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28. August 2008 | Gunther Nickel für satt.org |
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Das Künstlerdrama in der deutsch-
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1 Uwe Japp (2004, S. 20-26) hat betont, die Geschichte des deutschen Künstlerdramas beginne nicht erst im Sturm und Drang (so noch Goldschmidt 1925, S. 11), sondern mit Christian Felix Weißes Komödie „Die Poeten nach der Mode“ (1757) und (dem bei Goldschmidt freilich schon erwähnten) Lustspiel „Der Dichter“ von Joseph Freiherr von Petrasch (1765). Wenn man so will, greift Dürrenmatt, natürlich unter gänzlich veränderten Voraussetzungen, den kritischen Impuls vor allem Weißes gegen den Literaturbetrieb wieder auf. 2 Die Namensgebung ist zweifellos ein Seitenhieb gegen Andreas Okopenko (geb. 1930), der nach einem Studium der Chemie in der Industrie arbeitete, sich von 1950 an daneben literarisch betätigte und seinen Beruf 1968 schließlich zugunsten einer Existenz als freier Schriftsteller aufgab. |
„FERY: Du könntest ja in der Zeitung was über ihn schreiben ... irgend a ganz windige Interpretation seiner Baumschulen ... was?
REICHER: Man könnte ihn so auf kleinen Rousseau ... der Zöllner aus St. Pölten hinbosseln [...].
FERY: Oder na ... man macht überhaupt eine große Künstlerpersönlichkeit aus ihm ...
[...]
REICHER: Und dann machst a riesige Vernissage mit ihm, wost ihn dann vorführst wie an ... wie an zugestutztn Pudl auf einer Hundeausstellung.
[...]
FERY: Na, man müßte den Burschen so lenken, daß er einfach alles macht, dann ... daß er sich auch zum Beispiel umbringt, daß man einfach seine Umwelt so ... so ... arrangiert, daß er nicht anders kann wie sich umbringen.“
Ziel des Unternehmens ist die Herstellung eines vermarktbaren Kunstprodukts mit Hilfe von „a bisserl Schmä“. Doch Blasi Okopenko erweist sich als nicht domestizierbar, mehr noch: Er vollzieht alsbald an Fery, was dieser sich für ihn ausgedacht hat. Erst spannt er ihm die Freundin aus. Und als sie von ihm ein Kind erwartet, verlässt er sie zwar nicht, heiratet aber deren Mutter. Der am Anfang des Stück noch kühl berechnende Fery bleibt angesichts dieser Entwicklung nicht mehr Herr seiner Emotionen. Zu einem ersten Eklat kommt es bei der Hochzeitsfeier. Als Blasi Okopenko schließlich bei einer skurrilen Party „Change-Tanzspiele“ inszeniert, bei denen unter anderen er und Fery die Rollen tauschen, erscheint Fery die Lage derart aussichtslos, dass er sich auf’s Abort begibt und erhängt.
Ein Konflikt zwischen Künstler und Gesellschaft ist in diesem Stück noch nicht einmal am Rande Thema. Voraussetzung der Handlung ist zwar ein Kunstmarkt, der auch allerlei Allotria goutiert, auf dem es zumindest den Protagonisten möglich erscheint, sogar Bilder wie „Tanne, vier Kilometer von St. Pölten“ zu plazieren, aber der Kunstmarkt steht keineswegs im Zentrum des Stücks. Dargestellt wird in erster Linie ein subkulturelles Milieu, in dem sich keine neuen Perspektiven abzeichnen, weshalb man sich mit Musik-, Alkohol- und Drogenkonsum (und hin- und wieder auch mit Malen, Schreiben oder Lesen) die Zeit totschlägt. „Wir machen eh nix. Und wenn dann vielleicht nur ein kurzer Abtrunk irgendwo ...“, sagt der Schriftsteller Charly zu Beginn von Bauers erstem Erfolgsstück „Magic Afternoon“. Und wenn Charly von seiner Freundin Birgit aufgefordert wird, statt nur herumzuhängen, vielleicht wieder einmal etwas zu schreiben, antwortet er: „I kann höchstens ein Stück, wo zwei auf der Bühne sitzen und Platten hören ... a Platten nach der andern ...“ Entsprechend ist die Haltung seines Kollegen Joe: „Na, wenn man was machen würde, dann ganz was lockeres ... So, wie wir jetzt reden ... sowas vielleicht, das ist angenehm ... aber sonst ...“ Diese Dialoge sind charakteristisch für alle Stücke Bauers. Immer sind die dramatis personae antriebs- und ziellos. Daher geraten seine Künstler auch nicht als Künstler in Konflikt mit dem Leben oder der Gesellschaft.
