Christoph Ransmayr:
Der fliegende Berg
„Routenmarkierungen für den Weg aus der Zeit“
„Als nun Zarathustra so den Berg hinanstieg, gedachte er unterwegs des vielen einsamen Wanderns von Jugend an, und wie viele Berge und Rücken und Gipfel er schon gestiegen sei. Ich bin ein Wanderer und ein Bergsteiger, sagte er zu seinem Herzen, ich liebe die Ebenen nicht und es scheint, ich kann nicht lange still sitzen. Und was mir nun auch noch als Schicksal und Erlebnis komme, - ein Wandern wird darin sein und ein Bergsteigen: man erlebt endlich nur noch sich selber! Die Zeit ist abgeflossen, wo mir noch Zufälle begegnen durften; und was könnte jetzt noch zu mir fallen, was nicht schon mein Eigen wäre!“
Der vielleicht berühmteste Bergsteiger der Philosophiegeschichte, Nietzsches Zarathustra, hat den Bergen im Rahmen seiner Selbst-Erhöhung im vorgeblich ungeliebten Fahrwasser Kants wahrscheinlich mehr abringen können als der Erzähler Pad in Christoph Ransmayrs neuem Roman „Der fliegende Berg“. Dieser ist eigentlich ein irischer „Meermensch“. Warum er seinem Bruder Liam ausgerechnet in die Höhen des Himalaya-Gebirges gefolgt ist, ist ihm bis zum Ende nicht ganz klar. Doch auch für ihn ist die Begegnung mit dem Hochgebirge und die Suche nach dem „vergessenen Berg“, dem Berg, der fliegt, letztendlich eine Begegnung mit dem eigenen Selbst, mit seinen Ursprüngen und mit seiner Geschichte. „Denn wie jede Fluchtlinie, / die an die Ränder des Lebens führt, / verbanden uns auch Kletterrouten / schon vom ersten Aufstieg an / nicht nur mit dem Fernsten, sondern ebenso / mit dem Nächsten, Vertrautesten, // mit Erinnerungen an früheste Wanderungen, / Kindheitswege zu den hochgelegenen Torffeldern / und Schafweiden unseres Vaters / und zu sommerlichen Bergseen in Kerry und Cork, / an deren felsigen Ufern Klettern / ein Spiel gewesen war.“ Es beginnt damit eine Reise aus der Zeit und über die Räume hinweg.
Liam, der Kartograph und Programmierer, hatte Phur-Ri, den Berg, der fliegt, zufällig eines Nachts bei einem „Streifzug im Netz“ auf dem Foto eines chinesischen Bomberpiloten gesehen, das wohl erst zwanzig Jahre nach dessen Absturz zufällig in seinem Flugzeugwrack entdeckt worden war. Es stellt sich heraus, dass der Berg auf den westlichen Karten bisher nicht eingezeichnet und unbenannt ist. Aus – wie sich erst später herausstellen soll – unterschiedlichen Gründen machen sich die beiden Brüder zur Besteigung des Berges auf.
Dass es sich dabei um eine Reise in den Tod handelt, macht der Autor – daran hat man sich schon fast gewöhnt - von der ersten Zeile an klar: „Ich starb / 6840 Meter über dem Meeresspiegel / am vierten Mai im Jahr des Pferdes.“ Sofort wird man in den ransmayrschen Flucht-Raum alles Seienden eingeschlossen, in dem nichts „für immer bleiben“ darf und selbst die Berge wie die Wolken zu kommen und schwinden scheinen. Weiterhin – wenn auch weniger als in vorherigen Veröffentlichungen - scheint der Autor einem gewissen Untergangsvoyeurismus verfallen. So beobachtet Liam das Firmament, „insgeheim wohl in der Hoffnung, eines Nachts dabei vielleicht zum Zeugen eines Weltuntergangs zu werden“. Doch auf den Tod folgt die Wiedergeburt. Heilung erfährt diese bittere heraklitisch-nietzscheanische Pille des Werdens von der den Zyklus des Entstehens und Vergehens aufnehmenden Naturreligion, die in Gestalt der Khampa Nyema auftritt, in die sich Pad, auf seinem Weg in die Höhen von ihrem Clan begleitet, verliebt. Von ihr erfährt er: „niemand stirbt auf seinem Weg nur ein einziges Mal“. Während er seinen eigenen Tod bei einem von seinem Bruder ausgelösten Steinschlag überlebt, wird dieser von einer Lawine begraben. Dass es Pad war, der aus Dankbarkeitsgefühlen seinen Bruder zu dem überhasteten Aufstieg auf die Gipfelspitze des Phur-Ri geraten hatte, gibt dem Buch, ein Jahr nach der Besteigung geschrieben, auch den Charakter einer Konfession: „Ich habe meinen Bruder getötet.“
So wie Pad und Nyema ihre Liebe in die Gegenstände der tibetischen Natur einschreiben, um ihr Dauer zu verleihen, wird für Ransmayr die Literatur zur ontischen Protokollantin. Der Autor strickt uns (heißt texten nicht weben?) in „Der fliegende Berg“ ein großes, festes Netz, das erst im Sternbild Orion aufhört: da sind Leben und Tod, Horse Island vor Irland und das osttibetische Khampa, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, der Nomadenclan und der internetbesessene Programmierer Liam, irischer Nationalismus und Naturreligion, Himalaya und Atlantik, Biochemie und der Schneemensch. Der peripherophile irisch-österreichische Kartograph unserer ephemeren Welt mag in seiner Phänomenologie alles dessen was war, ist und sein wird, auf nichts verzichten. Alles ist wie in Liams Internetwelt miteinander verbunden: „Eis- und Wasserwelt vereint, in einer einzigen, strahlenden Landschaft“. Der Berg zeigt uns, dass es eigentlich keinen Raum und keine Zeit gibt: „alle Wege schienen so in Wahrheit nicht in die Weite, sonder immer nur in die Höhe und in die Tiefe zu führen.“
