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Juni 2007 Frank Fischer
für satt.org

Dieser Aufsatz ist erschienen in: Christine Künzel / Jörg Schönert (Hg.): Autorinszenierungen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. S. 271-280. Er geht zurück auf einen Vortrag, den ich am 31. Januar 2006 im Rahmen der Ringvorlesung »Inszenierung von Autorschaft und Werk als Medienereignis« an der Universität Hamburg gehalten habe. Ich danke dem Verlag für die Genehmigung dieser Online-Version des Aufsatzes. FF.

Christine Künzel / Jörg
Schönert (Hg.): Autorinszenierungen
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Der Autor als
Medienjongleur

Die Inszenierung literarischer
Modernität im Internet


1. Zur Internetaffinität der deutschen Literatur

Mit der Popularisierung des Internets seit Mitte der 1990er Jahre wurde der Ruf nach einem »Netz-Ulysses« laut,[1] ähnlich wie von der literarischen Öffentlichkeit nach 1989 der große Wende-Roman eingefordert wurde. Die Autoren verhielten sich zunächst auch dementsprechend: Sie begaben sich ins Netz, gründeten Projekte, schrieben dort Texte, aber eben keinen »Netz-Ulysses«. Auch deshalb nicht, weil das Internet für sie Nebenbeschäftigung war und blieb. Sie schrieben und veröffentlichten weiter ihre Romane, Erzählungen und Beiträge für gedruckte Anthologien und nutzten das Netz zu allem Möglichen, nur nicht zur Produktion von Netzliteratur. Weil das im Gegensatz zur a priori öffentlich formulierten Erwartung stand, wurden die Netzprojekte späterhin als literarisch belanglos abgetan.

Jedoch hat der Gang ins Internet zwei wichtige Erscheinungen hervorgebracht, die bei diesem literaturkritischen Pessimismus nicht vergessen werden dürfen:

Erstens gelang es den Autoren, eine autonome Teilöffentlichkeit durchzusetzen, vorbei an den tradierten Instanzen und Mechanismen der literarischen Öffentlichkeit, vorbei an Publikationsbarrieren, an Lektoratsvorgängen und anderen festen Größen des Literaturbetriebs, insgesamt also »vorbei an fremdgesteuerten Hierarchien«[2]. Die »Exkommunikation«[3] des Autors war aufgehoben.

Zweitens gelang es den Autoren durch das Experimentieren mit dem neuen Genre ›Internetprojekt‹, ihre besondere Affinität zu den neuen Medien zu betonen und diese als Inszenierung der eigenen technischen, sozialen und letztlich literarischen Modernität zu verwerten, ohne dass sie sich fortan auf ein Publizieren im Internet beschränkt hätten, sondern als ›Medienjongleure‹ zwischen den Medien wechselten.

Diese Affinität kann sich auf zwei Bereiche beziehen: zum einen auf das bloße Vorkommen des Internets und seiner Dienste im erzählerischen Raum, das literarische Verarbeiten des Internets als Bestandteil beschriebener Wirklichkeit; zum anderen auf das Internet als literarisches Medium.

Um den ersten Bereich, der hier nicht näher behandelt werden soll, kurz mit Beispielen auszustatten: Seit gut zehn Jahren entstehen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Texte, die den Cyberspace nicht mehr als Science-Fiction, sondern das Internet als Erscheinung der technischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit beschreiben. Kursiert das Netz in Claudius Seidls Erzählung »Kommando Tony Manero« (1996) noch als parallelweltlicher ›Cyberspace‹, in den unliebsame Literaturkritiker abgeschoben werden,[4] lässt schon Benjamin von Stuckrad-Barre in seinem Roman »Soloalbum« (1998) eine Handvoll moderne Hausfrauen über das Internet diskutieren und karikiert es so als Alltag.[5] Als Beispiele für die Integration der Internetdienste in literarische Texte als dramaturgisches Mittel soll hier Stefan Beuses Roman Kometen (2000) genannt werden, auf den später noch eingegangen wird. Notabene: Auch Günter Grass möchte in seiner 2002 erschienenen Novelle Im Krebsgang mit dem Internet als dramaturgischem Mittel seine eigene Modernität kommunizieren, seine literarische Relevanz und Zuständigkeit für die Gegenwart. Das geht dann aber aus verschiedenen Gründen schief:

