Auf Platz 2 der von deutschsprachigen Literaturkritikern erstellten SWR-Bestenliste rangierte im November 2006 die aktuelle Ausgabe der halbjährlich erscheinenden Essener Literaturzeitschrift „Schreibheft“. Diese Auszeichnung ist überaus verdient, was allein überrascht, ist die Tatsache, daß nicht schon den letzten „Schreibheft“-Ausgaben (die Ausgabe 66 mit Auszügen aus Louis Zukofskys Jahrhundertgedicht „A“ und Paul Ingendaays leidenschaftlichem Roman-Werkstattbericht; Ausgabe 65 mit einem umfangreichen Thomas-Kling-Gedenkteil und Ausschnitten aus dem warmherzigen Briefwechsel zwischen Nicolas Born und Peter Handke) diese Ehre zuteil wurde. Das 67. „Schreibheft“ wartet zum einen mit einer knapp neunzigseitigen, mit Aufsätzen und Hommagen angereicherten Werkschau des 1913 in Bukarest geborenen, 1994 in Paris gestorbenen Dichters Ghérasim Luca auf – zum anderen mit einem ebenso umfangreichen Dossier über den Schriftsteller Helmut Heißenbüttel. Im Dossier finden sich zahlreiche poetisch-poetologische Selbstauskünfte des auch als Radio-Redakteur einflußreichen Autors und bemerkenswerte Auszüge aus seiner Korrespondenz mit Arno Schmidt, Theodor W. Adorno und Hans Magnus Enzensberger. Außergewöhnliche Themen, neu und/oder wieder zu entdeckende Schriftsteller aus aller Herren Ländern und die ebenso kenntnisreiche wie ausführliche Vorstellung der Autoren machen das „Schreibheft“ zur ersten Adresse unter den deutschen Literaturzeitschriften.
Kolik 34 Zeitschrift für Literatur 156 S., 8 bzw. 11 (Ausland) Euro » www.kolik.at Freibord 135/136 Zeitschrift für Literatur und Kunst 124 S., 18 Euro Edition Freibord A-1180 Wien Postfach 35
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Etwas kleiner und etwas dünner als das „Schreibheft“, dafür aber auch gleich viermal im Jahr, präsentiert sich „kolik“. Die in Wien erscheinende „Zeitschrift für Literatur“ bietet vor allem der österreichischen Gegenwartsliteratur ein Forum. Höhepunkt der aktuellen Ausgabe ist Leopold Federmairs knapp vierzigseitige, kluge, einfühlsame und urteilsstarke essayistische Auseinandersetzung mit dem Werk von Elias Canetti. In der vorletzten, 33. Ausgabe von „kolik“, deren gleichnamiges Schwestermagazin zum Thema „Film“ ebenso lesenswert ist, wurde das Theaterstück „Kaiser Franz Joseph und sein Engel“ abgedruckt. Es ist Teil des grotesken Triptychons „Österreichs Größe, Österreichs Stolz“ von Peter Rosei, zu dem auch das Stück „Hitler in Wien“ zählt, das in der jüngsten Doppelnummer der Wiener „Zeitschrift für Literatur und Kunst“ „Freibord“ veröffentlicht wurde. Es scheint kein Zufall zu sein, daß in den vorliegenden Fällen die österreichischen im Gegensatz zu den deutschen Literaturzeitschriften der Gattung Drama so viel Raum einräumen, jedenfalls fällt dieser Unterschied wohltuend auf. Neben Roseis Stück bietet die sehr schöne, leider nicht preiswerte „Freibord“-Ausgabe u. a. einen Nachruf auf die jüngst verstorbene Autorin Heidi Pataki, einen verspielten Gedichtzyklus von Fritz Widhalm, Dialektgedichte von Rut Benardi und Michael Kanofkys köstliche Kurzbeschreibungen weggeworfener, von ihm gefundener Lebensmittel: „Nahezu komplette (!) Pizzaecke Tonno Salami Pfefferoni + 1/2 schwarze Olive, sehr guter Erhaltungszustand, nur zweimal angebissen am rechten unteren Rand, inklusive tomatenverschmierter Papierserviette.“ (Wien XV, Sechshauserstraße, Höhe Nr. 34)
Zwischen den Zeilen 25 Eine Zeitschrift für Gedichte und ihre Poetik 128 S., 10 Euro »www.engeler.de
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Daß Theaterstücke in Literaturzeitungen so selten abgedruckt werden, wird oft mit ihrem beträchtlichen Umfang erklärt. Die Praxis, Auszüge von Theaterstücken abzudrucken, ist ungebräuchlich – obwohl das Verfahren bei Romanen und größeren Prosawerken oft angewendet wird. Es scheint daher Vorbehalte gegen diese Textgattung zu geben. Für die Gattung Lyrik erfüllen die Literaturzeitschriften allerdings eine lebenswichtige Funktion. Angesichts der verschwindend geringen Auflagen der meisten Gedichtbände bilden diese Veröffentlichungsorte eine Art Biotop und Naturschutzgebiet fernab des unwirtlichen literarischen Marktes. Die halbjährlich erscheinende Schweizer „Zeitschrift für Gedichte und Poetik“ „Zwischen den Zeilen“ stellt in ihrer 25. Ausgabe sechs junge, zwischen 1970 und 1981 geborene deutschsprachige Dichter und Dichterinnen vor. Hübsch lakonisch und stark dem Alltag verhaftet sind die titellosen Gedichte aus dem Zyklus „Buttons für alle“ der einzigen Autorin des Heftes Claudia Gabler: „ich liebe den Abend/den Abend/sag ich/da ist es nicht mehr so heiß“.
