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Dezember 2006 Frank Fischer
für satt.org

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Wir vom Café – Gelegenheitslyrik und ihre Auslegung

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Es waren einmal …
Zahl und Zombie

Wie einem Neuköllner Problemkid in zwei Absätzen ein durch und durch literarischer Text gelingt, der gleich mal mehrere weltliterarische Themen abhandelt

In der »Süddeutschen Zeitung« vom 12. April 2006 hat die Kinderbuchautorin Manuela Mechtel von ihrer Poesie-Werkstatt in Berlin-Neukölln berichtet, mit der sie auf der Straße herumlungernde Kinder an kreative Prozesse heranführen will. Sie spornte die Kinder zu einer écriture automatique an, sie sollten Texte über ein beliebiges Thema schreiben, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Denn das sind sie sowieso nicht gewöhnt. Es entstanden authentische Geschichten, die teils mit naiver Deutlichkeit, teils mehr oder weniger verschlüsselt von der Erfahrungswelt und letztendlichen Harmoniesucht der Jugendlichen berichten.

Mechtel referiert einige der so entstandenen Geschichten und zitiert unter anderem auch den kurzen Text von einer J., zwei Absätze, die meilenweit herausragen und in Wortwahl, Themensprüngen und pointierter Kürze, aber auch in ihren Inkongruenzen schlichtweg genial sind. Von der Verfasserin der Geschichte wird nur berichtet, dass sie gern Papier zerreißt und manchmal Gesichtszuckungen hat.

J.s Text kann Zufall sein und ist doch auch ein hundertprozentiges Zeugnis naiver Dichtung im Schiller'schen Sinn, die nicht durch die Kenntnis starker literarischer Vorbilder verbildet und eingeengt wurde. Er erinnert an die Genese der Marseillaise, deren Worte laut Stefan Zweig eher ungeplant durch einen nicht sehr fähigen Dichter von der revolutionären Straße aufs Papier gefunden haben. Oder an César Airas erst kürzlich auf Deutsch erschienene Erzählung »Varamo«, in der ein durch und durch unkreativer Staatsdiener ein avantgardistisches Gedicht verfasst, ohne dass er gewusst hätte, wie ihm dabei geschah.

Im vollen Wortlaut lautet J.s Text so:

Neukölln hat den Durchblick

Neukölln hat den Durchblick
Foto: Gabriele Kantel, Flickr.com,
CC-Licence

Es waren einmal viele Zahlen, die konnten nicht aufhören, denn ein Erfinder erfand immer neue Zahlen. Eine Zahl ging mal zum Friedhof und sah einen Zombie. Der Zombie wollte die Zahl zerfetzen und sie auseinander reißen. Doch die Zahl bricht ihm den Arm ab. Der Zombie hatte doch noch zwei Beine und einen Arm. Er hatte so Angst, dass er die Zahl fragte, ob sie mit ihm tanzen würde?

Die Zahl sagte: »Okay.« Dann haben sie getanzt. Als sie aufhörten zu tanzen, stellte sich raus, dass die Zahl ein Weibchen war und der Zombie ein Männchen. Dann fragte der Zombie, ob die Zahl ihn lieben würde. Die Zahl hat gesagt: »Ja, du hässlicher Fliegenschiss!« Und dann fragte die Zahl, ob er sie liebte. Der Zombie hat »Ja« gesagt. So heirateten sie. Und dann stritten sie sich. Die Zahl sagte: »Du Schwein! Lass dich hier ja nie wieder blicken in Zombieland!« Dann ließen sie sich scheiden. Der Zombie ging zur Zahl-Familie, und er sah auch den Professor, der die Zahlen erfunden hatte. Der Zombie sagte: »Ich werde euch alle vernichten!« Da kommen alle Zahlen und zerfetzten ihn in Stücke und keiner sah ihn wieder. Und die Zahl hat auch keiner mehr gesehen, denn sie ist von den Zombies zerfetzt worden.

Derart dichte Texte sind selten. Da gibt es keine Füllsel, nur klare Sätze und Worte mit einer Treffsicherheit und einem allegorischen Überschuss, die einem Angst machen können. Was für eine Story!

