihn sei Polgar »ein zersplissener, hypersensitiver Kunstempfinder, von einer Morbidezza des Wesens«, die ihn einfach bestricke. Warum? Weil er von »einer dichtergleichen Kraft« und deshalb in der Lage sei, noch »die verschwebendsten Nuancen einzufangen«. Man muß nur ein wenig in Polgars Kritiken lesen, um zu verstehen, was für Jacobsohn ihren bestrickenden Reiz ausgemacht hat. Mochten sich andere Kritiker damit begnügen, dem Protagonisten eines Theaterstücks zu bescheinigen, er sei geistreich, so war Polgar bei aller Neigung zum Epigrammatischen nie derart einsilbig. Er fiel sich in einem solchen Fall vielmehr sofort selbst ins Wort: »Was sage ich geistreich!« Und dann legte er los: »Er brennt, er sprüht, er dampft, er spritzt, er schäumt vor Geist. Er niest Aphorismen, er lächelt Brillanten, er redet alle Juwelierläden der Andrassystraße, er schüttelt sich nur ein bißchen, und es ist gleich eine Wolke von Esprit um ihn, wie eine Wolke von Wasserstaub um den gebadeten Pudel.«

Was Polgar gar nicht mochte: »speckigen Bedeutungsglanz«, auf »gewählt-bäurisch« und »edel heuduftend« getrimmte Volksstücke, »mit ranzigem Feuilleton-Öl« geschmierte Texte, psychologische Wege, die »so breit, gangbar und reizlos« sind »wie nur irgendeine abgetretene Landstraße«, »gesprochenes Mähneschütteln«, »kandiertes Moll« oder »Historie mit Goldschnitt« bei der »Betrachtung eines großen Menschen aus der Kanarienvogelperspektive«. Und was mochte er? Zum Beispiel »rosig blühenden Humor«, allerdings nur, wenn er mit einem »kräftigen Einschlag grotesker Komik« gepaart war, oder eine mit »weicher Drastik gesättigte Sprache«. Selbst in Inszenierungen, in denen jede Minute auf mindestens achtzig Sekunden »auseinandergerenkt« worden sei, suchte er noch einen »Seitensprung ins Originelle« oder wenigstens »frisch schmeckende Drolligkeiten, die nicht nach Plage riechen«. Selten ließ er sich zu reinem Überschwang oder kalter Verachtung hinreißen. Eine deutliche Mißfallensbekundung kleidete er noch in den Mantel beifälliger Bewunderung: »Der Versuch«, schrieb er dann etwa, »aus dem ›Lebensbild‹ ein Charakterbild zu machen, scheitert nirgends, weil er nirgends unternommen wird.«

Polgars Rezensionen sind nie die krude Anwendung eines Regelwerks, auch wenn er natürlich ästhetische Grundsätze hatte. Fünf von ihnen benannte er 1908 in einer seiner Theaterkritiken:

»A) Es ist untersagt, das Leben mit irgend etwas zu vergleichen. B) Generelle Aussprüche à la: ›Die Frauen sind wie …‹, ›Die Liebe ist ein …‹ dürfen in anständiger Gesellschaft so wenig in den Mund genommen werden wie das Messer. C) Aperςus sind überhaupt Taktlosigkeiten. D) Weltanschauungen sind an der Leine zu führen und unter keinen Umständen im Salon loszulassen. E) Das antithetische Umstellen von Satzbestandteilen zu ironischen Zwecken, ebenso die Verkehrung von Sprichwörtern in ihr Gegenteil zeugt von schlechten Manieren.«

