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Dezember 2006 | |||
Genie trifft Wahnwitz
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„Ich habe keine Ahnung.“ Mit dieser überraschenden Aussage begann der Erfolgsautor Daniel Kehlmann die zehnte Poetikvorlesung des Literarischen Zentrums Göttingen. Deren Titel, „Diese sehr ernsten Scherze“, unter welchen die Veranstaltung gestellt war, spiegelte sich perfekt in der Vortragsweise Kehlmanns wider. Statt lediglich über sich und seine Person zu dozieren, stellte Kehlmann sich auf sehr innovative Art und Weise dem Publikum. Als deutscher Autor ist man immer Befragter. Deshalb blieb Kehlmann auch an beiden Veranstaltungstagen in dieser Rolle. Er inszenierte nach Platonschem Vorbild einen inneren Monolog. Stellvertretend sowohl für die Literaturkritiker als auch Literaturkonsumenten übernahm der Göttinger Literaturkritiker Heinz Ludwig Arnold die Rolle des kritischen Befragers.
Das Frage-Antwort-Spiel der beiden wurde durch die am häufigsten an einen Autor gerichtete Frage: „Warum schreiben sie?“ eröffnet. Nach einigem Zögern antwortete Kehlmann, dass Autoren vermutlich „als späte Rache dafür, dass sie immer als letztes im Sportunterricht in die Mannschaft gewählt wurden“ schreiben. Mit dieser wenig befriedigenden und eher ausweichenden Aussage stellt Kehlmann humorvoll dar, dass es keine allgemeingültige Antwort auf diese Frage gebe. Seiner Meinung nach seien Übung und die Erkenntnis, dass Lernen nicht kontinuierlich, sondern in Sprüngen erfolge, evident. Auch er selbst fange bei jedem Roman von vorne an und müsse sich erst vortasten, da es das professionelle Schreiben als solches nicht gebe.
Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt Rowohlt 2005 304 S., geb., 19,90 € » amazon |
Bezogen auf sein eigenes Schreiben von Prosa spezifiziert er alsdann diese sehr allgemein gehaltenen Aussagen. Perfekte Formalia seien natürlich wichtig, aber „Details sind alles“. Im Erzählprozess seiner Werke stehe die Visualisierung im Vordergrund. Es gehe auch darum, dort einen Bogen zu spannen, wo keiner vorhanden sei. So appelliert Kehlmann an die Fantasie des Lesers, der dazu angehalten wird, die eingewebten Bilderwelten zu erkennen. Doch warne er auch vor metaphorischer Überladung, um dem Leser interpretatorische Freiräume zu lassen. Aus diesem Grunde fordere er für seine Werke eine aufmerksame Leserschaft, die Wahrheit und Dichtung voneinander trennen könne. Er verweist auf den gern vergessenen Umstand, dass ein als Roman bezeichnetes Werk in erster Linie als Fiktion zu betrachten sei – unabhängig davon, ob und in welcher Quantität reale Bezüge tatsächlich enthalten sind.
Kehlmann selbst beschreibt seine Art der Prosa als „gebrochenen Realismus“ – womit er eine neue Stilrichtung begründete. In Anlehnung daran ist „Die Vermessung der Welt“ als ein genaues Gegenteil zu einem authentischen Geschichtswerk zu verstehen. Das literarische Thema ist das Zusammenspiel von Genie und Wahnsinn, wobei somit die Hochbegabung der Besessenheit ambivalent gegenübersteht. Dies verdeutlicht er anhand „seiner“ beiden Wissenschaftler Gauß und Humboldt. Literatur soll nicht die Regeln der Syntax brechen, sondern die der Wirklichkeit.
Soviel zu den Idealen eines Autors. Ob diese von allen Lesern jedoch wahrgenommen werden ist eine andere Sache. Der deutliche Vorwurf „das Spiel mit Wirklichkeit wird in Deutschland nicht verstanden“ allerdings spricht eine andere Sprache. So wirft Kehlmann so manchem Rezensenten Flüchtigkeit und Unverständnis vor, wird doch gern die „Realitätstreue“ seiner Werke gelobt. So wird selbst Fiktion gezwungen glaubhaft zu sein.
Am Ende der beiden Tage waren vermutlich diejenigen im Publikum enttäuscht, die gehofft hatten, eine Schritt-für-Schritt-Anleitung fürs Schreiben zu erhalten oder etwas mehr über den Menschen Daniel Kehlmann zu erfahren. Dieser verweigert aber bis auf wenige biographische Eckdaten beharrlich private Auskünfte. Das muss man respektieren. Schließlich sei der Autor lediglich in der Atmosphäre, nicht aber im Text selbst wiederzufinden.
Was bleibt, ist der Eindruck eines erfolgreichen, aber dennoch bodenständigen und sympathischen Schriftstellers, der seine Arbeit für wichtiger erachtet als sich selbst. Ironie und Witz durchzogen – wie aus seinen Werken gewohnt – seine Ausführungen und machten auch vor seiner eigenen Person nicht halt: „Schreiben Sie aus Geldgier oder aus Geltungssucht?“ „Ich würde die Reihenfolge umdrehen.“
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