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Februar 2008
Anne Hahn
für satt.org

Vergessen ist die Ohnmacht der Seele

Marc Buhl wirft seinen neuen Roman 375
auf das DDR-Aufarbeitungs-Schlachtfeld


„Wo bin ich hier?“, fragte Cremer.
„In Badenweiler.“
„Wo?“
„Bei Freiburg.“
„Im Westen?“ Vielleicht nur ein Trick. Nicht zu ernst nehmen. Der andere wollte testen, wie er reagierte. Ob er sich freute und anfangen würde zu reden. Darauf fiel er aber sicher nicht rein.
„Im Westen wovon?“, fragte Teske irritiert.

Marc Buhl: drei sieben fünf. Roman.

Marc Buhl hat sich in seiner schriftstellerischen Laufbahn bereits mit einigen historischen „Großthemen“ beschäftigt. Der genialische Schelmenkrimi „Der rote Domino“ (2002) setzte sich mit der möglichen Bisexualität Goethes auseinander und machte sich kräftig über den Meister und seine Nachlassverwalter lustig. Drei Jahre später legte er das abenteuerliche Leben des norwegischen Schnellläufers Ernst Mensen („Rashida oder der Lauf zu den Quellen des Nils“) vor, der ein Getriebener war, der nicht nur in die Unruhen um 1848 verwickelt und abgestraft war, sondern vor sich selbst davonlief. Nur ein Jahr danach erschien Buhls „Billardzimmer“, das einer Lebenslüge aus dem Jahre 1945 nachgeht. Verstrickungen interessieren den vierzigjährigen Autor, der neben Germanistik und Anglistik auch Betriebswirtschaft und Politik studierte. Er ist viel gereist, wirklich und unwirklich. Seine Phantasie lässt ihn durch Zeiten und Menschen wandern und macht auch nicht halt vor der jüngsten Geschichte.

Phantastisch mutet die Ausgangskonstellation des soeben erschienen Romans „Drei Sieben Fünf“ an. Ein Mann schießt sich den Kopf weg. Die Kugel durchquert seinen Schädel. Aber er überlebt und erwacht Wochen, Monate später in einer Reha-Klinik, wo oben zitiertes Gespräch mit seinem Neuropsychologen stattfindet. Paul Cremer heißt der dem Autor gleichaltrige Mann, dem 18 Jahre seines Lebens fehlen. Er wähnt sich im Jahre 1989 in einer Untersuchungshaftanstalt der Staatsicherheit der DDR, in Berlin Hohenschönhausen. Buhl versteckt viele Metaphern in diesem flott lesbaren Report einer Erinnerungssuche. Cremer hat 18 Jahre verloren, so viele, wie tatsächlich seit dem Mauerfall vergangen sind. Volljährig ist unsere neue Zeit geworden. Hannah heißt die Geliebte Pauls, deren Name ein Palindrom bildet und die Leserichtung wechseln kann. Wie Cremer sie betrachtet. Hannah durchduftet allgegenwärtig den Roman. In ihr schlummert der Sommer, die Liebe und die wirkliche Jugend Pauls, aber auch der Anlass für Leid und Verrat. Thomas heißen der alte Freund und der neue fremde Sohn.

