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25. September 2008 | Martin Jankowski für satt.org |
Das bittre Ende eines deutschen TraumsUwe Tellkamps Roman „Der Turm“Von wegen „abgeschlossenes Sammelgebiet“: Dieses beeindruckende Alltagspanorama über die letzten Jahre der untergehenden DDR könnte man eher einen abschließenden Beitrag zur DDR-Literatur nennen, geschrieben von einem, der 1989 gerade einundzwanzig Jahre alt war. Selten wurde so detailliert und realitätsnah über die Nöte der Klein- und Möchtegernbildungsbürger in Deutschlands sowjetisiertem Osten zwischen Anpassung und Selbstbehauptung und den Untergang des real existierenden deutschen Sozialismus erzählt wie in diesem gelungenen 1000-Seiten-Schmöker. Vom Tode des sowjetischen Staatschefs Breschnjew im Jahre 1982 bis zum Mauerfall im November 1989 erhalten wir Einblick in das Leben eines opportunistischen jungen Mannes namens Christian Hoffmann und seines schöngeistigen Lektorenonkels Meno. Beide leben in die wundersame Welt des Dresdner „Weißen Hirsches“ - im Roman symbolträchtig „der Turm“ genannt - verwoben, jenes ganz besonderen Loschwitzer Wohnviertels, in dem am östlichen Elbhang der selbstverliebten Sachsenmetropole bis heute die Privilegierten und „besseren Bürger“ Dresdens in von parkähnlichen alten Gärten umgebenen Herrschaftsvillen ein vom Alltag der Normalsterblichen vermeintlich weit entferntes Leben fristen. Tellkamp thematisiert anhand dieses außergewöhnlichen gesellschaftlichen Biotops Verhältnisse und Ereignisse, die wiewohl typisch für das Leben in der DDR, in den Texten des so genannten Sozialistischen Realismus ebenso wie in den so genannten Wenderomanen der letzten Jahre selten zur Sprache kamen. Er tut dies mit einer breiten Palette an glaubhaften, wunderbar eigenwilligen Figuren und stilistisch mit großer Formenvielfalt: Von lyrischen Prosapassagen über innere Zustandsbeschreibungen, von Kolportage-Stücken über essayistische Einschübe, Tagebucheintragungen oder längere Briefsequenzen bis hin zu sitcom-artigen Dialogszenen und Cutup-Texten wird die Bandbreite erzählerischer Möglichkeiten ausgenutzt, mit enormer sensorischer Opulenz, die jedoch zumeist ihrem Gegenstand angemessen bleibt. Der Gegenstand des Romans, das sind die Widersprüche zwischen hoher Kultur und realem Sozialismus, Geist und Ideologie, individueller Selbstbehauptung und gesellschaftlicher Unterwerfung in der dekadenten Endphase der DDR. Hier wird ein Stück jüngster deutscher Geschichte in einer Komplexität erzählt, wie es literarisch bisher nur selten gelang. Die Mühe, das umfangreiche Werk zu lesen, wird belohnt mit dem Vergnügen, Entwicklungen und Innenansichten aus einer fremden bzw. untergegangenen Welt eindrucksvoll beschrieben und nachvollziehbar gestaltet zu finden - „Geschichten aus einem versunkenen Land“ lautet Tellkamps Untertitel für den Roman (in dessen zweitem Teil er auch das Vineta-Motiv anklingen lässt): Erhellende Aha-Erlebnisse über den Alltag in der ostdeutschen Dreibuchstaben-Diktatur für die einen, verblüffende So-war-es-Erlebnisse für die anderen. Im ersten Buch des Romans („Die Pädagogische Provinz“) lernen wir die abgeschiedene Wunderwelt des Dresdner „Turms“ anlässlich des Abiturjahres des Haupthelden Christian kennen und werden mit den Konflikten der verwandtschaftlich oder beruflich verbundenen Charaktere vertraut