Trotz aller Freude an der sprachlichen Eleganz führen Polgars Texte, nimmt man sie in höheren Dosen zu sich, zu einem Gefühl der Übersättigung, das nicht dem Quantum geschuldet ist. Denn wenn, wie Jacobsohn gestand, das Thema und der Anlaß »völlig belanglos« waren, so war die Inszenierung, die es zu besprechen galt, ähnlich wie bei Kerr zu einem ephemeren Ereignis degradiert. Das Theater und seine Protagonisten fungierten als bloße Stofflieferanten und die Theaterkritik mutierte von einem Mittel zu einem Zweck: dem Zweck, geschmackvoll, geistreich und wortgewandt zu unterhalten. Über Polgars Essaysammlung Kleine Zeit schrieb Kurt Tucholsky 1919, ihr Hauptreiz bestehe darin, »daß die Dinge gesagt sind, ohne gesagt zu sein«. Genau das macht es im Verein mit einer außerordentlichen Ambivalenz der Begriffe und einem rhetorischen Feuerwerk aus Antithesen, Oxymora, Paradoxa und Amphibolien mitunter nicht ganz einfach, eine theaterkritische Position Polgars überhaupt fassen zu können. Auch der Tugend des kritischen Gewerbes, Urteile zu begründen, kommt der gern als »Meister der kleinen Form« gepriesene Autor von – so Franz Blei – »Filigranitkunstwerken« nicht immer nach. Über Hofmannsthals »Elektra« schwelgte er, ohne auch nur einen einzigen Grund für seine Begeisterung anzugeben:

»Ich weiß nicht, ob die Dichtung tiefsinnig ist, aber ich glaube, sie ist schön. Schön wie ein prasselndes, blitzendes Unwetter, wie Gang und Sprung des Raubtiers, wie eine den Himmel blau färbende Feuersbrunst. Wo wäre deren ›Inhalt‹? Wer sagte die Ziffern, mit denen ihr Wert sich aussprechen ließe, allen guten Rechnern und Einschätzern zum Respekt? Man spürt ihre Schönheit, oder man spürt sie nicht.«

Eine solche Feststellung ist eine theaterkritische Bankrotterklärung. Polgar hätte sich gegen diesen Vorwurf freilich damit verteidigt, er verstehe Kunstkritik nicht als »die Anmaßung, zu zensurieren, Noten zu geben«, sondern als »ein Bemühen, das logische wie das mystisch-verschleierte Warum einer künstlerischen Wirkung zu erhellen«:

»Der lebendige Gedanken- und Empfindungsstrom, den ein Kunstwerk über unsre Seele schickt, setzt Herz und Hirn in Schwingung. Kritik üben heißt, diese Schwingungen aufzeichnen und von ihrer Intensität und Weite und besondern Art auf Intensität, Fülle und Besonderheit des treibenden Stromes schließen.«

Die entscheidenden Worte in dieser Bestimmung sind »aufzeichnen« und »schließen«. Nur ist, was hier aufgezeichnet wird, nicht ein konkretes Bühnengeschehen, sondern die seelische Befindlichkeit des Kritikers bei dessen Betrachtung. Und der Schluß auf den diese Befindlichkeit hervorrufenden »treibenden Strom« und seine Beschaffenheit bleibt ein recht müßiges Treiben, wenn – wie Tucholsky feststellte – Polgars Kritik »am amüsantesten funktioniert« sobald er sich »einen rechten halbechten Schmalzfetzen österreichischer Prägung« vornimmt, »ein Stück, aus allen Küchen der Literatur zusammengekocht, mit tausend Rezepten, abgeguckt und nachgemacht … und dabei doch mit einer Prätention ganz großer Kunst«. Daß Polgar zur Hochform nur auflief, wenn er sich mit Ephemerem befaßte, ist einer der Gründe, aus denen er anders als Kerr und anders als Jacobsohn nicht als profilierter kritischer Begleiter eines Regiestils Kontur entwickelt hat. Ein weiterer ist die im Vergleich zu Berlin weit geringere Bedeutung des Theaters an seinem langjährigen Wohn- und Arbeitsort Wien in den Jahren zwischen 1900 und 1933.