Den Autorenpoetiken widmet sich auch die 179. Ausgabe der Zeitschrift „Sprache im technischen Zeitalter“, Sprachrohr des Literarischen Colloquiums Berlin. Neben der Vorstellung des Autors Andreas Münzner und einer Lobrede auf die Zeitschrift anläßlich der Verleihung des mit 15.000 Euro dotierten Calwer Hermann-Hesse-Preises enthält die Ausgabe sechs sehr unterschiedliche poetologische Selbstauskünfte: Von Katja Lange-Müllers Lektüre-Chronik über Ulrich Peltzers handwerklicher FAQ-Liste bis hin zu Burkhards Spinnens kritischer Selbstverortung im literarischen Feld.
Eine der mittlerweile etabliertesten deutschen Literaturzeitschriften ist die 1993 gegründete, dreimal im Jahr erscheinende Zeitschrift „Edit“ aus Leipzig. Die 40. Ausgabe ist ein Heft zum Wenden: Die eine Hälfte präsentiert die bewährte Mischung aus jungen, dennoch sehr ausgeprägten Autorenstimmen, die andere Hälfte ist eine Art Wunschausgabe mit neuen Texten früherer „Edit“-Beiträger. Die Höhepunkte des Heftes sind Christoph Peters meisterhafte Provinz-Tanzschulen-Pubertäts-Liebesgeschichte „Tanzveranstaltungen, junge Liebe, ein Hund“ und das aufregende Übersetzungsexperiment „Einander zudrehen, Stille Post“, in der ein Gedicht von Eugen Gomringer vom Deutschen ins Spanische, von dort aus ins Türkische, von dort aus in Farsi und schließlich ins Lettische übersetzt wurde. Da „Edit“ nicht nur die Übersetzungen, sondern auch die jeweilige Rückübersetzung abdruckt, kann man sehr anschaulich die einzelnen Stufen des Textwandels nachvollziehen. Mit dieser Jubiläumsausgabe haben sich die Herausgeber ein tolles Geschenk gemacht. Das Heft präsentiert überdies die Cover, Inhaltsangaben und ein Mitarbeiterverzeichnis aller früheren Ausgaben – angesichts dieser Nummer kann man sich kaum vorstellen, wie erst die 50. „Edit“-Ausgabe in knapp drei Jahren aussehen mag.
Nicht schön, weil fast randvoll mit Gedichten, Prosa, Aufsätzen und Buchvorstellungen gefüllt, ist die 26. „Konzepte“-Ausgabe. Das Schriftlayout ist unruhig, die Randstege sind zu knapp bemessen, ich vermisse bei der Textauswahl die Handschrift der Herausgeberin und finde es überdies problematisch, auf acht Seiten acht Gedichte von acht unterschiedlichen Autoren zu veröffentlichen. Das ist verschenkter Platz, da der Leser keine Möglichkeit erhält, sich auf den Sound des Autors einzulassen. Trotz dieser Mängel kann man sich mühelos in der Konzepte-Ausgabe festlesen. Kein Wunder, angesichts der vielen hochkarätigen Beiträger: Elfriede Jelinek, Friederike Mayröcker, Herta Müller, Oskar Pastior …
Ein optischer Genuß hingegen ist die zweite Ausgabe der halbjährlich in Berlin erscheinenden Literaturzeitschrift „sprachgebunden“, die auf gelungene Weise Prosatexte und Gedichte mit häufig farbigen Bildern und Fotos zusammenbringt. Der Autorenstamm ist ebenso jung wie namhaft: Daniel Falb, Hendrik Jackson, Silke Andrea Schuemmer, Stan Lafleur … „sprachgebunden“ ist zweifellos eine der frischesten und auffälligsten Erscheinungen im deutschen Blätterwald und eine neue wichtige Anlaufstelle für die junge deutschsprachige Lyrik.
Die „Junge Lyrik“ ist auch das Thema der 171. Ausgabe der „Zeitschrift für Literatur“ „Text + Kritik“. Neben den Werkproben von sechs jungen Dichtern bietet das Themenheft eine übersichtliche „Strömungslehre“ zur jungen deutschsprachigen Lyrik, in der Michael Braun die bekanntesten Vertreter vorstellt. Peter Geist beschäftigt sich mit der „Lyrik in den Zeiten des Turbokapitalismus“ und entdeckt in vielen Gedichten eine „Wiederkehr des Politischen“, außerdem geht Tobias Lehmkuhl der Frage nach, warum und auf welche Weise junge deutschsprachige Lyriker das Wasser-Motiv in ihren Texten verarbeiten. Nach der gewinnbringenden Lektüre dieser „Text + Kritik“-Ausgabe darf man der „Jungen Lyrik“ in Deutschland eine gute Verfassung bescheinigen. Daß es ihr so gut geht, ist auch ein Verdienst der vielen verschiedenen Literaturzeitschriften, in denen das Thema Lyrik eine so wichtige Rolle spielt. Hierzu ein paar Zahlen: Von den Beiträgen in den oben genannten Zeitschriften sind 42 Prozent (63 von 150) dem Themenfeld Lyrik zuzuordnen. Die Beiträger sind zu 68 Prozent Männer, ihr Durchschnittsalter beträgt 42 Jahre, das der Frauen 44 Jahre. Nur drei Autoren sind in mehreren Zeitschriften vertreten: Ron Winkler (zweimal), Ulrike Draesner (dreimal) und Jan Wagner (viermal).
Erstveröffentlichung in Kultur & Gespenster 3 (Winter 2007).