Schon der Beginn ist eine perfekte literarische Variation auf das Thema Unendlichkeit: Die Zahlen hören nie auf, und erklärt wird das damit, dass ein nachgerade göttlicher Erfinder immer neue erfindet. Das ist in seiner kindlichen, aber stichhaltigen Erklärung besser als Peter Bichsel.

Dann wird aus der unendlichen Menge an Zahlen eine Zahl herausgegriffen. Man mag dabei an Individualisierungsbestrebungen des Subjekts denken, doch nimmt der Satz sofort eine andere Wendung: Unsere Zahl begegnet einem Zombie. Was für eine Themenkonfrontation! Ein Zeugma aller erster Güte, noch dazu ein Stabreim (Zahl – Zombie).

Man möchte zu gern wissen, um welche Zahl es sich nun eigentlich handelt, aber dieses Geheimnis bewahrt der Text. Dass der Zombie die namenlose Zahl erwartungsgemäß »zerfetzen« und »auseinander reißen« will, könnte darauf hindeuten, dass die Zahl aus mehreren Ziffern besteht. Jedenfalls scheint sie mächtiger zu sein und bricht dem Angreifer den Arm ab. Da der Zombie nun »doch noch zwei Beine« hat, kann er die ihm überlegene Zahl noch zum Tanz auffordern, seine Form des Winselns um Gnade und eine weitere überraschende Volte des Textes.

Im Zeichen des Sieges nimmt die Zahl das Angebot, das ja auch eine Falle sein könnte, an. Dass sie dazu ganz unumwunden lässig »Okay« sagt, erinnert an wortkarge Actionfilme. Gemäß den Artikeln der Substantive stellt sich heraus, »dass die Zahl ein Weibchen war und der Zombie ein Männchen«. Bezeichnenderweise erst nach dem Tanz, bei dem der Zombie geführt und so ein wenig an Würde zurückgewonnen haben mag.

Jedenfalls getraut er sich, die Frage der Fragen zu stellen. Die Antwort der Zahl ist eine hinreißend waschechte Paradoxie: »Ja, du hässlicher Fliegenschiss!« Das wird ihr keiner glauben, aber wie zum Beweis ihrer eigentlich guten Absichten stellt sie ihrem Lover dieselbe Frage. Und weil der Zombie auch bejaht, wird geheiratet. Dieser beinharte antibürgerliche Zynismus wird dann noch auf die Spitze getrieben, indem ohne Umschweife gleich mit der Heirat die Eheprobleme beginnen: »So heirateten sie. Und dann stritten sie sich.« Die Zahl gewinnt als sowieso schon dominante Überfrau die Oberhand in der Ehe und beschimpft ihren Zombiemann als »Schwein«, was ja eigentlich keine Steigerung mehr ist, wenn man mit einem Zombie verheiratet ist.

Überraschenderweise schickt die Zahl den Zombie aus seiner Heimat »Zombieland« weg, bleibt aber selbst offenbar dort wohnen. Aus Rache will der Zombie die Familie der Zahl heimsuchen (auch eine schöne Bildung: »die Zahl-Familie«). Er trifft dort den Zahlenerfinder wieder: ein recurring character, dessen Erscheinen auf künstlerisches Handwerk hindeutet, der jetzt aber etwas genauer als Professor bezeichnet wird. Die vom Zombie angekündigte totale Vernichtung bezieht sich auch auf ihn: Der Terrorzombie will das Zahlenübel gleich mit der Wurzel ausrotten. Keine halben Sachen. Aber wie schon bei seinem ersten Mordversuch an seiner späteren Zahl-Ehefrau scheitert er kläglich, diesmal an der Unendlichkeit. »Alle Zahlen« finden sich ein, um den Gegner solange zu »zerfetzen« und von sich selbst zu subtrahieren, bis er auf Null reduziert wird: »und keiner sah ihn wieder«.

Dass auch die Zahlfrau ihre Stärke und Macht überschätzt hat, als sie in Zombieland geblieben ist, zeigt sich im letzten Satz: Sie wird von den übrigen Zombies zerfetzt. Doch auch wenn das Ende des Textes für die Protagonisten das Ende der Welt ist: Der Erfinder hat überlebt und schießt weiter immer neue Zahlen in den Kosmos. So heiß es auch her ging, das fiktional behandelte Familienproblem aus Neuköllner Perspektive erscheint nichtig angesichts der alles übertreffenden Ewigkeit-Unendlichkeit.