V. Siegfried Jacobsohn

Jacobsohn hat Polgar erst 1907 fest für seine Schaubühne verpflichtet, nachdem Willi Handl, der erste Wiener Theaterkorrespondent seiner Wochenschrift, nach Berlin übersiedelt war. Ihm entging dabei nicht, daß er sich damit gleichsam die wienerisch gemilderte Variante des Kerrschen Kritikertypus ins eigene Blatt geholt hatte, während für ihn selbst zeitlebens der Stil zwar beileibe nicht unwichtig war, aber doch stets ein Mittel zum Zweck blieb. Durch das intensive Studium der Theaterkritiken Paul Schlenthers, Fritz Mauthners und Maximilian Hardens hatte er sich autodidaktisch das Handwerk des Schreibens beigebracht. Künstlerische Ambitionen hegte er – anders als Kerr und Polgar – nicht und hatte zum Ausgleich dafür einen weitaus schärferen Blick für programmatische und gesellschaftliche Entwicklungen. Mit Hilfe seiner Kritiken sollte sich die Nachwelt ein Bild vom Berliner Theaterleben seiner Zeit verschaffen können, so daß es für ihn zu den vornehmsten Pflichten seines Metiers gehörte, nicht nur zu werten, sondern auch einen plastischen Eindruck vom Bühnengeschehen zu vermitteln.

Den ersten vier Ausgaben seiner Zeitschrift stellte er als programmatisches Motto ein Zitat aus Schillers 1784 in Mannheim gehaltener Vorlesung Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? voran: »So gewiß sichtbare Darstellung mächtiger wirkt als toter Buchstabe und kalte Erzählung, so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und dauernder als Moral und Gesetze.« Eine gesellschaftsverändernde Wirkung war zwar von Beginn an Jacobsohns erklärtes Ziel, aber das bedeutete für ihn keineswegs, Thesenstücken das Wort zu reden. Im Gegenteil: Das naturalistische Drama mit seiner sozialanklägerischen Tendenz wurde von ihm nicht minder stark kritisiert wie der naturalistische Darstellungsstil auf der Bühne. Jacobsohns Idol war Max Reinhardt, dessen Versuchen, »jenseits des Naturalismus einen neuen Stil, eine vielbedeutende Ausdrucksform der neuen Weltansicht, des neuen Lebenswillens zu suchen«, seine ganze Zustimmung galt:

»Hier, wenn irgendwo, beginnt das Amt der Kritik, darin bestehend: diesen Künstlern eine Gasse zu bahnen mitten durch Vorurteil und Konvention; Knappendienste zu leisten der geraden Ritterlichkeit und reinen Künstlerschaft; sie zu stärken und zu stacheln in dem höhnischen Hochmut gegen den gemeinen Geschmack, in dem zähen Trotz gegen alles ce qui est demandé; den Mantel zu breiten vor ihren Blößen und einzig ihre Schöne zu preisen wie ein beglückter Liebhaber.«

Zum Glück hat Jacobsohn dieses Programm derart liebedienerisch nicht verwirklicht. Auch Reinhardts Inszenierungen erfuhren Kritik, allerdings auf eine zugewandte und konstruktive Weise. So war das Scheitern von Reinhardts Eröffnungsvorstellung am Deutschen Theater mit Kleists Käthchen von Heilbronn im September 1905 auch Jacobsohn nicht entgangen, nur riet er dazu, nicht sofort jedes Zutrauen in dessen Entwicklungsfähigkeit zu verlieren. Zum Bruch zwischen Regisseur und Kritiker kam es erst, als Reinhardt sich mit Theaterprojekten zu beschäftigen begann, die für ein Massenpublikum berechnet waren, und schließlich in Berlin den Zirkus Schumann von Hans Poelzig zum 1919 eröffneten Großen Schauspielhaus umbauen ließ. Allein die akustischen Möglichkeiten setzten den Bemühungen um ein Arenatheater in Jacobsohns Augen unüberwindliche Grenzen: »Wieder und wieder«, heißt es in seiner Kritik Hamlet im Zirkus aus dem Jahr 1920, zuckt man zusammen. Was hat er gesagt? Der Sohn von einem tollen Pfarrer? Er hatte gesagt: ›… von einem teuren Vater‹.« Darüber hinaus würden die Größenverhältnisse des Arenatheaters kein organisches Ensemblespiel ermöglichen. Die Wege seien zu lang, das Spieltempo sinke dadurch enorm; was »in jedem verachteten Schablonentheater« fünf Minuten dauere, benötige bei Reinhardt nun zwanzig. »Auf der Leinwand erscheinen jetzt fahl und unmotiviert Figuren, wie um uns zu verraten, daß die Zukunft des Hauses dem Kino verschrieben ist …«. Tatsächlich kann man Reinhardts Bemühungen für ein »Theater der Zehntausend« als den Versuch werten, die technischen Grenzen des Theaters zu erweitern, um dem sich abzeichnenden Siegeszug des Kinos zu trotzen. Jacobsohn gehörte zu den wenigen Kritikern, die sofort erkannten, daß dieser Weg ins Abseits führte.