Man hat Bauers Stücke als naturalistische Milieudarstellung gewürdigt. Sie seien indes – so Peter Handke über „Magic Afternoon“ – „kein photographisches Idyll“, sondern bewirkten „eine Art von Halluzination des Zuschauers vor lauter Übergenauigkeit“. Angesichts von „Change“ betonte auch Botho Strauss, die „scheinbar kopierende Wirklichkeitsdarstellung“ habe
„ganz andere Motive als der alte literarische Naturalismus, der etwa die Erfahrung nicht machte, daß man sich gezwungen sieht, die äußeren realistischen Erscheinungen und Lebensformen selbst als Kunstvorgänge zu rezipieren. Denn: je exakter die natürlichen Vorgänge auf der Bühne in Bauers Stücken nachgebildet werden, um so deutlicher klären sie die Illusion, die über ihre Natürlichkeit verhängt ist.“
Wenn aber die Realität nur als manipulierte und damit künstliche Realität erfahrbar wird, ist die tradierte Unterscheidung von Kunst und Leben hinfällig. In seinem Stück „Silvester oder Das Massaker im Hotel Sacher“ zieht Bauer aus dieser Überlegung die Konsequenz. Dort muss ein Dramatiker eine Auftragsarbeit fertigstellen, ist mit ihr aber überfordert, lädt deshalb einige Bekannte ins Wiener Hotel Sacher ein und nimmt ihre Gespräche heimlich mit einem Tonband auf. Aus der Transkription der Aufzeichnungen besteht schließlich das Stück, das er abliefert, und aus nichts anderem besteht letztlich auch Bauers Drama.
Ein gesellschaftskritischer Effekt ergibt sich hier ausschließlich durch das, was Erving Goffman als „Framing“, als Rahmung, bezeichnet hat. Indem Bauer eine Kopie der Wirklichkeit, die nur eine vermittelte Wirklichkeit ist, auf der Bühne ausstellt, wird dem Zuschauer eine Haltung zu den gezeigten Verhältnissen abverlangt, die Bauer selbst – im Gegensatz etwa zu Peter Weiss – verweigert. Diese Zuschauerhaltung bestand entweder in empörter Ablehnung durch das Abonnentenpublikum oder in rückhaltloser Begeisterung mit der Begründung, dass sich der „Alltag der Subkultur“ im bürgerlichen Theater einen kulturellen Raum erobert habe, der bis dato nur „der Sinngebung ins Höhere’“ (Dieter Baacke) vorbehalten gewesen sei.
In der Rezeption seiner Stücke erlebte Bauer also durchaus eine Dichotomie zwischen Kunst und Gesellschaft. Doch in den 1970er Jahren verlor sich allmählich das Provokante seines Verfahrens. Das liegt unter anderem daran, dass es zwar nicht ohne Raffinesse ist, aber unbestimmt bleibt. Das Resultat lässt sich wie bei einer Kippfigur gleichermaßen als Affirmation wie als Kritik der dargestellten Zustände begreifen und bleibt in beiden Lesarten ohne die geringste Andeutung einer Alternative.
Albert Ostermaiers „The Making Of. B-Movie“ entstand als Auftragsarbeit des Bayerischen Staatsschauspiels zum 100. Geburtstag Brechts. Lose griff er Motive aus Brechts dramatischem Erstling „Baal“ auf, das wie bei Ostermaier eine Auseinandersetzung mit einem Künstlerdrama ist: mit Hanns Johsts „Der Einsame“. Hanns Johst wiederum thematisierte in seinem Stück Leben und frühen Tod des Dramatikers Christian Dietrich Grabbe und zeichnete ihn ähnlich wie Peter Weiss Hölderlin: als einsamen, visionären Dichter, auf den seine Zeitgenossen mit Unverständnis reagierten. Brecht konterkarierte diese idealistische Verklärung und machte aus Baal einen anarchischen, sich oft rüpelhaft benehmenden, asozialen, auf Eigennutz und Triebbefriedigung bedachten „lyrischen Dichter“.