gemacht: Etwa denen von Christians Vater Richard, einem im sozialistischen Gesundheitswesen etablierten Chirurgen auf Abwegen. Oder den Umtrieben eines gewissen Professors Arbogast, einer literarischen Verarbeitung des „sozialistischen Adligen“ von Ardenne, dessen Institut am Dresdner Weißen Hirsch lag. Oder den Vorgängen in „Ostrom“, dem abgeriegelten Wohngebiet für Partei- und Staatsfunktionäre, deren oberster, ein gewisser Barsano, eine literarische Phantasie auf den einstigen Dresdner SED-Chef und heutigen Ehrenvorsitzenden der ehemaligen PDS Hans Modrow darstellt. Die Bewohner des „Turms“ hängen trotz aller sozialistischer Pflichtrhetorik leidenschaftlich einer mit dem zweiten Weltkrieg versunkenen Idee von Kultur nach, sie trauern um das alte Dresden und zitieren ihren Goethe oft und gerne – gläubiger noch, als die allgegenwärtigen Klassiker des Marxismus-Leninismus: „Dresden ... in den Musennestern/ wohnt die süße Krankheit gestern“ ... heißt es in den halb rührseligen, halb spöttischen streaming-consciousness-Sequenzen, die im Roman dem scheuen Literaten Meno zugeschrieben werden (die Tellkamp teilweise jedoch bereits im Frühjahr 2006 unter eigenen Namen und mit dem Titel „schwarzgelb“ veröffentlichte). Im zweiten Buch „Die Schwerkraft“ begleiten wir den jungen Christian Hoffmann auf seiner freiwilligen dreijährigen NVA-Ausbildung zum Panzer-Unteroffizier mit allen ihren unappetitlichen Details, wobei der junge Mann sich ernsthaft bemüht, ein „echter Lappen“ (guter Panzersoldat) zu werden und auf keinen Fall eine „Brille“ (energieloser Intellektueller) zu sein. Während Tellkamp sonst ein höchst glaubwürdiges und unterhaltsames Panoptikum an Charakteren und Szenerien entwirft, die mehr über die perfiden Unterdrückungsmechanismen der „kommoden Diktatur“ (Günter Grass) verraten, als es Tausende gut recherchierter Dokumentationen vermöchten (eben weil dank der Tellkampschen Erzählwut auch die inneren Widersprüche in all ihren Verästelungen erkennbar und nachvollziehbar werden), erstaunt es, dass ausgerechnet das Verhalten seines jugendlichen Haupthelden Christian an vielen für die Handlung entscheidenden Stellen unmotiviert oder sogar unglaubwürdig bleibt. So bleibt trotz aller dargelegten Sachzwänge emotional kaum nachvollziehbar, wieso der klassische Musik liebende, verträumte Außenseiter, der selbst den Kontakt mit Mädchen eher scheut, sich ohne inneren Kampf auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges freiwillig für drei Jahre zum Unteroffiziersdienst in der Nationalen Volksarmee verpflichtet und sich bereitwillig den dortigen Zwängen unterordnet. Schon als Abiturient bekommt er politischen Ärger, weil er, der sonst nur Weltliteratur auf höchstem Niveau schätzt und deswegen auf alle anderen herabblickt, plötzlich einen verpönten Roman aus der Nazizeit liest und dabei von seinen sozialistischen Erziehern erwischt wird. Vielfach erscheint die Anpassung Christians an die Normen des vormundschaftlichen Staats ebenso unverständlich wie seine „Ausrutscher“; es existiert eine unerklärliche Kluft zwischen seinen Beobachtungen und Gefühlen und dem, was er tut. Diese Unklarheit ist umso bedauerlicher, als eben dieser Konflikt eine treibende Kraft des gesamten Romans darstellt. Dennoch muss man sagen, dass selten ein Autor literarisch so tief in die Seele des „gelernten DDR-Bürgers“ geschaut