Für die überschaubare bürgerliche Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts war das Theater ein ideales Medium. Für die nach der Reichsgründung sich allmählich herausbildende Massengesellschaft hätte es einer deutlichen Vermehrung der Spielstätten bedurft, wenn man seine Proportionen und seine Arbeitsweise bewahrt und es zugleich weiterhin als einen der zentralen Orte gesellschaftlicher Selbstverständigung verstanden wissen wollte. Die Arbeit der Volksbühnenvereine, die einer breiten Bevölkerungsschicht den Zugang zu guten Theaterstücken möglich machen sollte, hatte diese Stoßrichtung. Doch auch die Volksbühnen sahen sich mit dem verbreiteten Bedürfnis nach Unterhaltung und dem mit ihm einhergehenden geringen Interesse an der bürgerlichen Hochkultur konfrontiert. Zudem gab es mit dem Film eine zunehmend attraktiver werdende Alternative zum Theater, zumal sich mit ihm mühelos die Schaulust selbst eines Millionenpublikums befriedigen ließ. Jacobsohn hatte Recht damit, in dieser Situation vor einer falschen, weil letztlich fruchtlosen Anpassung des Theaters an die kulturellen Bedürfnisse der Massengesellschaft zu warnen. Die Crux seiner Position bestand jedoch in dem weiterhin an die Schillersche Kunstautonomie gekoppelten wirkungsästhetischen Anspruch. Denn unter den gegebenen Bedingungen konnte er an der Forderung nach Kunstautonomie nicht festhalten, ohne seine wirkungsästhetischen Ziele erheblich zu zurückzuschrauben, wenn nicht gar als illusionär zu verwerfen. Umgekehrt hätte das Festhalten an seinen wirkungsästhetischen Absichten erfordert, sich mit den Möglichkeiten auseinanderzusetzen, die die Entwicklung neuer Massenmedien mit sich brachte.

Von Jacobsohn war allerdings längst ein anderer Weg beschritten worden, der es ihm gestattete, die Widersprüche zwischen Anspruch und schlechter Wirklichkeit ungelöst hinter sich zu lassen. Schon 1913 war ihm deutlich geworden, daß das gesellschaftsverändernde Potential des Theaters sich weit begrenzter darstellte, als er 1905 gehofft hatte. Aus seiner Schaubühne machte er daher sukzessive eine ›Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft‹, die im April 1918 den Namen Die Weltbühne erhielt.