In Ostermaiers Stück überredet der Schauspieler Silber den nach Afrika geflüchteten Kollegen Andree nach Europa zurückzukehren und dort einen jederzeit zu äußerster Gewalt bereiten Soldaten zu spielen, der Gedichte und Stücke schreibt; „Ab morgen bist du eine Kampfmaschine, die schreibt, kein Lyriker, der sich nicht verkaufen kann.“ Silber verspricht für die Texte und das Marketing zu sorgen. Andrees Rolle besteht nur darin, der von Silber konstruierten Figur ein Gesicht zu geben.
Nachdem der Pakt geschlossen ist, wechselt Andree seinen Namen und nennt sich Brom. An der Härte, Asozialität und Unbedingtheit, die Brom nach Silbers Willen zu verkörpern hat, ergötzt sich sofort die Kulturschickeria. „Ein Dichter kälter als der Tod“, schwärmt etwa der Kritiker Müller-Schuppen. Brom eignet sich seine Rolle jedoch mit einer Konsequenz an, dass niemand Silber ernstnimmt, als er von einem „Fake“ spricht und Broms wahre Identität enthüllt. So wie Blasi Okopenko in Wolfgang Bauers „Change“ macht sich auch bei Ostermaier die Kunst- bzw. Künstlerfigur selbständig, und wie Fery bei Bauer kommt Silber bei Ostermaier am Ende ums Leben (hier allerdings nicht von eigener Hand).
Brom ist aber nicht nur eine aktualisierte Neuauflage von Brechts Baal, denn Ostermaier griff für das Stück auch auf einen Literaturskandal der 1950er Jahre zurück: Unter dem Namen George Forestier hatte der Lyriker, Erzähler und Verlagslektor Karl Emerich Krämer zwei Gedichtbände herausgegeben und in seinem Nachwort behauptet, es handle sich um die Verse eines Elsässers, der als Fremdenlegionär in Indochina gekämpft habe und dort seit Herbst 1951 verschollen sei. Da die Gedichte große Beachtung gefunden hatten, war die Aufregung groß, als der Verlag im Herbst 1955 diese Fälschung bekannt machte.
Um die Handlung, die durch ihren Zitat- und Anspielungscharakter ohnehin schon jedes Verdachts der „Authentizität“ beraubt ist, noch weiter zu fiktionalisieren, gab Ostermaier seiner Geschichte von Brom und Silber zusätzlich noch einen Rahmen, der auch die etwas plakative Namenswahl3 erklärt:
3 Brom und Silber sind unverzichtbare Elemente der Photochemie, also der materiellen Basis jeder Filmproduktion vor Beginn des digitalen Zeitalters. |
„Wenn die Zuschauer den Raum betreten, sehen sie ein Fernsehteam, das anscheinend Vorbereitungen trifft, das Stück aufzuzeichnen. Am Rande der Bühne ist ein Regiepult und Schneideplatz installiert sowie eine Videoleinwand, auf der die Zuschauer die Schnitte und Bildregie des Fernsehteams verfolgen können. Die Kamerafahrten werden zum Alternativauge des Betrachters, es entsteht ein gezielter Konflikt zwischen der real und live erlebten, sinnlich erfaßten Bühnenwirklichkeit und der medialen Umsetzung und Manipulation.“
Der Effekt ist eine Episierung. Das Bühnengeschehen, das die Inszenierung einer Inszenierung zeigt, wird wiederum Gegenstand einer Verfilmung, die selbst auch nur eine Inszenierung ist. Was Ostermaier dergestalt in Szene setzte, war das Resultat, zu dem Brecht in seiner Schrift „Der Dreigroschenprozeß“ aus dem Jahr 1931 gekommen war: Das „Kunstwerk als adäquater Ausdruck einer Persönlichkeit“ wird im medialisierten kapitalistischen Kulturbetrieb genauso zu einer Chimäre wie die Vorstellung von einem authentischen Individuum. Trotz der mehrfachen perspektivischen Brechung ergibt sich die Aporie, einen Kulturbetrieb in kritischer Absicht vorzuführen, an dem der Autor selbst partizipiert, zum Beispiel mit dem Stück „The Making Of. B-Movie“. Diesem Widerspruch entging auch der Regisseur der Inszenierung am Kölner Schauspielhaus, Volker Hesse, nicht. Er plazierte Statisten, die wie durchschnittliche Theaterbesucher aussahen, ins Publikum, die der Darsteller des Brom dann verbal und körperlich traktierte, wodurch das Stück zu einem „Publikumsschocker“ wurde. Zwar gelang auf diese Weise die Provokation, aber gerade darin bestand auch ihr affirmatives Moment, diente sie doch innerhalb der Theaterszene damit vor allem zur Akkumulation symbolischen Kapitals.