Paul Cremer war ein durchaus durchschnittlicher DDR-Bürger. Marc Buhl formt ihn als Angepassten, Träumer, Liebhaber, Danebensteher. Das ist gut gewählt, denn die Mehrheit des kleineren Teil Deutschlands hat funktioniert, sonst hätte das System nicht so lange gehalten. Im Jahre 1989 kulminierte schließlich nicht nur der Unmut der Ausreise- und Reisewilligen, Konsum- und Reformwilligen, auch der Überwachungsstaat arbeitete auf Hochtouren. Die Gefängnisse und Untersuchungshaftanstalten waren überfüllt mit politischen Gefangenen, deren Vergehen vom Protestieren mit Kerzen bis zum Grenzübertrittsversuch und staatsfeindlicher Verschwörung reichten. Letzteres betraf den ahnungslosen Paul, der von seinem Moped weg verhaftet wird. Parallel zur umdunkelten Aufwachphase des älter gewordenen Antiqiutätenhändlers erzählt Buhl die Monate der Haft. Paul erinnert sich, aber exakt an die Ereignisse des Jahre 89, die anscheinend nur durch den Hirnstreifschuss heraufbeschworen werden. Er kann die Jetzt-Zeit nicht einordnen, kennt keine Angela Merkel, keine SMS und MTV-Realität. Das ist so witzig wie traurig. Buhl gelingt es meisterhaft, die Atmosphäre eines Zeitlosen aufzubauen, der über einen schweren Stein in seiner eigenen Geschichte stolpert und nicht mehr den Weg weiß, der ihn hinausführen sollte. Wie verarbeiten wir Traumen? Wie Träume? Ist ein wie lang auch immer erlebter Alptraum hinter Gittern und Glasbausteinen zu bewältigen? Buhl hat sich für seine Recherche an den Ort des Geschehens begeben. In seiner Danksagung taucht der Name des umstrittenen Leiters der Gedenkstätte Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, auf. Ein ehemaliger Linker aus Westdeutschland, der sich aufgemacht hat, die Opfer des Stalinismus zu rächen. Mit gezücktem Degen und mitunter fragwürdigen Methoden. Die Gedenkstätte in einem der größten Neubauviertel Deutschlands beschäftigt bis heute ehemalige Insassen, die auf Führungen von der 45jährigen Geschichte des Leids berichten. Paul Cremer hat diese Tiefen ausgelotet, Zelle, Verhörraum, Dusche, Freigangkäfig, die schwarze Zelle im Keller. Alles ist echt, so oder ähnlich widerfuhr es Hunderten.

Vergessen ist die Ohnmacht der Seele, schrieb Monika Maron in einer anrührenden Liebesgeschichte. Das trifft auch und vor allem auf diesen Roman zu. Ohnmächtig hat Paul Cremer die Jahre nach der Wende, dem Ende des Systems überlebt. War weit weg geflohen, bis in den südlichsten Zipfels des zusammenwachsenden Landes. Suchte sich eine neue Familie, eine Frau, zeugte ein Kind und arbeitete mit alten Möbeln, deren Erinnerungen er retuschierte. Restauration der Vergangenheit. Aber die Bombe in seinem Leib tickte, bis er wegschießen wollte, was ihn nicht losließ.

„Es gab zwei Sorten von Gehirnen, die sie hier behandelten. Die einen hatte das Schicksal lädiert. Es gab Tumore, Unfälle, Schlaganfälle, Entzündungen oder Vergiftungen. Die anderen hatten sich selber geschädigt. Das Bewußtsein, das die Hirne erzeugten, wandte sich gegen sie selbst. Der Geist wollte sich auslöschen und das Fleisch mit dazu, aber häufig war das Fleisch zu stark, um zu sterben.“ Der Neuropsychologe Teske hat Mitleid mit Cremer. Und ist neugierig. Langsam führen er und die Schwestern seiner Station Cremer in die neue Zeit. Ein Mitpatient, lakonisch „der Tumor“ genannt, liefert Cremer Bilder für sein beginnendes Leben, von dem er selbst Abschied nimmt. Sein Sterben ist vorprogrammiert, so reflektiert dieser Levin, was für ihn Glück bedeutete. Während Cremer nur Glück in seiner damaligen Liebe zu Hannah kennt. Levin geht, Cremer wird entlassen. Die Familie, die seine sein soll, weiß mit dem Lebensmüden nicht viel anzufangen. Herrlich malt Buhl die Großmutterfigur, eine verschrobene waldschratige Alte mit seltsam glatter Haut. Fee und Hexe zugleich, die Mythen und Flüche ernster nimmt als Fleisch und Licht.

Hier gehört er nicht her, merkt Cremer bald und verlässt das fremde Heim. Nicht ohne einen Samen des Verstehens in den jungen Sohn zu pflanzen, den er vor seinem Kopfschuss offensichtlich gar nicht wahrgenommen hatte.