VI. Herbert Ihering

»Siegfried Jacobsohn«, meinte Herbert Ihering 1928 in seiner Broschüre Die vereinsamte Theaterkritik, »wußte genau, was er tat, als er zur Politik überging. Er wußte, daß seine Art, die Bühne zu sehen, nicht fortgeführt werden konnte, daß die Kritik nicht zu vervollkommnen, sondern umzustellen sei. Ihm selbst lag diese Umstellung nicht, deshalb verließ er das Theater.« Es mag Pietät gewesen sein, die Ihering zwei Jahre nach Jacobsohns Tod milde stimmte, denn sein ehemaliger Mentor schrieb auch nach der Umbenennung seines Blatts in Die Weltbühne noch Theaterkritiken und legte dabei Maßstäbe zugrunde, die für Ihering, der 1909 seine Kritikerkarriere als Mitarbeiter der Schaubühne begonnen hatte, zunehmend irrelevant wurden: »Früher«, erklärte er 1926 in einem Interview mit Bernard Guillemin, habe man Theaterkritiken noch »nach rein literarischen Gesichtspunkten« verfassen können. »Heute jedoch, wo es eine Substanz des Theaters nicht mehr gibt, ist solches nicht mehr möglich.« Ursache dieses Substanzverlusts sei eine Veränderung der »geistigen und soziologischen Grundlagen«. Es gebe ein neues Publikum, das aus einer »traditionslosen Generation« bestehe, und dieses neue Publikum bedürfe zwingend auch eines neuen Theaters. Dieses Neue lasse sich noch nicht exakt fixieren. Vielmehr sei fürs erste lediglich eine Suchbewegung eingeleitet. In einer Zeit solchen Suchens könne eine »vollkommene Vorstellung in einem vollkommenen Theater […] weniger bedeuten als die unvollkommene Aufführung in einem unvollkommenen Theater. Die offenen Möglichkeiten sind, in gleitenden Zeiten, interessanter als die abgeschlossenen.«

Die Aufgabe der Theaterkritik könne in einer historischen Situation wie dieser nicht darin bestehen, eine »schlürfende«, eine »kulinarische«, eine »artistisch feuilletonistische« Beschreibung und Bewertung abzugeben. »Man kann es«, so Ihering,

»kaum anders als in Negationen sagen: Kein Bildungsjargon, kein Schreiben um der schriftstellerischen Nuance willen, keinen feuilletonistischen Zierat, kein bloßes Andeuten und Ausspielen, sondern Verantwortung für jeden Satz. Dazu eine selbstgeschaffene, voraussetzungslose Terminologie, unter Verzicht auf jeden Umweg der Formulierung. Man soll nicht Lesern imponieren wollen, die das besprochene Stück nicht gesehen haben, sondern für diejenigen schreiben, die das Gesagte aus eigenem Augenschein kontrollieren können. Denn die Kritik ist nicht nur dazu da, den Leser zu informieren, was er sich ansehen müsse, und was nicht. In Wahrheit beruht die Produktivität des Kritikers in der Wirkung seiner Kritik auf die Kritisierten. […] Ich betrachte die Kritik nicht als Selbstzweck für feuilletonistische Kunststücke. Die Kritik ist nicht um ihrer selbst willen, sondern um ihres Gegenstandes willen da.«

Noch deutlicher konnte man die fundamentale Opposition gegen das Selbstverständnis von Alfred Kerr, aber auch gegen das von Alfred Polgar kaum formulieren. Was ihn an Texten dieser Kritiker störte, störte Ihering auch auf der Bühne selbst. Er wandte sich gegen die »falsche Einschätzung des Dramas als einer Bildungsangelegenheit«, gegen ein Suggestions- oder Überwältigungstheater und gegen die Befassung mit »artistischen Geschmacksfragen«. Statt dessen forderte er Substanz und Aktualität, was aber ausdrücklich nicht hieß, Klassiker politisch ein bißchen aufzuschminken, um ihnen dadurch ein zeitgemäßes Aussehen zu verleihen:

»Wenn Erich Ziegel heute in den Hamburger Kammerspielen »Die Räuber« im modernen Kostüm als kommunistischen Aufstand im Vogtlande gibt, so verwechselt er nicht nur Kunstechtheit mit Lebensechtheit, sondern auch Wirklichkeit mit Aktualität und Aktualität der Idee mit Aktualität des Stoffs. Diese Aufführung, die man – auch ohne sie gesehen zu haben – schon als Willen verneinen muß, bedeutet die letzte Konsequenz einer verwirrten Ästhetik, der Lebensnähe, die Vernichtung der Distanz, also der künstlerischen Form heißt. […] Franz Moor mit Monokel und Zigarette zu geben, ist Verirrung. Diesen reaktionären Kunstputsch aber als revolutionär auszugeben und als Kampf gegen die Erstarrung und Kälte moderner Inszenierungen zu lancieren, ist Entstellung.«