Man hat Ostermaier vorgeworfen, er habe mit „bildungshuberischen Verschlüsselreizen“ die älteren und mit seiner „Remix-Technik“ die jüngeren Theaterzuschauer für sich einnehmen wollen und doch nur einen „an den zerrauften Haaren der Ideenlosigkeit herbeigezogene[n] Plot“ (Christopher Schmidt) zustande gebracht. Auf diese Weise könnte man auch Brecht seine zahlreichen literarischen Anleihen in „Baal“ vorhalten, obwohl sie für die beabsichtigte Kontrafaktur zur expressionistischen Feier des Genies durchaus legitim erscheinen. Nicht Ostermaiers Arbeitsweise an sich ist daher fragwürdig, sondern das prekäre Verhältnis von „The Making Of. B-Movie“ zu „Baal“ als einem der literarischen Prätexte. „Das Stück Baal’“, notierte Brecht in seinem 1953 veröffentlichten Aufsatz „Bei Durchsicht meiner ersten Stücke“, „mag denen, die nicht gelernt haben, dialektisch zu denken, allerhand Schwierigkeiten bereiten. Sie werden darin kaum etwas anderes als die Verherrlichung nackter Ichsucht erblicken.“ Im Gegensatz zu Johsts Heroisierung des verkannten Genies zielte Brecht auf den untrennbaren und durchaus tragischen Zusammenhang von Genuss und (Selbst-)Zerstörung. Diese Dialektik kommt aber in Ostermaiers Verschränkung von „Baal“-Motiven und Brechts Kritik an der Kulturindustrie abhanden.
Ostermaier spitzt in seinem Stück Phänomene des Kulturbetriebs parodistisch zu. Die inhärente Medienkritik ist aber von großer Allgemeinheit, damit ungenau und in nuce das Gegenteil dessen, was Rainald Goetz von einer gelungenen Medienkritik erwartet. In Goetz’ „Erzählung“ genanntem Text „Rave“ heißt es dazu:
„Daß [...] jeder Schreiber immer denkt, weil er natürlich so viel mit anderen Schreibern über andere Schreiber und die Medien überhaupt redet: nichts wäre leichter, als ein bißchen lässige Medienkritik. Und dann immer irrt. Weil es ziemlich schwierig ist, das wirklich gut zu machen. Entweder man wird superpedantisch, seriös und dröge, und ficht das Ding wirklich argumentativ durch oder, Normalfall, es wird der zu kritisierende Text, weil man ihn für falsch hält, in einem ironischen, zitategespickten Nacherzählsound referiert, der dauernd so tut, als wäre die Argumentationsarbeit längst geleistet und allen eh bekannt, weshalb man sie sich, so die soundmäßige Unterstellung, gleich ganz sparen kann, und man macht es sich gerade auf dieser Nullbasis schön schlaff dahinlallend, so richtig schön gemütlich, bis plötzlich – huch, jetzt schon? – der Text auf einmal aus ist. Das war es dann. Und das ist eben zu wenig. Statt Argumente bietet man nur: diesen schlechten, extrem billigen und abgedroschenen Sound gemeinsamer Konsense, von Herrschenden kollektiv dissidierender Dissenskonsense. Das ist der Spaß für die ganz Armen, die geistige Vergnügung für die Allerärmsten im Geiste.“
Eine argumentative Medienkritik, wie Goetz sie hier fordert, liefert er in seinen Büchern selbst kaum. Statt dessen begibt er sich in literarisch unerschlossene Bereiche der Wirklichkeit, um sie schreibend zu rekonstruieren. Das geschieht mit dem Bewusstsein, dass dieses Unternehmen scheitern muss. Zumindest ausschnitthaft will Goetz trotzdem versuchen, durch Protokollierung und Kommentar Wirklichkeit abzubilden und Momente von Intensität festzuhalten. „Was ist es, was total bekiffte Leute beim Tanzen zu Techno-Musik empfinden?“ ist zum Beispiel eine Frage, der er in „Rave“ nachgeht, und zwar so:
„Er schaute hoch, er nickte und fühlte sich gedacht vom Bum-bum-bum des Beat. Und der große Bumbum sagte: eins eins eins –
und eins und eins und
eins eins eins –
und –
geil geil geil geil geil ...