»Grass’ Unerfahrenheit im Umgang mit dem neuen Medium ist offensichtlich. Der junge Pokriefke redet stets – per E-Mail – mit ›dem Internet‹, das abstrakt und gefährlich erscheint. Die Chatrooms sind ›voll‹ wie Wohnräume, ein Thema ›schlägt‹ hier ›virtuelle Wellen‹ .«[6]

Das Beispiel Grass zeigt: Nicht alle Autoren, die sich literarisch mit dem Internet auseinandersetzen, sind Popautoren im engeren Sinn. Trotzdem sind es die Pop-Protagonisten, die sich zuallererst im Netz versuchen und mit ihm auch literarisch virtuoser umgehen können, da sie in Internetprojekten Praxiserfahrung gesammelt haben. Johannes Ullmaier listet acht mögliche Kriterien für die Unterscheidung Pop/Nicht-Pop auf (etwa jung/neu vs. alt, authentisch vs. vermittelt, peppig vs. betulich usw.), in die die Dichotomie internetaffin vs. internetfeindlich unbedingt mit aufzunehmen ist.[7]

Nach dem vor allem feuilletonistischen und literaturkritischen Hype und Gegenhype um die Popliteratur in den Jahren ab 1998 hat eine Reihe germanistischer Publikationen inzwischen herausgekehrt, dass Popliteratur eben keine angemessene Ad-hoc-Bezeichnung für jegliche Art neuerer Jugendliteratur ist, sondern vor allem durch ihre Methodik charakterisiert werden kann, Gegenwart zu verarbeiten, im Text neu zu schaffen und zu serialisieren, durch »Zitieren, Protokollieren, Kopieren, Inventarisieren«[8]. Genau dies haben auch die Internetprojekte versucht, die im Folgenden vorgestellt werden sollen.

Dass es sich bei der Publikation und Distribution zeitgenössischer Texte im World Wide Web um eine popliterarische Methode handelt (auch im Sinn einer ›populären‹ Maßnahme, der Schaffung einer prinzipiell ›für alle‹ zugänglichen Rezeptionsgrundlage), hat Eckhard Schumacher anhand von Rainald Goetz’ zwischen Februar 1998 und Januar 1999 entstandenen Internetprojekt Abfall für alle gezeigt,[9] mit dem dieser sich außerdem in die Tradition des öffentlichen Tagebuchschreibens stellte, d. h. eines bewussten Schreibens auf eine Veröffentlichung hin. Durch die neuartigen Publikationsbedingungen verkürzte er aber den Abstand zwischen Produktion und Rezeption: »Ich las die Tagebücher von Jünger, Krausser oder Rühmkorff [sic!], und dachte immer: wenn man nur wüßte, wie es JETZT steht, was er JETZT macht, JETZT denkt.«[10]

In der Zeit nach Abfall für alle setzte eine ganze Autorengeneration auf die organisatorischen Qualitäten des Webs. Jenseits der Menge der Begriffe, mit denen Textorganisation im WWW normalerweise beschrieben wurde (Homepage, Website, Webring usw.), versuchten sich die Autoren nach Goetz’ Beispiel zunächst am Genre ›Projekt‹, das technisch oft auf einfacher Forensoftware beruhte, die aber eine brauchbare Infrastruktur für die kollektiven Schreibprojekte bereitstellte.


2. Die Internetprojekte NULL, pool und Forum der 13

In der Hochphase der Internetprojekte zwischen 1998 und 2001 nahm eine stattliche Anzahl von Autoren der jüngsten und mittleren Autorengenerationen an den drei Prestigeprojekten deutscher Literatur im Netz teil:

  NULL pool Forum der 13
beteiligte Autoren 39 35 13 Mitglieder plus maximal 13 Gäste
Projektdauer 01/1999 – 12/1999 06/1999 – 06/2001 seit 09/1999
neue Texte jeweils montags beliebig oft beliebig oft

Die Projekte verstanden sich dezidiert als kollektive Schreibprojekte bereits etablierter Autoren. ›Etabliert‹ muss deshalb betont werden, weil es ja schon damals auch Schreibgruppen von »Hobbyautoren [gab], die im tradierten Literaturbetrieb niemals eine Gelegenheit zur Veröffentlichung gefunden hätten«,[11] von denen diese Projekte abzugrenzen sind. Die Mehrzahl der beteiligten Autoren konnte damals bereits auf ein gedrucktes Œuvre verweisen, zumindest aber auf einzelne Veröffentlichungen, war also im Literaturbetrieb etabliert, das literarische Schreibvermögen mehr oder weniger anerkannt.