hat. Mit Christian Hoffmann lernen wir Schritt für Schritt die allgegenwärtigen politischen Gehirnwäschemechanismen in Schule und Armee kennen, reisen ins finstere Herz der kollektiven Erziehungsdiktatur - bis ins legendäre zentrale Militärgefängnis nach Schwedt oder auf die Karbidinsel ins Chemiedreieck, wo am schmutzigen Strand der Saale Gefangene für 17 Prozent des Normallohns die übelste Drecksarbeit der maroden DDR-Industrie leisten müssen. Christian, der junge Mann mit Eigenschaften, bleibt zwischen Anpassung, innerer Emigration und spontaner Ablehnung ein rätselhafter, aber genau beobachtender Zeuge all dessen. Mit der Komplementärfigur des feinsinnigen, einzelgängerischen Lektors Meno wird auch die Problematik der Literatur im Konflikt mit der herrschenden Ideologie thematisiert: Hier bietet Tellkamp dem Leser eine theoretische Reflexion dessen, was er mit seinem Roman selbst betreibt: Eine Emanzipation literarischer Mittel gegen „vorgeschriebene“ Moden und Ideologien. An etlichen Stellen fällt auf, dass der Sprachmaler und Beschreibungsfetischist Tellkamp sich entschlossen hat, eine vergangene Epoche im heutigem Sprachduktus zu beschreiben (wie sich durch gewisse Anglizismen oder neutrale Begriffe wie Plastflasche oder Mineralwasser zeigt, die Anfang der Achtziger in der DDR definitiv nicht gebräuchlich waren), was der besseren Verständlichkeit für eine gesamtdeutsche Leserschaft halber legitim ist. Dennoch wird Tellkamp zum Chronisten verschwundener und regionaler Sprachphänomene, etwa des Dresdner Sächsischen oder des unerträglichen (und eben deshalb bisher vielleicht selten überlieferten) NVA-Deutschs – in beiden Fällen bringt die Sprachrekonstruktion einen geistigen Zugewinn: Nichts ist so entlarvend wie die Selbstdarstellung durch Sprache. Auch wenn hier und da Kleinigkeiten zu bemängeln wären (vor allem, wo das DDR-Alltagsdeutsch der Achtziger rekonstruiert wird; so wurde z.B. das damals sehr verbreitete Modewörtchen „urst“ nicht im Sinne von „gut“ als Adjektiv verwendet, sondern es hatte stets eine steigernde Funktion - synonym zu „sehr“ - und ein Adjektiv muss danach folgen, z.B. „urst gut“), mehr noch als eine Sprachchronik ist dieser Roman eine kenntnisreiche Abhandlung über eine legendäre Stadt und die Mentalität ihrer Bewohner in vielerlei Facetten („... die lieben Dresdner wollen immer nur zurück. Groß werden sie dort, wo sie etwas ,wieder’ haben ...“ lässt Tellkamp etwa den erwähnten Baron Arbogast angesichts der wiedereröffneten Semperoper sagen). Wer Dresden kennt oder es kennen lernen möchte, findet hier eine Fülle von Episoden, die die Besonderheiten dieser Stadt und ihrer Geschichte begreiflich machen. Und in den Szenen, die an der Seite des Chirurgen Richard auf turbulente Weise das Innenleben des ostdeutschen Gesundheitswesens beschreiben, treffen wir in einem Nebensatz sogar auf einen Arzt namens Tellkamp (auf den man wartet, der aber nicht eintrifft) – der Autor selbst arbeitete als Arzt, bevor er sich nach seinem Triumph beim Bachmannpreis 2004 dem beruflichen Schreiben widmete. Tellkamps Geschichte endet im phantasmagorisch strudelnden „Mahlstrom“ des Herbstes 1989, einem pathetisch expressiven Romanabschluss, wobei die sich anbahnenden gesellschaftlichen Veränderungen die Charaktere ebenso unvermittelt von außen zu erreichen scheinen, wie vorher die Tücken der