Er sah Hardy und Leksie, Gesichter und Blicke, im Takt gestolpert, gedrängelt, gestoßen, berührt. Sah das Kaputte, Beglückte, Vertrauen und Zartes, die vielen Signale, schnell, kurz, ganz klar, vom nächsten schon wieder verwischt, in Wellen von Sympathie. Er schaute und tanzte und sah das Schöne.
Vom Rand her kamen die Beine und Lichter, auf Füßen, in Flashs, die Schritte und Bässe, die Flächen und das Gezischel, die Gleichungen und Funktionen einer höheren Mathematik.
Er war jetzt selber die Musik.“
Goetz’ Verfahren ist eine Art mimetischer Nachvollzug, bei dem er sich auch nicht scheut, auf abgegriffene Klischees zurückzugreifen, wenn das dazu dienen kann, Erfahrungen erfahrbar zu machen, Momente festzuhalten, in denen das medial vernetzte Subjekt vielleicht nicht authentisch ist, sich aber doch authentisch fühlt, und damit zumindest ein Effekt der Unmittelbarkeit entsteht. Eine hergestellter Effekt der Unmittelbarkeit ist jedoch keineswegs Unmittelbarkeit, sondern Resultat einer Vermittlung. Dieses Problem stellt sich nicht erst bei der Rezeption ein, sondern ist schon eines der Produktion: Der Akt des Aufzeichnens kann nie zeitlich kongruent mit den Bewusstseinsakten sein, die festgehalten werden sollen. Selbst das Schreiben über das, was man gerade schreibt, ist eine Rekonstruktion „du temps perdu“. Goetz weicht diesem Problem mit einer obsessiven Strategie immer neuer Anläufe aus, ohne dass dadurch je gelingen könnte, die Distanz zur Realität in der Rekonstruktion aufzuheben. Das Obsessive geht soweit, dass er zuweilen einfach mitschreibt, was er gerade im Fernsehen sieht. In seinem Tagebuch „Abfall für alle“ berichtet er auch von Gesprächen auf der Buchmesse, die er sofort schriftlich fixiert: „Die Notiererei nervt natürlich alle, auf die Dauer, klar. Zerstört immer neu die Unmittelbarkeit der Situation, für die anderen, für mich besteht die eh nicht.“
„Rave“ und „Abfall für Alle“ sind zwei Teile des fünfteiligen Projekts „Heute Morgen“, das 1999 mit „Rave“ begonnen, im Jahr darauf mit dem Theaterstück „Jeff Koons“ und Texten und Bildern zur Nacht unter dem Titel „Celebration“ fortgesetzt wurde. Danach folgte zunächst „Abfall für Alle“, ein zuerst im Internet veröffentlichtes Tagebuch eines Jahres, und schließlich das Tagebuch „Dekonspiratione“. Das Gesamtprojekt besteht also aus der Kombination heterogener Formen, die in ihrem Mit- und Gegeneinander eine „fünfbändige Geschichte“ der Gegenwart ergeben sollen.
„Jeff Koons“ handelt von einem „Wochenende Kunst“. „Es geht“, erläutert Goetz in „Rave“, „um die politischen Aspekte künstlerischer Praxis in einem gewissermaßen klassischen Künstlerdrama, unter den gegenwärtigen Bedingungen, heute, also nach 1989’. Was immer das heißt.“ Das Stück demonstriert Haltungen, die Sprecher zur Kunst und zum Kunstmarkt einnehmen. Mal sind sie fasziniert, mal gelangweilt oder betreiben einfach nur „modern talking“:
„halloo
ja klar
du auch?
natürlich ja
Mensch
Mann
ganz toll
und wie
ich freue mich
ja ja, na ja
es geht, und du?
hallo
halloo
sehr schön
ich auch“
Das Stück zeigt diverse Situationen vor, während und nach einer Vernissage. Nirgends lässt sich eine bewertende Instanz ausmachen. Es gibt nicht einmal Personen, eine Entwicklung: Man kann lediglich verschiedene Sprechsituationen unterscheiden: dialogische und monologische. Wer jeweils spricht, wird im Text nicht festgelegt. Selbst den Titelhelden gibt es nicht. Der Name des Konzeptkünstlers Jeff Koons steht zwar auf dem Umschlag der Buchausgabe, aber er kommt als Rolle im Stück nicht vor. Dass Koons daher – wie der Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier meinte – zu einem „Helden des reinen Herzens, des großen Aufatmens (,ä, ä, geil, geil, ja, ja’)“ werde, lässt sich am Text nur schwer festmachen.