Den Anfang machte im Januar 1999 auf der Website des DuMont-Verlags ein Projekt, das in Anspielung auf den bevorstehenden Jahrtausendwechsel den Titel NULL trug. Ein Jahr lang schrieben dort 39 Autoren an einer Anthologie. Der Initiator und Herausgeber Thomas Hettche wünschte sich für die entstehende Textsammlung als Reflexion des Produktionsortes Internet die »Assimilation medialer Wirklichkeiten und die Beziehung der Texte aufeinander, eine Sukzession der Topoi, Themen, Bilder«[12]. Da dies die Texte der Autoren offensichtlich nicht hinreichend hergaben, führte der Herausgeber eine Sternenkarte als Inhaltsverzeichnis ein, auf der Linien zwischen zwei Sternen (Texten) etwaige intertextuelle Verknüpfungen nachträglich visualisieren sollten. Das Ganze kam also netzliterarisch als nicht besonders originär daher. Aber es ging – wie anfangs erwähnt – auch um etwas anderes, darum, im World Wide Web Präsenz zu zeigen, um dort Öffentlichkeit durchzusetzen.

Im Juni 1999 wurde der pool eröffnet. Die Organisatoren Elke Naters und Sven Lager luden befreundete Autoren ein, am Ende wurden es insgesamt 35 Beiträger. Die Schreibfunktion des pool war ausschließlich über ein Passwort zugänglich, wieder um sicherzustellen, dass sich die Teilnahme auf die eingeladenen, etablierten Autoren beschränkte. Die Texte erschienen prompt und unredigiert, eine Redaktion wie bei NULL gab es nicht mehr. Viele der Protagonisten des pool waren auch schon an der 1999 erschienenen Anthologie Mesopotamia beteiligt, einer Art Initiations-Sammelband der neuen deutschen Popliteratur. Der pool wurde daher vor allem im Umfeld der Popliteratur verortet.

Im August 1999 trafen sich im Nordkolleg Rendsburg 13 Autoren und gründeten das »Treffen der 13«. Sie wollten unabhängig von den Mechanismen des Literaturbetriebs über Literatur diskutieren, vereinbarten zweijährliche Treffen und nutzten zwischendurch eine Diskussionsplattform im Internet, die sie Forum der 13 nannten. Jedes Mitglied hatte das Recht, einen Gast ins Forum einzuladen, so dass höchstens 26 Autoren gleichzeitig im Forum schreiben konnten. Freigeschaltet wurde das Forum im September 1999. Die Mitglieder des Forums waren sich bewusst, dass sie mittlerweile allein durch den Publikationsort Internet in einer Tradition standen und definierten sich in Abgrenzung etwa zum pool, der drei Monate vor ihnen gestartet war und nun fast zwei Jahre parallel zum Forum laufen würde. »Noch einen Chatroom mehr für Autoren, das ist es jedenfalls nicht, was ich mir wünsche«,[13] schreibt etwa Norbert Niemann, einer der hauptsächlichen Beiträger. Es ging natürlich trotzdem in erster Linie um den schriftlichen, spontanen Dialog. »Wir müssen nicht partout das Gegenteil von Pool sein«,[14] entgegnet Heiner Link.

Der Innovationscharakter des Genres ›Projekt‹ hat sich inzwischen überlebt, zumindest liegt die literaturbetriebliche Aufmerksamkeit nicht mehr darauf. Doch im genannten Zeitraum führte das gemeinsame Auftreten einer derartig großen Zahl von etablierten Autoren zu einer Akkumulation symbolischen Kapitals, die den Projekten und den daran beteiligten Autoren medienwirksam Gewicht verlieh, sie über den Wahrnehmungspegel des Literaturbetriebs und der Feuilletons hob und es ermöglichte, dass die Inszenierung der eigenen Modernität erfolgreich war. Die jüngere deutsche Gegenwartsliteratur, der in diesen Jahren nachgerade allumfassend das Label ›Popliteratur‹ anhaftete, wurde in breiter Front wahrgenommen.