Jahreszeiten oder die Launen der Funktionäre. Sie sind Beobachtende, Betroffene und clever Reagierende, niemals aber wirkliche Akteure. Andeutungen, Leerstellen und Auslassungen sind Tellkamps Sache nicht, eher im Gegenteil, er schwelgt in Beobachtungen und lässt seine Figuren immer wieder nach neuen Worten suchen, um selbst kleinste Details so deutlich wie möglich zur Sprache zu bringen („Mit den Augen saufen“ heißt es an einer Stelle). Und natürlich könnte man meinen, dass 500 Seiten (also die Hälfte des Buches) genügten, all diese Geschichten zu erzählen, aber das hieße, Tellkamps stets beim Thema bleibende Genauigkeit zu missachten und seinen epischen Formwillen zu unterschätzen („Zu viele Noten, Maestro!“ lautet ein vergleichbar seltsamer Vorwurf des österreichischen Kaisers gegen Mozart im Film „Amadeus“). Seine unbändige Fabulierlust (eine Art Dresdner bildungsbürgerlicher Neorealismus mit einem Stich ins manieriert Schöngeistige, wie man es aus der levkojentrunkenen Offiziersdichtung vom Anfang des 20. Jahrhunderts kennt) ist gewiss aus- aber nie abschweifend, und insgesamt bewundernswert eidetisch. Man könnte diese Art enzyklopädischen Erinnerns durchaus sentimental nennen, wenn diese Kunst-Ostalgie sich nicht fortlaufend selbst demontierte und gerade dorthin blickte, wo man es bislang für wenig wert befand, um in den schattigen Details Weiterführendes zu entdecken. Mögen manche Passagen für Uneingeweihte schwerer verständlich erscheinen, es lohnt sich, sich auf die beschriebene Welt und ihre verschrobene Semantik einzulassen, denn eben diese Passagen bringen besonders kenntnisreich Licht in ein rätselhaftes Phänomen, das manche bis heute nur halb im Scherz als Dunkeldeutschland bezeichnen. Tellkamp hat mit diesem Gesellschaftsroman eine in mehrfachem Sinne verlorene Zeit nicht nur gesucht, sondern auch wiedergefunden. Er schreibt wahrhaftig, nähert sich mit literarischen Mitteln der Wirklichkeit (und nicht umgekehrt, wie die deutsche Absolventenprosa, die derzeit vielfach en vogue ist) und es geht ihm spürbar nicht nur um autobiographische Impressionen, sondern um Allgemeingültiges im Hinblick auf die Wurzeln der inneren Verfasstheit unserer Gegenwart. Seine Arbeit als Wortarchivar und -schöpfer ist ebenso außergewöhnlich wie die erzählerische Kraft dieses Autors. Die Verleihung des diesjährigen Johnson-Preises für Tellkamps Roman jedenfalls ist mehr als berechtigt, und es bleibt zu vermuten, dass sein Buch weitere bedeutende Auszeichnungen erhalten wird. Denn die sprachliche Energie und die empathische Genauigkeit, mit der Tellkamp erzählt, finden in der deutschen Prosa derzeit kaum ihresgleichen. Aus den jährlich etwa achtzigtausend deutschen Neuerscheinungen ragt dieser Roman schon deshalb heraus, weil es auf eindrucksvolle Weise ein notwendiges Thema angeht. Fast zwanzig Jahre nach dem Mauerfall erzählt Tellkamp eine „urdeutsche“ Geschichte über das Davor, die erzählt werden muss, weil sie eine existenzielle Lücke im literarischen Selbstbild der Deutschen schließt. Ein unbequemer Roman, berührend und schwer wie der Grabstein für eine vergangene Epoche; ein erstaunliches Buch, das kenntnisreich und in starken Geschichten erzählt, was schief gelaufen ist in Deutschlands Osten vor 1989. Ein frisch gedruckter Klassiker.
Uwe Tellkamp: Der Turm. |
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