Auch der formale Aufbau ist verwirrend: Das Stück beginnt auf S. 15 mit dem dritten Akt, der erste folgt auf S. 37, der fünfte steht nach dem siebten. Auf diese und andere Eigentümlichkeiten reagierten Regisseure mit diametral entgegengesetzten Realisierungskonzepten: Bei einer Inszenierung in Bonn wurde das Stück den Bühnenkonventionen angepaßt, mit einem hinzuerfundenen Jeff Koons als Protagonisten samt seiner Frau als Muse. Erzählt wurde eine lineare Geschichte, die von Schaffenskrise, Kunstproduktion und Kunstrezeption handelt. Bei der Uraufführung am Hamburger Schauspielhaus, die nur wenige Wochen vor der Bonner Inszenierung zu sehen war, wurde der Text auf insgesamt neun Sprecher verteilt. Diese Verteilung wirkte beliebig, eine Handlung war nicht erkennbar. Der Text trat in seiner Bedeutung hinter anderen Elementen der Bühnenrealisation zurück.
So unterschiedlich das Stück in Bonn und Hamburg auch inszeniert wurde, es war jedes Mal ein Nachvollzug, bei dem sich der Zuschauer in Distanz zum Geschehen befand. Eben darin besteht das „Klassische“ des Stücks: Es bleibt Guckkastentheater. Wie Wolfgang Bauer okkupiert Goetz mit „Jeff Koons“ lediglich einen Raum der Hochkultur und verschafft sich damit eine Legitimation seiner privilegierten Sprecherposition als Autor. Proklamiert wird von ihm aber das Erleben des Jetzt. Und das erreicht man bei diesem Stück nur, wenn man es als Darstellung eines Konglomerats von disparaten Haltungen begreift, die in keine Werthierarchie eingeordnet sind, also als Darstellung von Haltungen, die dann, wenn man sie selbst probeweise nacheinander einnimmt, eine innere Bewegung entstehen lassen. Diese Bewegung besteht entweder in einer fortwährenden Negation, einer fortwährenden Affirmation oder – ad libitum – einem Wechsel von Affirmation und Negation. Allenfalls im Vollzug dieser Bewegung kann im Umgang mit diesem Text ein Jetzt entstehen. Verlangt ist mithin eine experimentelle Haltung, wie sie Goetz selbst einnimmt, von dem der Literaturkritiker Hubert Winkels einmal treffend sagte, er verhalte sich wie ein „Ethnologe, der auf die Seite des Untersuchungsobjekts wechseln möchte“. Das geht zwar gar nicht, aber aus dieser Spannung zwischen Absicht und Vermögen gewinnen Goetz’ Texte in den besten Momenten ihre Intensität. Sein Dilemma sieht er selbst darin:
„Daß genau das schon der Fehler ist: sich als Beobachter der Gegenwart zu sehen. Daß das genau der Unterschied zur Vergangenheit wäre: daß man die nur beobachten kann, die Gegenwart aber selber nur sein kann, leben muß. Und daß das das Anstrengende und Schwierige ist, die Zeit mehr oder weniger einfach durch sich durch zu lassen. Für die Gegenwart kann man sich nicht interessieren. Die Gegenwart ist ein Zerstörungs- und Erschöpfungsvorgang in einem, dem man ausgeliefert ist, sich hingibt, der man dadurch WIRD.“
Dieses Dilemma, das verblüffende Parallelen zu dem von Brechts „Baal“ aufweist, ist erkenntnisfördernd, weil es die Opposition von Literatur und Leben im Künstlerdrama auf eine neue Weise radikalisiert. Es zeigt, dass es eine Gegenwartsliteratur im strengen Sinn des Wortes nicht geben kann. Literatur kommt stets zu spät oder ist ihrer Zeit voraus, sie verfehlt aber immer das Jetzt. Für performative Künste gilt das auf den ersten Blick nicht notwendig. Wie weit sie dadurch in der Lage sind, Authentizität zum Ausdruck zu verhelfen, ist das Thema in Falk Richters „Gott ist ein DJ“, das 1999 am Mainzer Staatstheater uraufgeführt wurde.
