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12. Juli 2008
Anne Hahn
für satt.org
Virginia Woolf: Die Feder wittert die Fährte

Gedankenkomprimat höchster Güte

Ein wiederentdeckter autobiografischer Essay von Virginia Woolf

„... aber da war sie immer, in dem gemeinsamen, sehr amüsanten, sehr stimulierenden und von Menschen wimmelnden Familienleben, und sie war Mittelpunkt, sie war jene Welt. Das zeigte sich am 5. Mai 1895. Denn nach diesem Tag war von dieser Welt nichts mehr geblieben. An dem Morgen, als sie starb, lehnte ich mich aus dem Kinderzimmerfenster. Es war ungefähr sechs Uhr, glaube ich. Ich sah Dr. Seton fortgehen. Er ging mit gesenktem Kopf, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Ich sah die Tauben niedergleiten und sich setzen. Ein Gefühl der Ruhe, der Trauer und der Endgültigkeit überkam mich. Es war ein wunderschöner, blauer Frühlingsmorgen und sehr still. Das läßt das Gefühl wieder aufleben, daß alles an ein Ende gekommen war.“

In diesen Zeilen lebt das Geheimnis einer wundervollen Schreiberin. Virginia Woolf verlor ihre Mutter, den Mittelpunkt ihres Lebens, im Alter von 13 Jahren. Dieses Ereignis sollte ihr eigenes Leben überschatten – bis zu ihrem Freitod im Jahre 1941. Der Manesse-Verlag veröffentlicht nun einen autobiographischen Essay, der 1976 erstmalig zusammen mit anderen unveröffentlichten Texten unter dem Titel „Moments of Being“ editiert wurde. Das warf Probleme auf. Die Arbeit an den Aufzeichnungen war nicht abgeschlossen, einige Passagen lagen handschriftlich vor, mit Änderungen und Ergänzungen versehen. Dass dieses Kleinod in seiner handlichen Form dennoch seinen Weg zum deutschsprachigen Leser findet, ist so wunderbar wie ergreifend. Virginia Woolf ist in der „Skizze der Vergangenheit“ äußerst persönlich, schildert frühe Eindrücke, Freuden, Erkenntnisse, Leid und Tod. Die Sommeraufenthalte der Familie in St. Ives beschreibt sie ebenso episch wie ihre Schwestern und Brüder oder den seltsamen Charakter des Vaters. Farben, Gerüche und Gedanken, Gespräche, Gesten und Spiele, alles wird genauestens und liebevoll gemessen, gewogen und befunden.

Besonders wertvoll dürften die Beschreibungen der Autorin sein, die Einblick in ihre eigene Werkstatt erlauben. Wann beginnt ein schöpferisches Leben? Welche Motive prägen schon das Kind, wie erweckt der Erwachsene sie wieder zum Leben? Ausgelöst durch den frühen Tod der Mutter erfuhr Virginia Woolf eine gewisse Hellsichtigkeit. Sie war sensibilisiert und sann in diesem kurz vor ihrem Tod begonnenen Essay darüber nach. Zeitlos, weise und anmutig gestaltet, ersteht eine Innenschau, die betroffen macht.

Die Schwestern Virginia und Nessa gingen einmal in den Kensington Gardens spazieren, eine Gedicht-Anthologie mit sich führend. „Ich schlug das Buch auf und begann irgendein Gedicht zu lesen. Und augenblicklich und zum ersten Mal verstand ich das Gedicht … Es war, als würde es vollkommen durchsichtig. Ich hatte ein Gefühl, daß Wörter eine Transparenz bekommen, wenn sie aufhörten, Wörter zu sein … Es läßt sich mit dem vergleichen, was ich manchmal empfunden habe, wenn ich schreibe: Die Feder wittert die Fährte.“



Virginia Woolf: Die Feder wittert die Fährte
Eine Skizze der Vergangenheit
Aus dem Englischen von Elizabeth Gilbert
Manesse Verlag Zürich 2008. 158 S., 14,90 €
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