Ariane Grundies:
Am Ende ich
Arianes Sehnsucht nach der See
von Jost Kaiser
Literarisches Fräuleinwunder? Wider Willen:
Ariane Grundies sind solche Zuschreibungen zuwider. Überhaupt: Sie
verabscheut Klischees. Und entlarvt in ihrem Romandebüt auf einmalig
lakonische Art das ständige Palavern gegen die Stille, den Klangteppich der
Republik.
Ariane Grundies’ Welt ist zurzeit grün, mit einem blauen Band drin und
vielen Containerschiffen drauf. Es ist nämlich so, dass das grüne Otterndorf
an der Elbmündung eine Stadtschreiberin beschäftigt und dass Grundies, 27,
Autorin des interessantesten Romandebüts in diesem Herbst und Wahlberlinerin
das Meer liebt. In Berlin mag die gebürtige Stralsunderin nur die Seen vor
der Stadt. Deshalb findet sie jetzt im Nordseebad Otterndorf ihre
Geschichten, die sie im Gespräch so prächtig serviert: Gerade ist im
Otterndorfer Hafen ein Krabbenkutter gesunken. Die Polizei will einen
zweiten Radarwagen anschaffen, worüber es Streit gibt. Und dann gibt es da
noch den Johann-Heinrich-Voss-Preis für Literatur. Vorsitzender der Jury:
Stefan Aust. Preisträgerin war dieses Jahr Sarah Kirsch, die Laudatio hielt
Ulrich Wickert. Grundies war auch eingeladen. »Am Ende hat sich Sarah Kirsch
auf meine Brille gesetzt« – Grundies zeigt die Brille mit Sprung im Glas.
»Die werde ich für immer behalten.« Dann hat auch der Sparkassendirektor
noch eine Rede gehalten. »Und der hat dann der Giro, äh Jury gedankt, und
diese 100.000 Männer in Anzügen und die arme Sarah Kirsch dazwischen.«
Ariane Grundies freut sich über solche Geschichten, und es hat nie den
Anschein, als wolle sie sich über das Provinzielle lustig machen, ihr geht
es nur darum zu sagen: So ist es da. Darüber hinaus denkt man sich dann
auch: Ulrich Wickert, Stefan Aust, der Sparkassendirektor und der Streit um
den neuen Radarwagen: Das ist Deutschland. Otterndorf ist überall. Und das
ist irgendwie auch Ariane Grundies Thema. Denn ein bisschen Otterndorf ist
auch in Grundies' neuem Roman »Am Ende ich«. Es geht um einen altklugen,
geschwätzigen jungen Mann, um Lutz, der seinen Zwillingsbruder Max in
Verdacht hat, die im Wachkoma Mutter lag, umgebracht zu haben. Am Ende ist
aber alles ganz anders. Und zwischen Anfang und Auflösung geht es um
allerlei Verstrickung in der engen Familie, um Ausbrüche und deren
Scheitern. Und dann geht es auch noch um den ganzen Quatsch eines leeren
Alltags, um die Wonnen und Gefahren des Coca-Cola-Trinkens, ums
Handballspielen und – als Gipfel der Leere – um Kommunismus als Beispiel für
eine Art Privatphilosophie, deren Weisheiten die Tante des Ich-Erzählers
unablässig im Munde führt, beim Abspülen, beim Essenmachen, beim
Kaffeetrinken, und die über all den leeren, alten, verbrauchten Sätzen
völlig das Leben, ihr Leben übersieht. »Politik findet in der Familie
statt«, sagt Grundies. Die Politik in »Am Ende ich« ist ein ständiges,
leeres Palavern gegen die Stille. Es wird unablässig gesprochen, denn, wie
der Ich-Erzähler am Anfang sagt: »Das große Nichts, das wartet. Mit dieser
Erkenntnis lebt es sich entschieden leichter.« Es scheinen alle gegen die
Leere ansprechen zu wollen, Ich-Erzähler Lutz, seine Tante. Das ist manchmal
enervierend, oft komisch, immer trefflich beobachtet. Und es endet
schließlich anders als erwartet.
Während Ariane Grundies das erzählt, sitzen wir am Rand von Berlin, am
Wannsee. Ariane Grundies trägt eine Sophie-Scholl-Frisur. So was ist
ungewöhnlich in Berlin, dieser Stadt der uniformierten Nonkonformität,
genauso wie die Vorliebe für das Wasser. »Obwohl ich seit über drei Jahren
in Berlin lebe, fühle ich mich hier überhaupt nicht zu Hause und fahre sehr
oft weg. Ich mag Berlin, aber mir fehlen ein Hafen und richtige Schiffe. Ich
finde, das gehört zu einer Stadt«, erzählt Grundies. Und ihr Ton sagt: So
ist es. Das ist keine Wertung, nur eine lakonischen Feststellung. Berlin –
keine Stadt! Grundies nerven Klischees. Klischees wie das literarische
»Fräuleinwunder«, unter dem Kritiker sie mit anderen Autorinnen unter dem
Titel »Leipziger Schule« gern zusammenfassen, weil sie am dortigen
Literaturinstitut studierte. Klischees über den Osten, mit dem sie sich der
Meinung einiger Kritiker nach nicht genug beschäftige. So lebt der »Osten«
als literarische Kategorie nun – und nur – in den Köpfen der Rezensenten
fort, die ihn so am Leben erhalten, obwohl er bereits verstorben ist, so wie
in Grundies' Buch die Tante Silvia den Kommunismus beim Teekochen am Leben
erhält: als Gequassel. Nicht mal das Nacktbaden, angeblich eine
Ossi-Spezialität, pflegt Grundies jetzt, wo sie da oben an der Nordsee die
Gelegenheit hätte. »Nacktbaden? Ja – aber nö. Ich mag viel lieber Wind und
Angezogensein.«