Noch bevor die erste Folge von „Big Brother“ über deutsche Fernsehschirme flimmerte – die erste Staffel lief vom 28. Februar bis zum 9. Juni 2000 –, führte Richter in seinem Stück ein Künstlerpaar vor, das nonstop von Kameras umgeben ist, die alles, was die beiden Protagonisten tun – sie heißen lediglich ER und SIE –, live ins Internet übertragen. Ihre Einzimmerwohnung ist in einer Kunsthalle nachgebaut. Dort bewegen sie sich innerhalb einer Spielvereinbarung, die sie immer wieder auf die Frage führt: „Was ist echt, was nicht?“ SIE verkündet einmal ein neues, ihrer Lage angepasstes Identitätskonzept, das das Authentische nicht aufgibt:
„Es geht darum, denke ich, gegen den Zugriff der Medien immun zu werden, unfaßbar, ungreifbar, sich zu bewegen, wirklich zu surfen, und zwar wirklich echt zwischen unterschiedlichen selbst konzipierten Identitäten zu surfen, in unregelmäßigen Abständen unterschiedliche Formen anzunehmen ... Im Grunde ein intelligentes Davonlaufen, Schnellersein, sich neue Identitäten jederzeit irgendwo neu aufzubauen, schnell sein, perfekt sein, intelligent sein, wie ein Molekül unterschiedliche Verbindungen eingehen zu können, wie ein Virus resistent gegen jeglichen Zugriff zu werden, trotzdem jederzeit unerkannt in jedes System eindringen zu können ... praktisch gesehen: Widersprüchlichkeit produzieren und dabei unterhaltsam bleiben.“
Diese Figurenrede steht allerdings in Anführungszeichen. Sie ist ein Kommentar, den SIE vor einer Leinwand „wie ein Popstar am Mikro“ spricht. Dabei sieht man SIE auf der Leinwand „ins Unendliche verdoppelt“. Ihr Versuch einer Neubestimmung von Identität und Authentizität, die Ähnlichkeiten mit den Bemühungen von Rainald Goetz hat, wird so ad absurdum geführt. Es bleibt nur eine Sehnsucht nach dem Echten, und auch die ist möglicherweise nur eine Simulation. Jedenfalls lässt sich, wie der Prolog des Stücks zeigt, das Echte von einer Imitation nicht mehr unterscheiden:
„In der Nacht wurde jemand im Valley erschossen, und ich hatte das Fenster weit geöffnet und den Fernseher angeschaltet, einen Tex-Mex-Remake von Tarantino, so daß man den echten Schuß nicht von dem Tex-Mex-Schuß unterscheiden kann, und alle, die diesen Track hören, glauben, das sei ein Sound, den ich aus dem Fernsehen herauskopiert hätte, aber für diesen Sound mußte wirklich jemand sein Leben lassen, dies ist ein echter Sound, für den wirklich jemand gestorben ist, da floß viel Blut durch den Wüstensand, damit dieser Sound jetzt so brutal fett in unseren Ohren klingen kann.“
Es scheint jedoch einen Moment zu geben, in dem – um es in der Terminologie Jean Baudrillards zu formulieren – das Simulakrum die Realität nicht vollständig verdrängen kann:
„SIE: Können wir vielleicht über was Echtes reden? Unser Kind vielleicht? Ja? Nein? Abtreiben? Drinlassen? Ja? Nein? [...] Willst du das Kind, dieses Kind, dieses Kind, was uns da irgendwie passiert ist, hallo, willst Du das?“
Am Ende des Stücks aber wird auch die Realität der Schwangerschaft fraglich:
„SIE Für dich würde ich jedem ganz brutal echt den Hals aufschlitzen, alles vernichten, alles neu erfinden, alles wiederentdecken, alles wiederholen, alles kopieren, alles alles alles
ER Und?
SIE Und was?
ER Das Kind?
SIE Welches Kind?
Er küßt Sie, Blackout.
Ende.“
Der offene Schluss eskamotiert die Möglichkeit des Einbruchs des Realen in die Simulation nicht. Geboren werden, Gebären und Sterben bleiben archaische Reste, die medial ausgebeutet werden können, die aber, am eigenen Leib erfahren, doch „echt“ bleiben. Aber mehr als die Möglichkeit zu solchen archaischen Fragmenten von Realität findet sich in der Welt von ER und SIE nicht. Beide gehen in ihrer Rollenidentität soweit auf, dass die Differenz zu einer anderen, „wahren“ Identität selbst innerhalb der Beziehung zwischen ER und SIE immer fraglich bleibt. Als Künstler verfolgen Sie ein Programm, bei dem Kunst und Wirklichkeit nicht deckungsgleich sind, aber die Differenz für niemanden mehr erkennbar ist.