Auch das »sogenannte Zeitstück« führe nicht weiter, solange man sich nur um den »Inhalt« und nicht auch um die Weiterentwicklung der »künstlerischen Form« kümmere. Nur ein Dramatiker macht für Ihering eine lobenswerte Ausnahme: Bertolt Brecht.

»Brecht setzte für Größe: Distanz. Das ist seine theatergeschichtliche Tat. Er verkleinerte die Menschen nicht. Er atomisierte die Figuren nicht. Er entfernte sie. Er nahm dem Schauspieler die »Gemütlichkeit«, die sich temperamentvoll anbiedert. Er forderte Rechenschaft über die Vorgänge. Er verlangte einfache Gesten. Er zwang zu klarem kühlen Sprechen. Keine Gefühlsmogelei wurde geduldet. Das ergab den objektiven, »epischen« Stil.«


VII. Weitere Ausdifferenzierung

Fontane, Schlenther, Kerr, Polgar, Jacobsohn und Ihering – das sind Namen profilierter Theaterkritiker, deren Œuvre prototypisch ist, die zusammengenommen aber noch nicht das ganze Spektrum theaterkritischer Möglichkeiten repräsentieren. »Es gab nämlich im damaligen Berlin«, erinnerte Carl Zuckmayer 1973 in einem Beitrag für die Berliner Morgenpost,

»bei der Vielfalt der Tages- und Wochenzeitungen, eine ganze Reihe hervorragender Köpfe, die das kulturelle und geistige Leben der Stadt durch ihr Wort in der Waage hielten – ich nenne nur auf Anhieb […] Monty Jacobs, den großartigen Paul Fechter, Stefan Großmann, Arthur Eloesser, Paul Wiegler, Norbert Falk, Emil Faktor, Julius Bab, Franz Servaes und andere, deren Essays und Kritiken Gewicht und Bedeutung hatten und auf die Dauer Platz und Rang eines neuen Autors mitbestimmten (von den großen Einzelgängern wie Siegfried Jacobsohn, Maximilian Harden, Franz Pfemfert zu schweigen).«

Was hier nur als Aufzählung, als eine Galerie von Namen großer Köpfe daherkommt, zeigt bei näherem Hinsehen, daß die Notwendigkeit zu einer weiteren Ausdifferenzierung besteht. Ein Grenzgänger zu einer akademischen Beschäftigung mit dem Theater war Julius Bab, der 1932 mit dem Buch Das Theater im Lichte der Soziologie eine wichtige theaterwissenschaftliche Studie vorlegte, ohne selbst Theaterwissenschaftler zu sein. Bab unterschied vor allem zwei Standpunkte, von denen aus man eine »künstlerische Hervorbringung« beurteilen könne: einen ästhetischen und einen kulturhistorischen. So sehr er auch die Einordnung einer künstlerischen Entwicklung in einen größeren – religiösen, wissenschaftlichen, sozial-ethischen, politischen oder ökonomischen – Zusammenhang für notwendig hielt, so sehr insistierte er auch darauf, daß Kritik »nicht ganz ohne jede ästhetische Betrachtung vor sich gehen« könne: Bei »einigen unsrer Kunst- und Literatur-Richter« sei es aber »nachgerade so weit«, daß ihnen »jedes Bild und jede Dichtung ausschließlich Anlaß zu nationalpolitischen, sozialethischen, religionsphilosophischen Expektorationen« diene. Schon gar nicht gehe es an, »ästhetische Blößen stillschweigend mit dem Mantel kultureller Qualitäten zu bedecken«. Ästhetische Kritik sei zuallererst eine Auseinandersetzung mit der Form und dem Stil und habe eine klare begriffliche Analyse zum Ziel. »Ausdruck einer Persönlichkeit, die ein künstlerisches Erlebnis durch das Mittel begrifflicher Entscheidung verarbeitet – das ist das Wesen der Kritik«, proklamierte Bab und polemisierte damit, ohne daß der Name Kerr fiel, gegen eine »psychologische Berichterstattung«, die »etwas andres als Kritik« sei, nämlich »im glücklichsten Falle eine Dichtung aus zweiter Hand«.