Cremer geht nach Berlin und sucht nach den Spuren der Monate, die so frisch und blutig in ihm ruhen, als wäre es eben geschehen. Als wäre er der 22jährige, den man überlistet. Dessen Geliebte ihn mit Flugblättern im Gepäck nach Leipzig schickt, die keinen Brief ins Gefängnis schreibt und ihn nie besucht. „Wie gern würde er jetzt eine Gitarre halten. Noch lieber aber hielt er Hannah. Jetzt ihr Haar riechen. Ihre Brüste berühren. Eins ihrer Gedichte lesen...“

Cremer ist kein Held. In der Untersuchungshaft schweigt er, aber vor allem deshalb, weil er nicht begreift, was sie ihm vorwerfen. Womit er schaden kann. Er träumt sich zu Hannah und erkennt allmählich, dass sie sein Schwachpunkt ist. „Nur wenn er sie aufgab, würde er das hier überleben. Nur dann hatte er so etwas wie eine Chance.“ Am Ende seiner Haftzeit, die etwas märchenhaft einer tatsächlichen Auflösung gleichkommt, ist Cremers Widerstand gebrochen. Er will aussagen, will alles und jeden verraten. Da ist es zu spät, der Staat am Ende, die Mauern gefallen. Und doch hat er sich zu weit dem Bösen genähert, dem Vernehmer geglaubt. Sich den Häschern ergeben. Brutal erklärt sein Folterknecht in einem der letzten Gespräche, was bleiben wird von diesem Leiden: „Ihre Geschichte? Wer will die schon hören? Kein Mensch interessiert sich für die Opfer. Wer sich ein Opfer anschaut, blickt in seine eigene Hilflosigkeit. Das will niemand. Nichts ist dem Menschen so ekelhaft wie Schwäche. Die Opfer werden wieder geopfert. Warten Sie´s ab...“ Ist es wirklich so? Lässt Buhl seinen Cremer als Verlierer enden? Das soll nicht verraten werden, aber eins steht fest. In diesem Roman ist eine Frau das eigentliche Opfer. Die Frau des Antiquitätenhändlers, die Mutter des Jungen. Christiane Cremer. Sie bleibt gebrochen zurück, erhält keine Antworten. Muss sich benutzt fühlen, Ersatzfrau in einem Ersatzleben. Für sie ist der Suizid ihres Mannes vollzogen.

Überflüssig erscheint der gesamte Einschub einer Spanienkämpferszenerie, die auf den Hof des Knastes in Hohenschönhausen mündet. Darauf hätte Buhl getrost verzichten können, auf die Kraft des Hauptstranges vertrauen sollen.

Die Sprache Marc Buhls ist zart und konkret. Hart und gemein, wo von Folter und Verhör die Rede ist. Leise, wo die Liebe Platz findet, melancholisch und poetisch. „Ihr Mund war halb geöffnet, als trinke sie das Licht der Sonne.“ Hannah, immer wieder diese junge Frau, die dichtet und denkt. Nicht hinnehmen will, was sich Cremer noch gar nicht offenbart hat. Er holt nach seinem Wiedererwachen alles nach, was ohnmächtig in ihm schlummerte. Sieht die Hauswand vor Hannahs Wohnung, in der fünf Einschusslöcher aus dem Krieg waren, in die er seine Fingerkuppen legte, wenn er sie besuchte, denn das brachte Glück.

Marc Buhls Roman fühlt sich tief in das Ende der DDR, aber auch in das Ende einer arglosen Jugend ein, das überall geschehen kann, wo Allmacht Einzelner regiert. Dass sein Paul Cremer als Selbst-Versagender, als Antiheld eingeführt wird, ist ein kolossaler Trick. Er geht auf, die Identifikation mit dem Mann, der nur in der dritten Person auftritt, muss erkämpft werden. Er lässt den Leser nicht mehr los, der sich mit wachsender Begeisterung durch die dramatisch gesteigerte Schnittkonstruktion zweier Zeitstränge frisst. Es ist ein erstaunliches Glück, dass ein wacher Geist wie Buhl die Fähigkeit ausspielt, sich in Zeiten und Gesellschaftsordnungen hineinzufühlen und zu denken, als wäre er dabeigewesen. Als wäre es gerade eben vorbei. Danke für diesen poetischen und ambivalenten Beitrag zu einer allzu trocken geführten Verwalterdebatte!



Marc Buhl: drei sieben fünf
Roman. Eichborn Verlag [Frankfurt am Main] 2008
288 S., 19,95 €
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