Wie Wolfgang Bauer setzt Falk Richter darauf, dass durch schlichte Performation im Rahmen des Guckkastentheaters eine Metaebene entsteht und so im Zuschauer eine kritische Reflexion des Gezeigten induziert wird. Wie Albert Ostermaier entgeht er nicht der Aporie, selbst zu reproduzieren, was er zu kritisieren beabsichtigt. In seinem Konzept „Das System“ versucht er daher einen Weg aus einer lediglich zirkulär bleibenden Spiegelung medialisierter Realität ins Unendliche zu finden. Sein Ziel ist dabei die Rückgewinnung einer kritischen Distanz und damit einer neuen intellektuellen Souveränität. Daher hegt er auch Vorbehalte gegen die poststrukturalistische Theoriebildung, namentlich gegenüber Foucault, Derrida und Baudrillard, die dafür gesorgt hätten, dass die Europäer vollkommen handlungsunfähig geworden seien, weil sie nichts mehr als real wahrnähmen.
Eine zentrale Rolle spielte bei dieser Auseinandersetzung auch ein affirmatives Moment, das dieser Systemkritik immanent ist: „Ich bin“, erklärte Richter in einem Gespräch mit Anja Dürrschmidt, „ja Teil des westlichen Systems, lebe und arbeite hier, verdiene mein Geld mit der ästhetisch kritischen Wiedergabe des Neoliberalismus – wie verhalte ich mich dazu, begreife ich mich als Täter und Opfer gleichzeitig?“ Gesellschaftskritische Kunst ist immer auch Teilhabe, Partizipation an einem Subsystem Kunst, in dem radikale kritische Gesten nicht nur in Kauf genommen, sondern erwartet werden. Richter beschäftige sich daher, so Peter Laudenbach, mit dem „Paradox, dem keine Systemkritik entgeht, die im Dagegensein vor allem darum kämpft, Dabeizusein.“ Diesen Mechanismus beschreibt und analysiert auch Pierre Bourdieu in seinem Buch „Les règles de l’art“ (1992, dt.: 1999). Welche Konsequenzen aus der Einsicht in seine Funktionsweise zu ziehen wären, bleibt bei Richter jedoch genauso offen wie schon bei Ostermaier.
Ich hatte zwar ursprünglich nicht vor, im Widerspruch zu Herbert Marcuse dem Künstlerdrama gegenüber dem Künstlerroman literarisch den Vorzug zu geben, aber es ergibt sich doch phänomenologisch das Resultat, dass die Künstlerromane der Gegenwart und deren Derivate ein Problem verschleiern, das in Künstlerdramen der jüngeren Zeit auf unterschiedliche Weise wenigstens zum Ausdruck kommt, dass nämlich, wie es schon bei Hegel heißt,
„in unserem gegenwärtigen Weltzustande das Subjekt [sich] allerdings nach dieser oder jener Seite hin aus sich selber handeln [kann], aber jeder Einzelne [...] doch, wie er sich wenden und drehen möge, einer bestehenden Ordnung der Gesellschaft an[gehört] und [...] nicht als die selbständige, totale und zugleich individuell lebendige Gestalt dieser Gesellschaft selber [erscheint], sondern nur als ein beschränktes Glied derselben. Er handelt deshalb auch nur als befangen in derselben, und das Interesse an solcher Gestalt wie der Gehalt ihrer Zwecke und Tätigkeiten ist unendlich partikulär.“
Was Hegel hier für das Subjekt der Moderne im allgemeinen feststellt, gilt ohne Abstriche auch für den Künstler der Moderne. Dass er sich bis in unsere Tage dennoch gern als „Wahrsager“ oder „Inkarnation des Menschen schlechthin“ oder „Inbegriff der feineren seelischen Empfindung“ (Wolfgang Ruppert) versteht und vom Publikum dergestalt auch akzeptiert wird, gehört wohl zu den mythologischen Resten in unserer säkularisierten Welt, die eine Kompensation fortbestehender gesellschaftlicher Widersprüche offenbar erleichtern.
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