Kurt Pinthus dagegen, den Zuckmayer zu erwähnen vergaß, betätigte sich vor allem als Anwalt seiner Generation und einer Stilrichtung: der des Expressionismus. Walter Hasenclevers Der Sohn verteidigte er schon 1914, im Jahr der Veröffentlichung des Stücks, gegen den Vorwurf, es sei »unreif, undramatisch und unorganisch«. Vom Kritiker verlangte er Emphase und Engagement: »Er wertet. Wertet das Werk für die Kunst und die Menschheit. Wirkt. […] Im Kritiker also fügt sich der künstlerische und der politische Mensch zu vollkommenster Harmonie.« So eng bei Pinthus Ästhetik und Ethik – eine der Aufklärung verpflichtete Ethik zum Wohl einer brüderlich versöhnten Menschheit – als Kriterien für die Beurteilung eines künstlerischen Werkes stets beieinander lagen, so explizit unterschied er die Arbeit des Kritikers von der des Wissenschaftlers. Ist das »Wert-volle« einmal erkannt, ist Pinthus »jedes Mittel zur Wirkung« Pflicht:

»Er läßt aufwirbeln den Sturm der Beredsamkeit, stößt ins Horn des Zornes, jagt dem Überraschten Witze und Ironien ins Gesicht, läßt Lieblichkeiten läuten, das Pathos des Propheten erdröhnen, den Schrei der Reklame leuchten, filmt Zukunftslandschaften, ruft Beispiele der Historie und Tatsachen der Wissenschaft auf, illustriert mit Anekdoten, wölbt Brücken über Epochen, bohrt mit Analysen letzte Tropfen des Lebens. Er ist der am wenigsten spezialisierte, er ist der umfassendste, der expansivste, explosivste Mensch. Und noch seine Negationen sprühen positive Forderungen.«

Demgegenüber war Paul Fechter nicht in erster Linie der Durchsetzung des Neuen verpflichtet, sondern den Interessen des breiten Publikums. »Er besaß«, wie Günther Rühle ihn charakterisierte, »einen ausgeprägten Sinn für volkstümliche Wirkungen« und machte sich – so Lothar Schöne – »zum harmlosen Zuschauer, der seinen Lesern Bericht erstattete«. Wegen seiner zweimal, 1941 und 1952, umgearbeiteten »Geschichte der deutschen Literatur« aus dem Jahr 1932 wurde Fechter nach dem Zweiten Weltkrieg als »Lakai« verhöhnt, der »der jeweilig herrschenden Macht alleruntertänigst seine Dienste angeboten« habe. Schon 1929 verspottete ihn Carl von Ossietzky als »unentwegten nationalen Klopffechter«, der »die Würde der deutschen Menschheit« verteidige, weil sie »bei den deutschen Frauen nicht mehr gut aufgehoben« sei, »seit sie kurze Röcke tragen und jeden Tag baden«.

So notwendig es auch ist, sich mit Fechters Fall kritisch zu befassen, so wenig sollte man übersehen, daß er Eigensinn noch bewahrte, als das nicht mehr bequem war. Bis 1936 setzte er sich für Ernst Barlach ein, obwohl dessen Werk längst als »entartet« galt und wiederholt beschlagnahmt wurde. Fechter war überhaupt einer der frühen Förderer Barlachs, hatte für den Expressionismus in der Bildenden Kunst große Sympathien, veröffentliche 1914 sogar bei Piper eine der ersten Abhandlungen über die neue Kunstrichtung, der er ein Buch über das graphische Werk Max Pechsteins folgen ließ.