Die hier anhand der drei Projekte beschriebene autonome Öffentlichkeit erlebte bis 2001 ihre Hochzeit, bis sich die wichtigsten Autoren und mit ihnen die Projekte aus dem Netz zurückzogen. Die bisherigen Gegenöffentlichkeitsstrategien waren letztlich auch daran gescheitert, dass sie sich an das Hauptmedium, an den Literaturbetrieb, angepasst hatten. Mit dem Aufkommen der Weblogs, der »offizielle[n] Gegenöffentlichkeit unserer Tage«,[15] hat sich das geändert, eine Gegenöffentlichkeit im Netz ist nun weniger angewiesen auf Rezeption (und sei es negative) in den Printmedien, sondern funktioniert horizontal, im Medium selbst, von Blog zu Blog, von Website zu Website.


3. Reaktionen der Literaturkritik

Wegen der gewichtigen Autorennamen wurde von seiten der tradierten literarischen Öffentlichkeit auch prompt auf die Projekte reagiert. Nach einer Phase der sympathisierenden Berichterstattung mehrten sich kritische Stimmen. In einem Artikel für Die Zeit monierte etwa die Literaturkritikerin Iris Radisch, dass sich die Autoren, statt im Elfenbeinturm zu sitzen, lieber zusammen ins WWW begaben und dort, im »Netz des Selbstbezugs«, nur noch über sich selbst schrieben, vulgo: »Inzest auf Papier« betrieben. Radischs ostentative Folgerung: »Wer im gemachten Netz sitzt, ist für die Literatur verloren.«[16]

Der Artikel wurde von den Internetprojekten sofort dankbar aufgenommen als Anlass für eine Selbstbestimmung im Rahmen der neu gewonnenen autonomen Öffentlichkeit:

»Was sie aber vielleicht fürchten, ist Machtverlust. Der Artikel von Iris Radisch ist ein erstes Zeichen dafür, daß das hier funktionieren könnte. Daß wir uns hier eine eigene Öffentlichkeit schaffen können, vorbei an fremdgesteuerten Hierarchien. Es ist noch nicht sicher, wie sich das entwickeln wird, aber jede Erwähnung in der ZEIT befördert unser Unternehmen. Und da heutzutage alles quotengesteuert ist, kommen sie bei steigender Quote gar nicht dran vorbei, uns zu erwähnen. Find ich gut.«[17]

Radisch sieht den Dichter im Elfenbeinturm als Ideal, übersieht dabei aber wieder, dass das Internet für die Printautoren ein Platz zum Experimentieren ist und die Literatur immer noch in Büchern stattfindet, die von den Autoren immer noch allein geschrieben werden. Eckhart Nickel vermutet hinter Radischs Artikel die Angst vor Zuständigkeitsverlust:

»Frau Radisch ist überfordert von einer Gemeinde der Literatur, in der sich die Menschen miteinander unterhalten, einander kennen, übereinander sprechen, gar wohlmöglich miteinander und übereinander schreiben. Da ist natürlich die Kritik in ihrer Autonomie bedroht, wo Literaten selbst schon Kritiker sein können.«[18]

Nickel sieht die Kritik in ihrer Autonomie bedroht, und zwar durch die Autoren selbst. Das geht denn doch etwas weit. Es gibt zudem auch subtilere Wege, um den Kritikern zu signalisieren, dass man ihnen im Internet einen Schritt voraus ist. Als Beispiel kann ein literarisch-ironisches Täuschungsmanöver dienen, das Christian Kracht an die Herausgeberin der Literaturen, an Sigrid Löffler, richtete.


4. »Ich bin schon da!« – Christian Kracht und literaturen.de

Zur Vorgeschichte: Der Kritiker Aram Lintzel berichtete in der ersten Ausgabe der damals neu gegründeten Zeitschrift Literaturen über »elektronische Salons«, u. a. auch über den pool.[19] Lorenz Schröter, Autor im pool, machte die anderen Beiträger auf diesen Artikel aufmerksam:

»In der Zeitschrift Literaturen steht wieder was zum Gähnen über pool. Irgendwas über Arroganz und dass sich Christian Kracht mal einen Pelzmantel gekauft hat für 6800 DM. Und wie langweilig wir sind und blass, und dass man sich darüber furchtbar aufregen könnte, als gäbe es nichts Einfacheres auf der Welt, als eine Website zu ignorieren. Anscheinend aber doch nicht.
Manchmal fühle ich mich ja schon alt, aber wenn ich sowas lese, denke ich wieder, Wow!, Speerspitze der Avantgarde, meilenweit voraus, nichts begriffen die dahinten unseren Gummiabrieb beim Gasgeben beschnüffeln.«[20]

