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Januar 2007 | Sigrid Gaisreiter für satt.org |
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Kleiner SpiralnebelAls Wissenschaft von der Vorstellungskraft versteht sich eine Physik, die noch nicht in gängige Wörterbücher philosophischer Begriffe aufgenommen wurde. Sie nennt sich Pataphysik, ein bislang wolkiges Phänomen. Klaus Ferentschik, 1957 in Karlsruhe geborener Schriftsteller und Mitglied des Collegiums der Pataphysik, legte 2000 mit Schwelle und Schall einen Doppelroman in der Tradition von Oulipo, der vom pataphysischen Collegium ins Leben gerufenen Werkstatt für potentielle Literatur, vor. In seinem neuesten Werk nun beschreibt er Genese, Geschichte, Personal und Ideen des Collegiums.
Die Frage, welches Bild man sich von der Vorstellungskraft machen kann ist so alt wie die Philosophie. Von Platon bis Ludwig Wittgenstein und Jean-Paul Sartre versuchte die Philosophie sich mit diesem schwer faßbaren Phänomen auseinander zu setzen. Von Bedeutung ist dies, da die Einbildungskraft ein universal menschliches geistiges Vermögen ist. Sie spielt eine Rolle bei Erinnerungen, Planungen, beim Treffen von Entscheidungen und Überlegungen, was möglich sein könnte. In Gestalt der Phantasie entfaltet Vorstellung ihre kreative Kraft. Wenig Phantasie brachte bislang die zeitgenössische Philosophie auf sich mit dieser Gegebenheit des menschlichen Geistes historisch und systematisch zu befassen. Das ändert sich nun, Colin McGinn, Professor für Philosophie legt mit Das geistige Auge eine solche Untersuchung vor. Einer gehört auch zu dieser Geschichte und doch wird er in McGinns Abhandlung vielleicht fehlen, Alfred Jarry (1873-1907). Er ist kein Philosoph, sondern Schriftsteller, enfant terrible der Avantgarde-Bewegungen Dadaismus, Surrealismus, Kubismus. Sein Ansatz sich mit diesem Phänomen zu beschäftigen ist selbst pataphysisch, also spielerisch, ein früher Dekonstruktivist herkömmlicher Logik. Das macht die Sache amüsant, aber nicht einfacher, zumal Ferentschik, Geschichtsschreiber der Pataphysiker, die Darstellung selbst spielerisch angeht. Das soll nicht schrecken, sondern einladen. Gleich am Anfang steht natürlich eine Beschreibung der Paradoxie, lehnt diese Physik doch wissenschaftliche Definitionen ab. Um erkennbar zu werden, bedarf es jedoch einer solchen und das bezieht sich selbstredend auch auf Jarrys 'Definition': "Jarrys Definition der 'Pataphysik ist notwendigerweise selbst pataphysisch, die Definition der 'Pataphysik ist nicht mehr wert als eine andere pataphysische Aussage". Das macht vorläufig gar nichts, die relativistische Schraube ohne Ende dreht sich nach innen und außen, die Spirale erwählte sich diese Bewegung zu ihrem Emblem. Jarry veranstaltete zu Lebzeiten einen großen Wirbel um die Pataphysik. Im Gegensatz zur Philosophie, die zwischen Vorstellungen, denen reale Objekte und reinen Einbildungen unterscheidet, unterläuft der Künstler diese Differenzen. "Inseln" erscheinen ihm "wie ein See", Realität und Fiktion werden auf derselben Ebene angesiedelt. Damit eröffnet sich ein großes Spielfeld, Realität und Fiktion tauschen sich permanent aus und/oder ergänzen sich. Es revolverte nicht nur Jarry, Marcel Duchamp (1887-1968) wird daraus eine Ästhetik des Zufalls machen. Einfall, Vorfall, Zufall, alles im Fall der Umwerter bürgerlicher Werte und Entlarver der Technisierung der Welt. Jarry, so Ferentschik, sitzt zwar im Zentrum, meistens aber war er unterwegs zu Neuem. Das gelang ihm mit dem berühmten König Ubu, der sich, so Ferentschik, später zu einem Ubu Cocu verwandelte, der Doktor der Pataphysik, das Werk wurde erst 1944 entdeckt, war geboren und entfaltete ein Eigenleben. Fortan identifizierte sich Jarry mit dieser von ihm geschaffenen Gestalt, er, so Ferentschik, "stilisierte sich allmählich selbst zum König Ubu" und lebte nach dieser Fiktion. Aber, im realen Leben lassen sich Realität und Fiktion eben nicht bruchlos ineinanderschieben, Jarry überlistete diese Differenz mit exzessivem Drogenkonsum. Das Ergebnis ist bekannt. Aufgerieben von Posse und Pose, die Drogen brachten ihn ins Grab und Ubu lebte weiter in den Zeichnungen von Pablo Picasso und Joan Miro. In der Figur des Doktor Faustroll setzte Jarry einen obersten Pataphysiker ein. 50 Jahre nachdem der Doktor 1898 in die Fiktion entlassen wurde, fanden sich einige um die Sondernummer der Zeitschrift Les Lettres zusammen. Sie markiert die Geburtsstunde des Collège de Pataphysique, ein illustrer Verein von lebenden, aber auch toten Dichtern wie Marcel Schwob (1867-1905) oder Lewis Carroll (1832-1898). Selbstredend wurden auch fiktive Figuren wie Münchhausen geehrt, Lewis Carroll schaffte den Sprung in die ehrenwerte Gesellschaft, da er die Identität der Kohlköpfe und der Könige nachgewiesen hatte. Das Collège entfaltete in der Folge eine Reihe von Aktivitäten, Ferentschik listet auf, Zeitschriften, Rundschreiben, Plaketten und andere Zirkulare. Immerhin, das Collège hat wirklich existiert. Ferentschik unterscheidet drei Perioden. In die erste, die plastische Epoche fällt die Gründung von Oulipo, in der zweiten zog man sich aus der Öffentlichkeit zurück, mit großem Pomp wurde 2000 das Ende der Verdunkelung gefeiert. Der Begleiter Ferentschik spult alles ab und kommt dabei zu Kurzvorstellungen einiger Protagonisten. Oulipo wurde vor einigen Jahren im Literaturhaus Berlin gedacht, eine Ehrung des Schriftstellers Julien Torma (1902-1993) steht noch aus, sein Kollege Boris Vian (1920-1959) ist mit Werken präsent und der unverwüstliche Philosoph Jean Baudrillard (*1929) paßt gut dazu, schließlich simuliert er seit Jahren vor sich hin. Die Potenz des Potentiellen ist enorm. Ohne Ferentschik, das ist sicher, geht nichts mehr bei einer Diskussion zu den Pataphysikern. Er schuf ein Kompendium, zum Glück mit einem Glossarium Pataphysicum und einem Personenverzeichnis. Ferentschik hat den Schlüssel zu lauter Luftschlössern, einer großartigen Collage und Montage sorgfältig konstruierter Täuschung. In der Literatur ist alles möglich, aber nur dort. An der Widerborstigkeit der Realität zerbrach der Gründer selbst, die Spirale traf auf Widerstand. Schön sind deren Nebel aber doch, auch wenn die Wissenschaft von den imaginären Lösungen keine Wissenschaft, sondern Literatur ist. |
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