Als Theaterkritiker war er in den zwanziger Jahren ein wichtiger Vermittler zeitgenössischer Tendenzen auf der Bühne für ein national-konservatives Publikum, einer, der Leopold Jessners Bemühungen um zeitgemäße Inszenierungen durchaus aufgeschlossen begegnete, keineswegs wild polemisierte, sondern das Bühnengeschehen erst ausführlich beschrieb, bevor er urteilte. Allein durch ihre langen deskriptiven Passagen bleiben seine Kritiken eine wichtige Quelle für Theaterhistoriker, auch wenn man zugeben muß, daß sie im Vergleich zu Jacobsohn, Kerr, Polgar und Ihering doch sehr behäbig wirken. Mit der zunehmenden politischen Ausdifferenzierung des theaterkritischen Diskurses in der Weimarer Republik wurde Fechter schon damals einem »rechten« Lager zugeschlagen, für dessen innere Differenzierung sich die Forschung bislang kaum interessiert hat. Sofern man das Gefüge des theaterkritischen Diskurses in der Weimarer Republik nicht nur bewerten, sondern auch begreifen will, besteht hier der Nachholbedarf einer historisierenden Untersuchung unter Auswertung von Fechters Nachlaß im Deutschen Literaturarchiv Marbach.


VIII. Rahmenbedingungen

Die Ausdifferenzierung der Theaterkritik, die Ausbildung eines breiten kritischen Spektrums, entwickelte sich nicht selbstbezüglich und selbstgenügsam, sondern im Rahmen eines gesellschaftlichen Wandlungsprozesses. Für ihn war die Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen 1869, die zwei Jahre später auf das gesamte Reichsgebiet ausgedehnt wurde, eine ebenso notwendige Voraussetzung wie die enorme Expansion des Zeitungswesens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit ihr tritt an die Stelle des ungebundenen Publizisten der angestellte Journalist. Das Amt des Kritikers wird jetzt zu einem Beruf.

Auch die Zahl der Theater stieg sprunghaft, die verbesserte schulische Ausbildung auch unterer Volksschichten (durch Einführung der allgemeinen Schulpflicht) führte den Theatern neue Zuschauer und der Presse neue Leser zu, die sich durch Wissen und Bildung einen gesellschaftliche Teilhabe und in deren Folge auch gesellschaftlichen Aufstieg versprachen.

Bis in die 1930er Jahre war die Zeitung das Nachrichtenmedium schlechthin. Allein Berlin erschienen über hundert Blätter, viele davon mehrmals am Tag. Bertolt Brecht war sogar sicher, »daß selbst Gott sich über die Welt nur mehr über die Zeitungen orientiert«. Erst mit der flächendeckenden Verbreitung des »Volksempfängers« und später – nach dem Zweiten Weltkrieg – des Fernsehers sanken die mediale Bedeutung, die Zahl und die Erscheinungsfrequenz von Zeitungen erheblich. Was zwischen 1870 und 1933 zu einer enormen Meinungs- und Stilvielfalt nicht nur in der Theaterkritik führte, konnte sich daher lediglich rudimentär erhalten. Nur für einige wenige Organe trägt heute noch die Theaterkritik zur Profilbildung im Kampf um Marktanteile bei. Diese Entwicklung ist auch eine Folge der gesunkenen Bedeutung des Theaters selbst, bei der es sich nicht nur, aber auch um ein Resultat des Siegeszugs neuer Medien handelt. Diesen Prozeß zu beklagen, ist müßig, denn er ist irreversibel. Aufgabe und Funktion der Theaterkritik bestimmt sich daher heute notgedrungen anders als noch vor hundert Jahren, auch wenn es immer noch Kritiker gibt, die Kerrs selbstverliebten Subjektivismus für das Maß aller Theaterdinge halten.