Aram Lintzel gehört zu den Kritikern, die Popliteratur und Literatur im Internet aus ähnlichen Gründen ablehnen. Er argumentiert mit außerliterarischen, biografischen Kriterien, die ihm genügen, um die Selbstbezeichnung der pool-Autoren als »Schriftsteller und Künstler«[21] »euphemistisch«[22] zu nennen. Christian Kracht reagierte auf Schröters Hinweis mit folgendem Beitrag:

»Lieber Lorenz,
vorsorglich habe ich die Domain www.literaturen.de schützen lassen, als ich davon hörte, daß die begabte & sympathische Sigrid Löffler eine Literaturzeitschrift dieses Namens gründen will. Sie kann mir den Namen jederzeit abkaufen. Der Preis: 6800 Mark. Der [b]odenlange Herrenpelz [ …] ist also längst wieder drin.«[23]

Die Prestigedomain ›literaturen.de‹ war bei Erscheinen des Literaturmagazins tatsächlich schon vergeben, die Herausgeber mussten auf ›literaturen-online.de‹ ausweichen.

Einige Wochen nach Krachts Wortmeldung im pool ging das Branchenmagazin kressreport der Sache mit dem Herrenpelzmantel nach,[24] und klärte auf, dass die Domain Kracht gar nicht offiziell gehörte, er sich mit seiner Behauptung also einen Spaß erlaubt haben musste. Mit dem damaligen Besitzer der Domain ›literaturen.de‹ hatte Kracht gar nichts zu tun.[25]

Kracht hatte also wie der Igel dem Hasen ungerechtfertigterweise zugerufen: »Ich bin schon da!« Diese Botschaft ist die erste Inszenierungsleistung, sie bezieht sich auf das Internet als spielerisches Reaktionsmittel auf Kritik. Als solches hat es Vorteile gegenüber anderen Medien, in denen diese Geschichte nicht so stattgefunden haben könnte. Kracht nutzt das Internet, hier im engeren Sinn das World Wide Web, genau dazu, wozu es in der Lage ist, zu nichts weiter. Seinen zweiten Roman 1979 hat er ein Jahr später natürlich wieder als Buch veröffentlicht. Im Nebeneinander verschiedener Medien fungiert das World Wide Web als Instanz einer autonomen Öffentlichkeit.


5. Die multimediale Präsenz von Stefan Beuses Erzählung »Verschlußzeit«

Wie die Inszenierung eines literarischen Textes in diesem Nebeneinander der Medien ablaufen kann, zeigt die Publikationsgeschichte einer kleinen Erzählung von Stefan Beuse, dessen Internetaffinität im Übrigen dadurch deutlich wird, dass er fast als einziger der Autoren an allen drei vorgestellten Internetprojekten teilgenommen hat.

Am 26. Juni 1999, dem dritten Lesetag des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs, stellte Beuse seine Erzählung »Verschlußzeit« vor, für die ihm hernach von der Jury der Preis des Landes Kärnten zugesprochen wurde. In dem Text geht es um den an Alzheimer erkrankten Großvater der Erzählerin Sophie, der in Notizbüchern seine Sprache zu retten versucht. Die Lesung des Textes wurde live auf 3sat gesendet, der Text selbst war – wie alle anderen Beiträge auch – als Real-Audio-Stream, als HTML- sowie geZIPte Word-Datei auch über die Homepage des Bachmann-Wettbewerbs abrufbar.

Zu dieser Zeit lief das von Thomas Hettche initiierte NULL gerade ein halbes Jahr, und obwohl er für das Projekt den Bezug der verschiedenen Texte aufeinander als Ziel definiert hatte, nutzte er die Gelegenheit und stellte Stefan Beuses Text, der naturgemäß keinen Bezug auf andere NULL-Texte nahm, online. Obgleich der Text im Internet schon auf der Website des Bachmann-Wettbewerbs prinzipiell für jeden von überall her zugänglich war, wurde die Präsenz des Textes verdoppelt, natürlich auch, weil die Aufmerksamkeit nicht auf beiden Websites gleichmäßig lag und die praktische Erreichbarkeit des Textes so erhöht werden konnte.

