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20. September 2009
Marc Degens
für satt.org

Empfehlungen:
Miranda July: Zehn Wahrheiten

Ich und du und alle, die wir kennen

Miranda July, Harrell Fletcher: Learning to love you more
  Miranda July
Miranda July, Foto von RJ Shaughnessy

Miranda July im Netz:
» mirandajuly.com
» learningtoloveyoumore.com




LOVE, SOFTNESS, MADNESS:
Miranda July

Ich besitze das Buch "Zehn Wahrheiten" von Miranda July schon seit über einem Jahr – aber ich habe erst zehn der sechzehn Kurzgeschichten gelesen: Weil sie mir so kostbar erscheinen. Ich spare mir die Geschichten auf, für ganz besondere Momente – und ich werde von Seite zu Seite, von Satz zu Satz geiziger.

"Bevor mein Vater starb, lehrte er mich seine Fingertricks. Es waren Griffe, mit denen man eine Frau zum Orgasmus bringt. Er sagte, er wisse nicht, ob sie für mich von Nutzen sein würden, da ich ja selber eine Frau sei, aber etwas anderes habe er nicht als Mitgift. Ich wusste, was er meinte: Er meinte Erbe oder Nachlass, nicht Mitgift."

Ich habe Miranda July durch ihren liebenswert verschrobenen, hinreißend komischen, traurigen und offenherzigen, das Leben und die Liebe bejahenden, ersten abendfüllenden Spielfilm "Ich und du und alle die wir kennen" (2005) kennengelernt. Sie hat das Drehbuch geschrieben, die Regie geführt und die Hauptrolle gespielt ... Das allein sind schon drei Gründe, um sie zu verehren. Aber es gibt noch mehr.

Beispielsweise ihren knapp vierminütigen Kurzfilm "Haysha Royko" aus dem Jahre 2003, der sich als Bonus auf der DVD von "Ich und du und alle die wir kennen" befindet, und der den Aura-Kampf zweier zufälliger Sitznachbarn zeigt... Ja, so muß es sein!

Miranda Julys Kunst ist liebenswert verschroben, tief schürfend, ergreifend, frivol und mitunter so verplappert wie eine Frauenzeitschrift. Wer Miranda Julys Internetseite besucht, wird zuerst nach seinem geheimen Passwort gefragt: "you know the password, just clear your mind and look within. it will probably be the first word that you think of. if this doesn't work, try looking at a candle for a few seconds."

Miranda July ist eine wunderbare Fragenstellerin und verteilte gemeinsam mit Harrell Fletch im Internet Aufgaben: Repariere etwas. Fotografiere Deine sich küssenden Eltern. Schreibe eine Pressemitteilung über ein alltägliches Ereignis. Gestalte ein Poster nach, das in Deinem Kinderzimmer hing. Mache ein Foto unter Deinem Bett. Alle siebzig Aufgabenstellungen und die schönsten und originellsten Lösungen versammelt das Buch "Learning To Love You More".

Ed Templeton: Portrait of Miranda July (2008) Cameron Gray: Abstract Love Poem to Miranda July (2009)

Ed Templeton:
Portrait of Miranda July
(2008)
Acryl auf Leinwand, 102 x 112 cm
Courtesy of Roberts & Tilton, Culver City, California

Cameron Gray:
Abstract Love Poem to Miranda July
(2009)
Courtesy of Galerie Maximillian, Aspen, CO
Öl auf Holz, 122 x 137 cm

Auch in "Zehn Wahrheiten", das im Original den viel schöneren Titel "No One Belongs Here More Than You" trägt, stellt Miranda July dem Leser Fragen und Aufgaben: "Wenn Sie traurig sind, fragen Sie sich, warum Sie traurig sind. Dann nehmen Sie das Telefon, rufen jemanden an und erzählen ihm oder ihr, was Ihnen auf diese Frage eingefallen ist. Wenn Sie niemanden kennen, rufen Sie die Vermittlung an und erzählen es ihm oder ihr. Die meisten Menschen wissen nicht, dass die Vermittlung zuhören muss, dazu sind die gesetzlich verpflichtet."

In einer begeisterten Rezension habe ich kürzlich gelesen, daß Miranda July die Kurzgeschichte zwar nicht neu erfunden habe, aber die Form doch meisterhaft beherrsche. Das stimmt – und ich glaube sogar, daß sie die Kurzgeschichte zu neuen Ufern geführt hat. So wie Denis Johnson. Ja, sie wirkt wie das helle, gleißende Gegenstück zu dem Schmerzensmann. In der Verfilmung seines Meisterwerks "Jesus' Son" aus dem Jahre 1999 spielt Miranda July übrigens eine Nebenrolle.

