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Juni 2007
Robert Mießner
für satt.org

Der Kampf nach dem Sieg
Werner Bräunig “Rummelplatz”

Werner Bräunig
Werner Bräunig
Foto © Billhardt/Camera Work

1963 erschien im Verlag Neues Leben, Ost-Berlin, eine schlicht “Auftakt 1963” betitelte Lyriksammlung. In dem schmalen Bändchen, dessen Design am Rande jeden Style-Narren vor Neid erblassen ließe, ein kurzes Gedicht Werner Lindemanns (der Vater Till Lindemanns übrigens, aber das ist eine andere, lange Geschichte). Er habe keine Angst mehr, ohne Fleisch, Brot und Wein dazustehen, schreibt der spätere Kinderbuchautor da. Auch sein Nachbar habe keine Angst mehr, hungern zu müssen. Lindemann schließt: “Ich habe nur Angst, / So satt zu sein / Wie mein Nachbar.” Ebenso in dem Taschenbuch vertreten ist einer, der auch nicht gesetzt werden wollte, zufrieden werden konnte: Werner Bräunig, Jahrgang 1934, Sohn der Stadt Chemnitz, früher gerne das sächsische Manchester genannt. Quartier, nicht Kulisse, für Arbeiter und Industrie – Bräunig hat sein Thema auf der Straße, in den Werkhallen und Bergwerksschächten gefunden.

Daß er Schriftsteller werden würde, wurde kaum am elterlichen Küchentisch beschlossen. Der Vater Kraftfahrer, die Mutter Näherin. Das Kind besucht die Volksschule. Mißtraut den Erwachsenen, die nach 1945 in Starre und Streit verfallen. Bräunig, der sich auf den Dachboden flüchtet und Abenteuerhefte liest, erfährt eine frühe Förderung durch einen seiner Lehrer. Sie bricht schlagartig ab in dem Moment, da die Schulzeit endet. Auf den Jugendlichen warten eine unbefriedigende und abgebrochene Schlosserlehre, Schwarzmarktgeschäfte und Erziehungsheim. Als er es verlassen darf, ist Deutschland geteilt. Bräunig versucht sein Glück im Westen, wird Gelegenheitsarbeiter in Hannover, Celle und Hamburg. Kehrt bald in den Osten zurück, verdient sein Geld als Schweißer und Bergmann. Und mit Schmuggelfahrten in den Westen, die ihn ein zweites Mal hinter Gitter bringen. Der Weg nach unten scheint vorgezeichnet.


Werner Bräuning:
Rummelplatz

Aufbau Verlag, Berlin 2007

Werner Bräunig: Rummelplatz

768 Seiten, 24,95 €
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Was Bräunig davon abhält, ihn zu Ende zu gehen, ist das Schreiben. Ein Wandzeitungsartikel oder ein Leserbrief, genau läßt es sich nicht mehr rekonstruieren, steht am Anfang einer kurzen, rasanten Laufbahn als Autor. Für sich selbst hatte er bereits Gedichte geschrieben, jetzt tritt Bräunig an die Öffentlichkeit. Als Journalist, als Volkskorrespondent, wie die Berufsbezeichnung lautet. Seine Produktivität wird hektisch – und der junge Mann, mittlerweile das erste Mal verheiratet und Vater, wird bemerkt. Es sind die fünfziger Jahre in Ostdeutschland. Die Literatur will erforscht werden. Die, die in ihr zumeist nur als leidende Subjekte vorkamen, Arbeiter, Bildungsferne hieße es heute, sollen sie neu schreiben. Bräunig ist zur richtigen Zeit vor Ort. Er wird Mitglied einer Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren. Heiner Müller, der einmal einen der zahlreichen Zirkel schreibender Arbeiter besuchte, sollte sich in seiner Autobiographie leicht ironisch erinnern: “Er bestand aus schreibenden Sekretärinnen, schreibenden Buchhaltern und zwei Renommierarbeitern.” Aber: “Einige ernst zu nehmende Autoren sind aus diesen Zirkeln hervorgegangen. Werner Bräunig zum Beispiel. Bräunig hat einen Wismut-Roman geschrieben, der nicht erschienen ist, weil er die Realität beschrieb.”