Hettche und Beuse – der dieser weiteren Veröffentlichung ja zugestimmt haben muss – signalisieren hiermit zweierlei. Erstens, dass die zeitgenössische Literatur, die nicht direkt für das Internet geschrieben sein muss, kompatibel mit dem Medium ist. Zweitens, dass ein Internetprojekt die zeitgenössische Literatur im Internet repräsentieren kann. Dieser zweite Gesichtspunkt verdeutlicht, wie die Online-Herausgeber den Text signalisieren lassen: Diese mit Preisen ausgezeichnete Literatur ist auch Teil der Literatur im Netz, für die wir ja stehen.

Auch Terézia Moras im selben Jahr preisgekrönte Kurzgeschichte »Der Fall Ophelia«, die ebenfalls zusätzlich in NULL erschienen ist, hätte hier als Beispiel dienen können, bei Beuse kommt aber noch ein Aspekt dazu, der ihn dazu prädestiniert, den Autor als ›Medienjongleur‹ zu repräsentieren.

Im Frühjahr 2000 erschien Beuses Roman Kometen. Die Handlung spielt Anfang 1996, und trotzdem ist bei Beuse die Welt schon durch die Internetdienste WWW und E-Mail sowie Chatforen globalisiert. Im Buch taucht an einer Stelle eine japanische Bekannte des Erzählers auf. Sie erzählt ihm überraschenderweise »die Geschichte ihres Großvaters, eines Ingenieurs, der mit sechzig Jahren an Alzheimer erkrankte. Er wurde vierundachtzig Jahre alt, und in den letzten Jahren seines Lebens schrieb er dicke Notizbücher voll, die ihm seine Sprache retten sollten.«[26] Es handelt sich um eben jene Erzählung, mit der Beuse gut ein Jahr zuvor am Bachmann-Wettbewerb teilgenommen hatte. Diese Erzählung ist für die Handlung im Roman jedoch entbehrlich und wurde in diesen hineinjustiert. Der Rahmen wurde gewechselt (in der Version für den Bachmann-Wettbewerb handelte es sich um eine personale Erzählung, die Geburtstagsfeier der Protagonistin Sophie), die Binnengeschichte ist dieselbe. Beuse demonstriert hier modulares Schreiben und das Einpassen erzählerischer Versatzstücke in unterschiedliche Medien.

Schon im Text der Erzählung geht es um das Jonglieren mit Medien zu je verschiedenen Zwecken, vorderhand um Fotos (vgl. den Titel »Verschlußzeit«) und das Notizbuch des Großvaters der Erzählerin, dessen Krankheit sein Gedächtnis mehr und mehr angreift. Am Ende hat auch Beuses kleine Erzählung mehrere Medien durchlaufen und liegt zudem schon im Jahr 2000 in drei verschiedenen Büchern gedruckt vor. »Verschlußzeit« lief (1) im Fernsehen (26.6.1999); war (2) auf der Website des Bachmannpreises abrufbar,[27] in verschiedenen Formaten, u. a. als Real-Audio-Stream; wurde (3) umgehend in das Internetprojekt NULL aufgenommen[28] und gelangte daher (4) in das im Jahr 2000 erschienene gedruckte NULL-Buch;[29] erschien (5) natürlich im Bachmann-Sammelband des Jahres 1999[30] und wurde von ihrem Autor (6) als Binnenerzählung im Roman Kometen[31] verwertet.


6. Alban Nikolai Herbsts Projekt »Die Dschungel« und die Literarizität von Internettexten

Das Jonglieren mit den Medien kann auch zu einer Verwirrung um die Literarizität von Internettexten führen. Daher zum Schluss noch ein Beispiel für ein Missverständnis im Zusammenhang mit einer Textinszenierung im Internet.

Seit Juni 2004 führt Alban Nikolai Herbst sein Weblog »Die Dschungel. Anderswelt«. Er veröffentlicht darin täglich in verschiedenen Rubriken u. a. seine Tagesplanungen, Notate, Entwürfe, nutzt es aber vor allem als Begleitmedium für den entstehenden dritten Teil seiner »Anderswelt«-Trilogie.

Im Juli 2005 hat sich Herbst bei der Deutschen Bücherei Leipzig um Aufnahme seines Weblogs in die Liste für deren Digitalisierungsvorhaben beworben. Kurz vorher war die Neufassung des Gesetzes über die Deutsche Bibliothek vermeldet worden, die zum Ziel hat, »den Sammelauftrag der Bibliothek auf die als Netzpublikationen veröffentlichten Medienwerke zu erweitern«[32].