"Es ist wunderschön.
Ich weiß, aber schneiden Sie es ab. Ich möchte einen kinnlangen Bob.
Wollen Sie es nicht noch ein bisschen kürzer? Wie wär's, wenn ich bis hier abschneide, bis zu den Ohren?
Meinen Sie, das wäre besser?
Nein, aber dann würden Sie mehr als 25 Zentimeter verlieren, und die könnten wir Hair for Care geben. Das ist ein gemeinnütziger Verein, der Perücken für Kinder ohne Haare macht.
Arbeiten Sie für die, für diesen gemeinnützigen Verein?
Nein.
Dann bleibe ich, glaube ich, doch beim Bob.
Sie könnten es noch ein paar Zentimeter wachsen lassen und dann wiederkommen, und ich schneide Ihnen den Bob. So hätten alle etwas davon.
Nein, es muss heute sein. Heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens.
Oh. So einen Tag hatte ich letzte Woche."

Sehr schön und treffend hat Niklas Maak in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" Miranda Julys Schaffen beschrieben: "Bei Miranda July geht es immer wieder um Menschen, die ratlos vor den zerplatzen Chancen, der Kaltherzigkeit des Zufalls, den Trümmern verpasster Möglichkeiten stehen, Figuren, die so stolpernd nach Liebe suchen wie Leute in einem dunklen Raum nach dem Lichtschalter. [...] Was Julys Erzählungen, ihre Filme und ihre Installationen verbindet, ist etwas, das man vor allem in der Gegenwartskunst so kaum findet, eine ungewohnt offene, warmherzige Form von Pathos, Empathie".

Das Meisterstück ihres Buches "Zehn Wahrheiten" ist die Erzählung "Das Schwimmteam", ein fragmentarisches, hochkonzentriertes, atemberaubendes Stück Literatur. Moderner und gegenwärtiger geht es gar nicht:

"Dann geschah etwas Seltsames. Ich schaute nach unten auf meine Schuhe und den braunen Linoleumboden, dann dachte ich, ich wette, dieser Boden ist seit einer Million Jahren nicht geputzt worden, und plötzlich war mir zumute, als müsste ich sterben. Aber anstatt zu sterben sagte ich: Ich kann Ihnen das Schwimmen beibringen. Und ein Schwimmbad brauchen wir nicht. [...] Ich, darf ich in aller Bescheidenheit sagen, war das Wasser."

Die Erzählung "Das Schwimmteam" wurde kürzlich auch verfilmt:

Miranda Julys Kunst ist inspirierend und oft auch interaktiv. "Auf der diesjährigen Kunstbiennale in Venedig zeigt[e] July Skulpturen, die genaugenommen nur Sockel sind", so Niklas Maak, "man kann sich selbst daraufstellen und fotografieren lassen und wird so Teil eines surrealen Werks - denn was auf den Sockeln steht, sind Dinge, die man sonst eher in Gedankenblasen und Stoßgebeten vermuten würde." Worte spielen in fast all ihren Installationen, Performance-Auftritten und ihre frühen Musikstücken mit "The Need" eine große Rolle. Kein Wunder, denn die Literatur wurde ihr quasi in die Wiege gelegt.

Geboren wurde Miranda July als Miranda Jennifer Grossinger in Barre, Vermont im Jahre 1974. Ihre Eltern sind Hochschuldozenten und Buchautoren, sie waren in den sechziger Jahren "chic hippies", betrieben gemeinsam einen kleinen Verlag und verlegten die literarische Zeitschrift "Io". Miranda July studierte Kunst in Portland, Oregon, gefördert wurde ihr schriftstellerisches Talent von keinem geringeren als Rick Moody, u.a. Autor der verfilmten Kultromane "Garden State" und "Der Eissturm". Ihre beste Freundin an der High School war Johanna Fateman, Frontfrau von "Le Tigre". Miranda July war mit Calvin Johnson (Kopf der legendären Band "Beat Happening" und Gründer ihres Labels K Records) liiert, seit 2005 ist sie mit Mike Mills zusammen, dem Intimus des französischen Elektro-Duos "Air", Regisseur zahlreicher Videoclips, Musikdokumentationen (u.a. über Air und Pulp) und des Spielfilms "Thumbsucker". Mit diesen Koordinaten lässt sich Miranda Julys eigenes Schaffen sehr gut verorten.


Miranda July in dem Videoclip "Top Ranking" der Gruppe "Blonde Redhead" von Mike Mills

In allem, was sie macht, ist Miranda July überaus erfolgreich. Ihre Installationen werden weltweit an renommierten Orten (Museum of Modern Art, Guggenheim, Whitney Biennale, Kunstbiennale Venedig) gezeigt, ihr erstes Buch wurde mit dem "Frank O'Connor International Short Story Award" ausgezeichnet, ihr Spielfilmdebüt gewann Preise u.a. in Cannes und beim Sundance Film Festival. Laut imdb.com soll 2010 ihr zweiter Spielfilm "Satisfaction" in die Kinos kommen, dessen Fertigstellung sich wegen der Finanzkrise verzögerte. Dass man auch mit einfachsten Mitteln und wenig Geld Kunst herstellen kann, bewies Miranda July mit der Installation "The Hallway". Es ist eines ihrer schönsten und poetischsten Werke, das 2008 im japanischen Yokohame ausgestellt wurde.