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April 2008
Frank Fischer
für satt.org

Dieser Jubiläumsartikel ist am 7. April 2008 in der »Süddeutschen Zeitung« erschienen. Die satt.org-Version entspricht dem Manuskript vor der redaktionellen Bearbeitung. Brawes Dramen, eine kommentierte Bibliografie sowie digitalisierte Sekundärliteratur finden sich in den »Brawe Ressourcen«.
Titelblatt der Werkausgabe »Die Trauerspiele des Herrn Joachim Wilhelm von Brawe«
Titelblatt der Werkausgabe »Die Trauerspiele des Herrn Joachim Wilhelm von Brawe«, erschienen 1768 in Berlin, herausgegeben von Karl Gotthelf Lessing und Karl Wilhelm Ramler.

Triumph der Rache

Vor 250 Jahren starb mit gerade 20 Jahren der Dramatiker Joachim Wilhelm von Brawe in Dresden. In seinen Stücken bringen fundamentalistische Rächer die bürgerliche Gesellschaft ins Wanken.

So jung wird selten gestorben in der deutschen Literaturgeschichte. Verglichen mit ihm sind Büchner, Hauff und Novalis alte Männer geworden.

Sein Leben ist daher schnell erzählt: Joachim Wilhelm von Brawe wird am 4. Februar 1738 in Weißenfels geboren, zieht mit seiner Familie 1743 nach Dresden, besucht ab 1750 die Fürstenschule Pforta bei Naumburg, immatrikuliert sich 1755 an der Universität Leipzig, wo er Jura studiert, und stirbt am 7. April 1758.

Brawe muss wirklich sehr früh den Worten verfallen sein: Eine zeitgenössische Biografie überliefert die Anekdote, dass er »den Homer siebzehnmal hinter einander« gelesen hat. Nur mit einem derartigen Enthusiasmus ist es auch zu erklären, dass er bereits im Teenageralter zwei vollständig ausgearbeitete Fünfakter vorlegt, die im 18. Jahrhundert häufig gespielt werden und mehrere Auflagen und Übersetzungen erleben.

Sein Erstling, das im Norden Englands angesiedelte bürgerliche Trauerspiel »Der Freygeist«, ist ein finsteres Stück über einen falschen Freund, der eine perfide Vergeltungsorgie zu ihrem blutigen Finale führt. Der gesellschaftlich ausgegrenzte Henley rächt sich am Sympathieträger Clerdon, indem er dessen Lebensglück zerstört, ihn zum Mörder macht und schließlich in den Selbstmord treibt. Dass er seiner eigenen Intrige zum Opfer fällt, stört ihn nicht: »Ich sterbe! – doch mein Feind stirbt mir zur Seiten – ich bin gerächt – o Triumph! o Rache!« Das sind die letzten Worte, und sie klingen so gar nicht nach einem Stück der Aufklärungszeit. Das zeitgenössische Publikum dürfte einigermaßen irritiert gewesen sein.

»Brutus«, Brawes zweites und letztes Werk, spielt im Jahr 42 v. Chr., am Tag der Entscheidungsschlacht bei Philippi. Zur Vorgeschichte gehört das Schicksal der Samniten, eines italischen Volks, das von Rom mehrfach geschlagen und von Sulla schließlich nahezu ausgerottet wurde. Die Überlebenden wurden zwangsromanisiert, unter ihnen auch Publius, der sich zum Schein angepasst und es dabei sogar bis zu einem Botenposten bei den Triumvirn gebracht hat. In dieser Position kann er von langer Hand seinen Racheakt planen, der das Ende der römischen Republik herbeiführen wird. Er ist ein Schläfer, der auf seinen Moment wartet. Nach vollendeter Tat wird er sich bekennen: »Euch bekämpfte nur verdeckt / Mein Haß, da öffentlich stets wider ihn / Roms stolzer Genius den Sieg erstritt. / Mir ward dieß stolze Bürgerrecht, das ihr / Mir gabt, zu eurem Fall ein günstger Weg.«

Brawes Rächer erhoffen sich keinerlei materiellen Gewinn, sondern lediglich die Wiederherstellung der Ehre, deren Verletzung ihren späteren Opfern nicht einmal bewusst ist. Sie gleichen darin dem radikalen Verlierer, dem Typus des modernen Selbstmordattentäters, den Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay »Schreckens Männer« beschrieben hat: »Der Versager mag sich mit seinem Los abfinden und resignieren, das Opfer Genugtuung fordern, der Besiegte sich auf die nächste Runde vorbereiten. Der radikale Verlierer sondert sich ab, wird unsichtbar, hütet sein Phantasma, sammelt seine Energie und wartet auf seine Stunde.« Im »Brutus« ist es letztlich die gesamte römische Gesellschaft, die für die Unterwerfung der Samniten büßen soll. Publius’ Intrige entpuppt sich als erfolgreiches politisches Attentat, er stirbt im Triumph: »Dieß Feld voll Blut / Erschlagner Römer ist mein Ehrenmaal.«

Den fundamentalistischen Rachevisionen stellt Brawe Tugendbolde entgegen, die nur pathetischen Moralismus von sich geben. Ihr Scheitern zeigt, dass derlei Floskeln nicht mehr ausreichen, wenn der Gesellschaft das Äußerste droht – der Angriff eines unberechenbaren Feindes, der anders tickt als die Majorität der Staatsbürger.

Brawe galt der Germanistik lange als »Schüler Lessings«. Inzwischen wird diese Einschätzung revidiert und auf das wegweisende Potenzial von Brawes Stücken hingewiesen. Der darin beschriebene Furor, die eskalierenden Vater-Sohn-Konflikte und die elliptisch-fiebrige Sprache im »Brutus« scheinen bereits den Sturm und Drang vorwegzunehmen. Auch formal steht der junge Autor am Beginn einer literarischen Zeitenwende. Der in reimlosen fünfhebigen Jamben verfasste »Brutus« streitet sich mit Wielands »Lady Johanna Gray« bis heute darum, das erste deutsche Blankversdrama überhaupt zu sein.

Mit Anfang 20 steht Brawe kurz vor dem Abschluss seines Jurastudiums und hat sogar schon eine Stelle als Regierungsrat in Merseburg sicher. Er stirbt jedoch bei einem Besuch in Dresden sehr plötzlich an einem hitzigen Fieber. »Was hätte ein so feuriger und fleißiger Dichter der Bühne nicht für Ehre machen können, wenn er länger gelebt hätte!«, ruft ihm Karl Wilhelm Ramler nach, der Herausgeber seiner Stücke. Ein berechtigter Gedanke.