Natürlich erscheint Herbsts Bewerbung zunächst genau als das Gegenteil etwa des Thomas Mann’schen Understatements, mit dem dieser auf seine für die Nachwelt gebündelten Tagebücher gekritzelt hatte »Without any literary value«.[33] Die Antwortmail der Deutschen Bücherei ist dann aber ebenfalls problematisch.

»Nach den Informationen in Ihrer Mail beabsichtigen Sie, Ihre Website als Gesamtpublikation und das von Ihnen veröffentlichte Weblog Die Dschungel. Anderswelt anzumelden und zu übermitteln.

Die auf Ihrer Website vorgehaltenen Daten geben vor allem Auskunft über Ihre Person und Ihre Aktivitäten. Das Weblog ist eine tagebuchartige Sammlung von persönlichen Notizen, Gedanken und Kommentaren. Bitte haben Sie Verständnis, daß wir unseren Sammelrichtlinien entsprechend diese Website und das Weblog nicht archivieren können.«[34]

Natürlich ist es verständlich, dass die Deutsche Bücherei nicht jedes Allerweltsblog literarisch adeln will, indem sie es in den Digitalisierungskanon aufnimmt. Es ist ja auch nicht ihre Aufgabe, eine allumfassende Suchmaschine für deutschsprachige Internettexte zu liefern. Aber wenn die Absage in Sachen Alban Nikolai Herbst so deutlich ausfällt, was hätte die Deutsche Bücherei zu Goetz’ Abfall für alle gesagt? Auch nur ein normales Tagebuch?

Herbsts Antwort führt dann direkt in die Diskussion um die Literarizität von Internettexten, die hier aber nicht vertieft werden soll:

»Nebenbei bemerkt, sind ganz bewußt in die Rubrik »Tagebuch« auch Geschehnisse eingebaut, die auf die dort geschilderte Weise überhaupt nicht geschehen, sondern ihrerseits erfunden sind.«[35]

Immerhin findet sich inzwischen (Oktober 2005) in der Navigationsleiste des Weblogs der Hinweis: »Die Dschungel. Anderswelt werden von der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main bibliografiert.«

Am 12. Juli vermerkt Herbst, dass er nicht an »ARGO«, so der Titel des entstehenden dritten »Anderswelt«-Teils, gearbeitet hat: »Sondern damit beschäftigt, Wikipedia um Informationen über die Villa San Michele und Axel Munthes Roman zu bereichern.«[36] Unter http://de.wikipedia.org/wiki/The_story_of_San_Michele kann man dann Herbsts dabei benutzte IP-Adresse nachsehen, und siehe da: Unter derselben IP wurde am selben Tag u. a. der Eintrag zum Stichwort ›Alban Nikolai Herbst‹ geändert, und zwar innerhalb von zwei Stunden insgesamt neun Mal. Der Auto(r)inszenierung ist im Internet also ganz neuer Raum gegeben.




[1]  Vgl. dazu etwa Jürgen Daiber: »Miss Latex, Harry Potter und der verrückte Affe – Zum (noch) ungeordneten Verhältnis von digitaler Literatur und Literaturwissenschaft«. In: Roberto Simanowski (Hrsg.): Literatur.digital. München 2002, S. 98f. – Das Ausbleiben eines »Netz-« bzw. »Online-Ulysses«, das auch Daiber hier bemängelt, wurde ursprünglich von Hermann Rotermund formuliert, bei der Auswertung des von der Wochenzeitung Die Zeit und IBM ausgelobten 2. Internet-Literaturwettbewerbs 1997.

[2]  Heiner Link. In: Forum der 13, 11.3.2000. http://www.nordkolleg.de/forum/archiv/archiv16.htm (1.10.2005).

[3]  Ein Begriff von Boris Groys. Die Veröffentlichung von Büchern, also das Schreiben vor dem Netz, habe bedeutet, »sich der Kommunikation zu entziehen, sich jenseits des unmittelbaren kommunikativen Zusammenhangs zu stellen, aus der Gemeinschaft der Kommunizierenden auszutreten, seinen Text und sich selbst zu exkommunizieren«. – B. G.: »Der Autor im Netz«. In: Stefan Bollmann/Christiane Heibach (Hrsg.): Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur. Mannheim 1996, S. 381-387, hier S. 381-382.

[4]  Vgl. Claudius Seidl: »Kommando Tony Manero«. In: Marcel Hartges (Hrsg.): Pop Technik Poesie. Die nächste Generation. Reinbek 1996, S. 22-27.