Die Wismut: Staat im Staat DDR, Bergbaugebiet unter sowjetischer Führung. Mit eigenen Regeln und Pässen. Die Abschottung hat ihren Grund: Uran wird abgebaut, Uran für die Atombomben Moskaus. Bräunig wird die Wismut den “unbekannten Bezirk” nennen. Andere Beteiligte reden von “Deutsch Wild-West” oder “Klein-Texas”. Bezahlung und Versorgung sind außergewöhnlich, dafür ist die Arbeit eine Schinderei. Versehen wird sie sowohl von Zwangsverpflichteten als auch von Menschen, denen der Knochenjob die letzte Chance versprach: Glückssucher, Kriegsheimkehrer, Wurzellose. Bräunig kannte die Wismut aus eigener Anschauung. Er hatte als Fördermann in Johanngeorgenstadt gearbeitet. Für kurze Zeit nur, aber ausreichend genug, um Atmosphäre aufzunehmen, Eindrücke zu sammeln. Als er 1961 mit der Arbeit an seinem ersten und einzigen Roman beginnt, kann er daraus schöpfen. Seine frühen Erzählungen sind bereits hauptsächlich in der abgezirkelten Zone angesiedelt. Aber Bräunig will mehr als nur einen Bergarbeiterroman schreiben. Ein Generationenroman soll das Buch, anfangs noch “Der eiserne Vorhang” genannt, werden, exemplarisch sprechend für die damals circa Dreißigjährigen. Alt genug, den Krieg noch bewusst miterlebt zu haben, zu jung, sich in Verbitterung häuslich einzurichten: “Ein Faß mußte aufgemacht werden, ein Königreich für ein Faß. Woher aber sollten sie ihr Faß nehmen, der unbefriedigte Schipper dreitausendelf, der zum Dreckfresser degradierte Jungsiegfried, woher? Woher, wenn die Menschheit plötzlich nur so vor Friedfertigkeit strahlte? Wenn die Moral ihr aus allen Knopflöchern quoll? Wenn sie ihre Ruhe haben wollte und alles niedersegelte, was nur irgend aus der Norm ragte? Da saßen sie nun, die Spätgeborenen des großdeutschen Schlußverkaufs, und eine Epidemie in Frömmigkeit war ausgebrochen über Nacht, und die Impotenten freuten sich halbtot, da saßen sie nun und suchten den entgötterten Himmel ab und den gestohlenen Horizont, suchten die Abenteuer und den enormen Wind, und suchten in Wahrheit ein Vaterland.”

Es ist den Helden, und ihrer gibt es nicht wenige in diesem erstaunlichen Buch, nicht vergönnt, ein Vaterland zu finden. Stattdessen finden sie Dreck und Schlamm, kurzes Glück und gewaltsamen Tod. Sie träumen noch vom Schlaf und wissen: “Hier besaß jeder nur sich selbst.” Sie finden sich wieder auf Demonstrationen und in Kneipenschlägereien. Der Rummelplatz, auf dem sie ihre anarchische Freizeit verbringen, steht auf einem ehemaligen Friedhof. Ein Akademikersohn wird zum Brigadier und rebelliert gegen den Vater. Kommunisten und Widerstandskämpfer müssen plötzlich einen ganzen Bergwerksbetrieb leiten, erleben, wie Karriere und Kompromiß an die Stelle von Aufbauwillen und Enthusiasmus treten. Können sich nur schwer daran gewöhnen, daß sie plötzlich Erster Klasse reisen dürfen. In Zügen, die mit Braunkohle befeuert werden. Westlich der Elbe verläßt ein Journalist, gescheitert beim Versuch, gegen die fünfziger Jahre und die Restauration anzuschreiben, das Deutschland der Steinkohle, hinter sich Kleriker, Industrielle, Würdenträger und eine entfremdete Geliebte zurücklassend. “Die Wahrheit eines Sieges, der den Kampf nicht beendete”, wollte Bräunig schildern. “Rummelplatz”, der Handlungsbogen erstreckt sich von der Gründung der DDR bis zum 17. Juni 1953, ist ein zutiefst parteiisches Buch. Freunde hat sich sein Autor damit nicht gemacht. Gerade nicht bei denen, die er als seine Verbündete betrachtete.

Jahrelang hatte er an den Kapiteln, an den mäandernden Handlungssträngen des Buches, das selber gelegentlich wie ein Steinbruch wirkt, gefeilt, Formulierungen und Episoden überarbeitet. Als 1965 ein Vorabdruck in der NDL (Neue Deutsche Literatur) erscheint, kommt es zum Skandal. Helden werden gebraucht. Nur, Bräunigs Figuren sind zu sehr gebrochen, ihr Handeln, Hoffen und Scheitern zu realistisch geschildert. Unter dem aberwitzigen Vorwurf, obszön geschrieben zu haben (liest man die entsprechenden Passagen, will sich stilles Mitleid mit den Zensoren einstellen), befördert die Kulturbürokratie den Autor und sein Werk ins Aus, Fürsprachen von Anna Seghers und Christa Wolf ignorierend. Werner Bräunig, dem die Literatur Aufgabe und Ausweg war, tritt einen anderen Weg nach unten an. In den Alkohol und das Verstummen. 1976 stirbt er mit 42 Jahren in Halle-Neustadt an einer Lungenentzündung. Dreißig Jahre später ist die deutsche Literatur um einen weißen Fleck ärmer. Es war höchste Zeit.