„Der fliegende Berg“ ist auch eine Auseinandersetzung mit dem Vater, der, von der Mutter verlassen, es sich zum Ziel gemacht hatte, auf ausgiebigen Wanderungen durch die irische Heimat seine beiden Pfadfinder-Jungs zu stolzen und zähen Freiheitskämpfern für die irische Sache zu erziehen. Freilich scheint Pad, der Erzähler, dem verknöcherten und durchaus in Beziehung zu seiner protestantischen Ex-Frau stehenden Nationalkatholizismus seines Vaters später die Sinnlichkeit Nyemas und die Naturverhaftetheit ihres Clans vorzuziehen. Er adaptiert die (zyklische) chinesische Zeitrechnung. Auf dem Grunde von Ransmayrs Schreiben – hier stimmt er mit seinem ebenfalls emigrierten Landsmann Peter Handke überein - liegt eine Sehnsucht nach einer neuen Einheit mit der als übermächtig beschriebenen Natur und mit ihren zyklischen Gesetzen von Geburt und Tod. Dafür zeugen die ausgiebigen, genauen Beschreibungen der Meereslandschaft in Irland und der Gebirge Tibets und dafür zeugt der „Rückweg“ der beiden Brüder: Liam, der das Programmieren zugunsten der Rinder- und Schafzucht auf der kleinen Horse Island aufgibt, und Pad, der seine Schiffsfahrten aufgibt, um seinem Bruder dabei zu helfen. Dazu gehört ebenso die anarchistische Nichtanerkennung und „Verspottung tatsächlicher oder vermeintlicher Macht“, sei sie in Peking oder in London verankert, da aus der Sicht der beiden Protagonisten als einzige wahrhaft legitimierte Macht die Natur anzusehen ist. In der Auseinandersetzung mit dieser Natur, im Klettern, gelingt es besonders dem homosexuellen Liam, einen „Abstand zwischen sich und die Welt [seines, P.B.] Vaters zu bringen“. Für den sensibleren und verständigeren Pad, den Matrosen, gilt dies in gleichem Maße, wenn er die verbissene Gipfelbesteigung seines Bruders auch zeitweise nicht nachvollziehen kann. Ist es, weil er sich schon stärker von den Einflüsterungen der westlichen instrumentellen Vernunft hat freimachen können? Weil er sich losgemacht hat von Zahlen, Reihen und einem Denken in Linien? Er braucht den Aufstieg im Sinn der „Tilgung einer Leerstelle“ nicht mehr. Anders als Zarathustra benutzt er die Berge nicht, um sie seinem Selbst anzueignen und es dadurch zu erhöhen, sondern umgekehrt fügt er demütig sein Selbst der Natur und den Bergen ein und gibt es auf. Am Ende steht für Beide die Affirmation des Seins. Pad findet so sehr Gefallen an der Sinnlichkeit (das wie ersetzt das was), am Schauen, am bloßen, zwecklosen Sein und Spiritualität seines Aufenthalts mit dem Clan um Nyema, dass er nach seiner Rückkehr nach Irland beschließt, dorthin zurückzukehren.
„Der fliegende Berg“ ist – zehn Jahre nach dem letzten Roman Ransmayrs – die gelungene Fortführung des – wie man so oft so schön sagt – einen Buches, des großen Projektes, an dem der Autor mit seltener Langsamkeit schreibt. Es ist wahrscheinlich sein bestes. Freilich steht die liebende Verbindung des ursprungsentfernten, entfremdeten und der Durchschlagskraft der Macht des Schicksals transzendental entblößt gegenüberstehenden Europäers mit der sowohl erdverbundenen als auch in spirituellen Höhen beheimateten Naturschönen unter einem gewissen Kitschverdacht. Die Komponente des Erhabenen vermag dem Hauch des Esoterischen nicht unbedingt viel entgegenzusetzen. Doch funktioniert dies gerade deswegen, weil sich Ransmayr diesem Ideenkomplex Natur - Schönheit mit aller Ernsthaftigkeit und in Gänze verschrieben hat. Ein Satz Kitsch ist nur Kitsch, viele Sätze sind Kunst.
Das Versepos – Ransmayr spricht vom Flattersatz, von „fliegenden“ Sätzen, auch dies ein „Rückweg“ – besticht durch seine sprachliche Präzision, seine Intensität und seine Vielschichtigkeit. Es überzeugt zudem durch seine eindrückliche Authentizität der Naturbeschreibungen. Ransmayrs Anliegen bleibt ein philosophisches, wenn nicht spirituelles, wie in der österreichischen Literatur ja bisweilen gängig, das immer auf das Ganze abzielt. Und doch gelingt es ihm diesmal besser als bisher, den Einzelnen vor diesem Ganzen und in Beziehung dazu abzubilden, so dass er nicht vollständig von der philosophischen Last auf seinen Schultern erdrückt wird. Ransmayr hat uns hier seinen eigenen Zarathustra geschenkt. Auch dieser stirbt – und steht wieder auf.