Zauber-*****
Laurence Sterne: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman Herausgegeben und übersetzt von Michael Walter Eichborn Verlag 2006
852 S., €39,90 » amazon
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Soeben erschien der Roman Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentlemen von Laurence Sterne (1713-1768) in der Übersetzung von Michael Walter im Eichborn Verlag. Aus den neun Bändchen wurde ein Buch, es enthält vier Farbstiche des Karikaturisten Henry William Bunbury, sie weisen den Weg, es geht hinaus nach Shandy Hall. Dort versammelt sind die Eheleute Shandy, der Bruder des Vaters, der kriegsversehrte Onkel Toby Shandy, der von einem alten Korporal, Trim, bedient wird. Susannah, die Magd ist anwesend und der Arzt Dr. Slop, der Tristram am 5.11.1718 auf die Welt hilft. Da sind bereits drei Kapitel vergangen. Sterne ist ein Meister darin, den Verlauf der Geschichte zurückzudrängen, Zeit zu dehnen, zu komprimieren und auszusetzen. Später wird das Prinzip, die Stauchung der Geschichte, von Denis Diderot in Jacques der Fatalist wieder aufgenommen. Er ist, wie auch Jean Paul auf der langen Liste der Verehrer dieses Buches, bezaubert vom Hauptmerkmal des Textes, der Digression, der Abschweifung. Schon der Titel verspricht, was er nicht hält. Anstatt von der Biographie Tristrams zu erzählen, handelt das Buch vom Abenteuer der Ideenverknüpfung. So fragte denn auch Jean Paul: Wo geht im Tristram die Handlung fort? Im ersten Buch wird das Kind gezeugt, im dritten geboren, im vierten getauft und im fünften, durch ein herabfallendes Schiebefenster beschnitten.
Alle Hauptpersonen sind karikiert. Das Steckenpferd von Walter Shandy ist die Philosophie, er ist der Repräsentant eines überlebten Gelehrtentums, mißt er doch der Namens- und Nasenkunde große Bedeutung zu. Jean Paul sieht in ihm eine &bdquobunt angestrichene Gipsfigur aller gelehrten und philosophischen Pedanterie“. Schwächen hat auch Dr. Slop: Er geht bei der Geburt Tristrams wie gewohnt tapsig zu Werke und drückt ihm mit der Zange die Nase platt. Dies ist für Sterne Anlass, ein Kapitel zu Nasen in der Literatur einzufügen. „Sterne hätte“, so wieder Jean Paul, „nach seiner Weise Millionen Bände schreiben können“. Die schönen Beispiele des Prinzips der assoziativen Verknüpfung beginnen schon beim Zeugungsakt. Im Laufe des Romans reflektiert Sterne immer wieder die digressive Strategie, im sechsten Buch gar liefert er eine graphische Darstellung. Es werden auch Kapitel zu Knopflöchern und Landkarten angekündigt, aber nicht ausgeführt. Zusätzlich reichert Sterne die labyrinthische Makroform des Ideen- und Wortgewimmels durch Unterbrechungen auf der Mikroebene an: Unterbrechungen mitten im Satz, Parenthesen, reflexive Kommentare, eine kreative Verwendung von Satzzeichen, explizite Markierungen der Textteile. Der Übersetzer steht bei dieser hohen Schule der Abschweifung auf schwierigem Posten. Der Roman ist ein Geflecht aus Querverweisen und Fußnoten, es gibt Doppeldeutigen, erfundene Quellen und Zitate, verstümmelte Abkürzungen, Pseudobelege, fremdsprachliche Zitate, Verweise auf Textteile weiterer Bände, echte Zitate ohne Quellenangabe … Letztlich ist der Tristram auch ein Buch über die Enstehung des Buches und dessen allmählicher Verfertigung. Digression als Sonnenschein, sagt Sterne.