[5]  Vgl. Benjamin von Stuckrad-Barre: Soloalbum. 12. Aufl. Köln 2000, S. 113.

[6]  Jörg Sundermeier: »Es hört nicht auf« [Rezension von »Im Krebsgang«]. In: Jungle World Nr. 9 vom 20.2.2002.

[7]  Vgl. Johannes Ullmaier: Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz 2001, S. 11. – Ullmaier betont übrigens, dass es sich um Skalen handelt und nicht von vornherein klar ist, welches Ende der Skala das »poppigere« sei.

[8]  Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2003, S. 13.

[9]  Vgl. ders.: »‹ Das Populäre. Was heißt denn das?‹ Rainald Goetz’ ›Abfall für alle‹ «. In: Heinz Ludwig Arnold/Jörgen Schäfer (Hrsg.): Pop-Literatur. München 2003, S. 158-171.

[10] Rainald Goetz: Abfall für alle. Roman eines Jahres. Frankfurt a. M. 1999, S. 357.

[11] Peter Gendolla/Jörgen Schäfer: »Vernetztes Probehandeln. Literatur im Zeitalter der permanenten Mutabilität«. In: Jörg Dünne u. a. (Hrsg.): Internet und digitale Medien in der Romanistik. Theorie – Ästhetik – Praxis (= PhiN [Philologie im Netz], Beiheft 2/2004), S. 23. http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft2/b2t06.htm (1.10.2005).

[12] Thomas Hettche: [E-Mail an Sabine Scholl.] In: T. H./Jana Hensel (Hrsg.): NULL. Literatur im Netz. Köln 2000, S. 32.

[13] In: Forum der 13, 28.9.1999. http://www.nordkolleg.de/forum/archiv/archiv1.htm (1.10.2005).

[14] In: Forum der 13, 30.9.1999. http://www.nordkolleg.de/forum/archiv/archiv1.htm (1.10.2005).

[15] Sebastian Domsch: »Das loop ich mir«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 268 vom 17.11.2005.

[16] Iris Radisch: »Einsam sein ist scheiße. Der neue www.Gesamtautor.de tritt als Gruppe auf«. In: Die Zeit Nr. 11 vom 9.3.2000.

[17] Heiner Link. In: Forum der 13, 11.3.2000. http://www.nordkolleg.de/forum/archiv/archiv16.htm (1.10.2005).

[19] Vgl. Aram Lintzel: »Was ist drin? Von akademischen und anderen Weihen im virtuellen Raum«. In: Literaturen Nr. 10/2000, S. 144.

[21] Diese Selbstbezeichnung fand sich seinerzeit unter http://www.ampool.de/index2.htm, wo im Stil einer Enzyklopädie das Projekt pool beschrieben wurde. Die Domain ›ampool.de‹ wurde lange nach Beendigung des Projekts wieder freigegeben und gehört heute nicht mehr den Initiatoren.

[22] Lintzel (Anm. 19), S. 144.

[24] Vgl. Sebastian Korn: »Ein Herrenpelz am Pool«. In: kressreport Nr. 45/2000 vom 10.11.2000, S. 12.

[25] Die Domain ist nach einem juristischen Nachspiel (mit dem Kracht nichts zu tun hatte) nun übrigens die offizielle Domain der Zeitschrift.

[26] Stefan Beuse: Kometen. Köln 2000, S. 99.

[28] http://www.dumontverlag.de/null/beuse/text5.htm – Der Text ist dort nicht mehr zugänglich (1.10.2005).

[29] Stefan Beuse: »Verschlußzeit«. In: Hettche/Hensel (Hrsg.) (Anm. 12), S. 221-225.

[30] Ders.: »Verschlußzeit«. In: Robert Schindel (Hrsg.): Klagenfurter Texte. Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1999. München/Zürich 1999, S. 52-60.

[31] Beuse (Anm. 26), S. 99-105.

[32] Heise-Newsticker vom 11.5.2005. http://www.heise.de/newsticker/meldung/59483 (1.10.2005).

[33] Zitiert nach Peter de Mendelssohn: »Vorbemerkungen des Herausgebers«. In: Thomas Mann: Tagebücher 1933-1934. Frankfurt a. M. 1977, S. V-XXII, hier S. XIII.

[34] Die Antwortmail ist gezeichnet mit »i. A. Petra Fischer«. http://albannikolaiherbst.twoday.net/20050729/ (1.10.2005).

[35] Ebd.