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5. April 2009
Robert Schwarz
für satt.org
René Steininger: Rinforzando

Plötzlich stärker werdend

„Rinforzando – Gedichte und Geschichten“
von René Steininger

René Steininger tritt mit diesem Erstlingswerk als vitalistischer Hungerkünstler ans Licht. Schon der erste Eindruck dieses vom kleinen Vorarlberger Bucher Verlages schön edierten Bandes weist in diese Richtung: schlanke Wortketten wie zum Trocknen aufgehängt, deren Stabilität zunächst ganz fragwürdig scheint. Nach einer Lesung flüstert eine ältere Dame dem jungen Autor ins Ohr: „Sie sind aber kein Mann großer Worte!“ Ein Kompliment, ist sich der Leser, der durch die Seiten eilt, stockt, lacht, zurückblättert, vergleicht und wieder weiter springt, bald sicher. Der zärtliche Ton der Gedichte, die irgendwie leise daher kommen, aber auch kühn wirken, ist mit diesem der Musik entlehnten Terminus technicus sehr treffend benannt: rinforzando – plötzlich stärker werdend.

Durch die sehr konzentrierten lyrischen Notate zeichnet sich ein Leben der Unruhe, der vielfachen Aufbrüche und vorübergehenden Stationen ab: Reiseorte, vornehmlich in Osteuropa und Übersee, Stimmungen und Reflexionen, Bilder, die sich ins Gehirn gebrannt haben und dann in der Dunkelkammer der Sprache nachbearbeitet wurden, und immer wieder Frauen, Verkörperungen vagabundierender Sinnlichkeit. Auch die Eine ist darunter, die das unhaltbare Glück schenkt: „Jedes Stück Erde/ auf dem du neben mir/ stehst/ umstellt mich/ Mein Glück/ in dem du neben mir/ gestanden hast/ lässt mich laufen/ wenn du gehst“.

Den größten Teil des Buches nimmt die Lyrik ein, die in die Abschnitte „Carnet de routes“ 1 und 2, „Gedichte von der Liebe“ 1 und 2 und „Verwehtes“ unterteilt ist. Dann folgt eine lose Sammlung kurzer Texte, „Kasualien und Kalamitäten“, bei denen es sich um kurze Portraits handelt, existentielle Verdichtungen, die einzelne Leben verschiedener Milieus herausgreifen, deren Isolation greifbar machen und den Leser für einen Moment an deren je eigener Unhaltbarkeit teilhaben lassen. Die Schreibmotive erscheinen in dieser Kurzprosa sozial verdichtet. Die Entscheidung des Autors oder des Verlages, die Lyrik voranzustellen, dürfte wohl den Vorrang ausdrücken, den Steininger – ein zweiter Band, der im Herbst ebenfalls bei Bucher erscheint, wird Dialogerzählungen und Aphorismen enthalten - dem Leichten, Luftigen und Ephemeren gibt.

In kurzen Augenblicken ereignet sich das Wesentliche. Nachts im Zug die Vision einer zweiten Monade: „blasses/ Aufleuchten/ im schwarzen/ Fensterglas“. In Bukarest folgt der Blick einer Gruppe schmutziger Kinder, die im Winter auf die Straße stürmen und sich zwischen die wartenden Autos drängeln; bleibt hängen an ihren vorgestreckten Händen, die sich an den Auspuffgasen wärmen. Eine Eidechse läuft in Anamur der „versteinerten Erde/ wie Gänsehaut/ über den Rücken“. Spitze Absätze durchpflügen den warmen Asphalt, auf dem sich gestelzte Gebäude kaum halten. Nicht immer ist die wesentliche Nuance visionär, oft wird sie durch ein Wort erzeugt, eine lancierte Provokation, dann wieder liegt sie im Aufblitzen eines Gedankens oder einer unergründlichen Schönheit. Wenn die kurzen Texte andererseits so etwas wie ein durchlaufendes Rückgrat haben, dann ist es die Haltung des Autors, die von weit her zu kommen und uralt zu sein scheint.

Die Texte sind sprachlich geschliffen, sie gehen vollständig auf in der Erzählung oder Beschwörung, wie zufällig lancierte sprachliche Doppeldeutigkeiten tragen dabei oft die Pointe, indem sie eine von Anfang an angepeilte Wendung plötzlich umsetzen. Etwa so, wie ein Kampfsportler, der auf seine Gelegenheit zum „Lucky Punch“ wartet. Bei hoher Sprachbewusstheit ist die Sprache dieser Texte dem Denken untergeordnet. Dieses lässt am Ende nur eine einzige Metapher gelten, und das ist die Metapher der Existenz. Sie ist die Metapher schlechthin, denn die menschliche Existenz verweist immer wieder auf nichts als auf sich selbst. Das Erschrecken über die Bodenlosigkeit drückt sich in einem schmerzhaften Bewusstsein der Vergänglichkeit aus: „Wenn ich/ plötzlich nächstes Mal/ mein Gesicht/ im Spiegel/ seh/ bin ich grau“. Auf der anderen Seite verjüngt die jäh ergriffene Nachbarschaft zum Leben: „Es bin ich“, denkt sich die Schwangere vorm Monitor, „Es ist/ der Herzschlag/ eines Fötus/ im Körper/ eines Fossils“.

Jegliche Interpunktion fehlt, sie ist „nach innen ausgewandert“. Dies ist nur konsequent, denn fast jeder der Texte läuft auf eine Pointe zu, um die das Ganze der Beobachtung organisiert ist. Aber die fehlende Interpunktion hat eine noch zwingendere Ursache: sie ist unnötig. Das Unnötige ist der innerste Gegenstand dieses schmalen Werkes. Das Unnötige und seine Verkörperungen, jene „Legionen ungeschlagener Verlierer“, bevölkern seinen Raum, wie der alte Kauz im up- zu sizenden Quartier, die Hure, die den „Mann von Welt“ nie getroffen hat, der Säufer, dem es gelingt, sich hinter einem einzigen Glas Bier zu verstecken, wie die verlorenen Geliebten, die ungeborenen Kinder, die letzten Stehkaffees - sie alle werden hier gewürdigt im Luxus der Reduktion.

Vielleicht kommt man der Haltung dieser Texte auf die Spur, wenn man Steininger als Artisten der Flucht bezeichnet. „In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen“ hieß es in Kafkas berühmter Erzählung. „Während es sich früher gut lohnte, große derartige Vorführungen in eigener Regie zu veranstalten, ist dies heute völlig unmöglich. Es waren andere Zeiten.“

Die subjektive Ausgangslage eines solchen Schreibens ist simpel: Die Welt, in der wir leben, „(ist) nicht mehr zu retten“. Ohne diesseitige Hoffnung verliert der Kompromiss seinen kompromittierenden Reiz. Dann schaffen Flucht vor der Welt und Entscheidung, ihr den Rücken kehren, erst Platz für einen Kosmos des Unnötigen, das ja die Lyrik seit jeher auch verkörpert. Im Unterschied zur Kunstfigur des großen Pragers, deren Artistik im Verschwinden mündet und deren Platz zur großen Erleichterung des Publikums durch einen jungen Panther eingenommen wird, sucht dieser Autor aber die Flucht in der Bewegung. In „Lucky Punch“ schlägt sie dem Horchenden von innen entgegen: „Der erste/ Schlag/ des neuen/ Lebens/ gegen/ ihren Bauch/ traf/ von innen/ ihn direkt/ ins Gesicht“. Dieses Subjekt wird sich nicht in einen Käfig setzen und darauf warten, dass man seine Hungerkunst bewundert. Genau darin liegt aber die über das Literarische der Literatur hinausgehende Kraft der vorliegenden Sammlung, nämlich in der Entscheidung zur Flucht und darin zur Begegnung mit dem (bzw. den) Unnötigen. Als Führer wählt sich der Autor in einem der Reisegedichte konsequenterweise einen Teiresias mit Blindenstock, dem er durch die Vorstädte Mexico-Stadts folgt, vorbei an Elend, Gosse und Schmutz: „Nie sah ich ihn/ was er sah/ mit Prügel kompensieren“.

Bei aller dem beinahe systematischen Blick auf das Verstoßene und Abgetriebene geschuldeten „Negativität“ haben diese Gedichte und Geschichten erstaunlicherweise nichts Klagendes. Dem Leser schlagen vielmehr Wärme und Humor entgegen und ein ausgeprägter Sinn für die Schönheit des Kargen: „Endlich/ leben/ ohne vorgehaltene/ Hand/ gähnend/ aufs/ offene Meer“. Mitunter nimmt diese schlichte Schönheit die Form eines Haiku an: „Aber dort/ die efeuumrankte/ Friedhofsmauer/ brummt/ vor Behagen!“ Am schönsten sind die schnellen Wechsel, die zeigen, wie beweglich doch alles ist: Im Straßengraben nach dem Unfall eines Einsatzwagens „ruht/ zwischen Eiswürfeln/ ein Herz:/ Der Alte/ für den es/ bestimmt war/ wird seine ganze Kraft/ zusammennehmen/ und jetzt/ an seinem eigenen/ sterben müssen“.



René Steininger: Rinforzando
Gedichte und Geschichten
Bucher Verlag 2008
160 S., 18,50 Euro
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