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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




20. Dezember 2009
Herausgegeben
von Frank Fischer
für satt.org

MAMMUT-Anthologie

Zum Geleit:
»Es hatte Sinn« wurde zuerst in der sagenhaften 1274-seitigen »MAMMUT«-Anthologie des März Verlags veröffentlicht (1984). Bei dem Text handelt es sich um die letzten Seiten des ersten Kapitels des unveröffentlichten Romans »Metro Babylon«, die 1979 entstanden sind. Christian Klippel (der sich zeitweise »Kristian Klippel« nannte) beschreibt darin einen Besuch am Grab von Jim Morrison auf dem Père Lachaise in Paris. Der wiederkehrende Satzbeginn »Es hatte Sinn« bildet den Refrain zu einer beeindruckenden Phänomenologie der 60er- und 70er-Jahre, die das kulturelle Archiv reichhaltig bestückt. (Vielen Dank an Christian Klippel für die Genehmigung dieser Wiederveröffentlichung.)

Außerdem bei satt.org:
»Produkte der Siebzigerjahre«. Ein Interview mit Christian Klippel über seinen vor 25 Jahren erschienenen Bundeswehrroman »456 und der Rest von heute«, über Horváth und Paris, den März Verlag und unveröffentlichte Bücher (November 2004) .

Kristian Klippel
Es hatte Sinn

Hinter einer hohen, mit Immergrün bewachsenen Mauer sah ich die Grabgiebel des Père Lachaise. Ein Liliput-Paris, die Laubenkolonie für Leichen. Moosüberwucherte Mausoleen, graue Grabhäuser, verschimmelte Familiengrufte. Unter einem hohen Grabstein kehrte ein Arbeiter Laub zusammen.

»Monsieur, wo geht’s ...«

»Jim Morrison? Da, hinterm Casimir-Denkmal, nicht zu verfehlen!«

Erst ein Wald geschliffener Felsen; ich gelangte an einen Platz, wo sich die Wege kreuzten. Wohin jetzt? Im Kies wuchs Gras, Bäume und Büsche überwucherten die Wege. Moos, nasse Erde, feuchtes Holz. Dazwischen blaue Emailleschilder, Imitate der Pariser Straßentafeln: Rue Général Leclerc, Avenue Charles de Gaulle, Place de la 18ème Division. Ein Einbahnstraßenschild; jemand hat ›Jim‹ ins rote Feld geritzt. Jetzt, auf einer schwarzen Marmor-Gruft: »à dieu Jim«, daneben ein Pfeil, wie mit dem Meißel in den Granit geschlagen, jemand hatte mit weißer Kreide daruntergeschrieben: >this is the Jim Morrison death memorial‹.

Die Graffitis mehrten sich: ›welcome to Jim Morrison’s grave, gradeaus, straight on‹, Gedichtzeilen: ›people are strange, when you are stranger‹, und: ›riders on the storm‹, natürlich: ›light my fire!‹. Da sah ich’s: ein kleines Bett aus Gras, um das ein Erdbeet lief, gesäumt von einem knöchelhohen Steinzaun, vermoost, verwildert, graugrün. Die hohen Klötze andrer Gräber neigen die Kreuze, um zu sehen, wer da Besonderes beerdigt ist, auch sie voller Botschaften der Morrison-Fans. ›Cult‹ stand in Schwarz neben einem blauen Peace-Zeichen. ›No Future‹ neben ›No Fun, Sex and Crime‹. Rote, grüne, lila A’s und Frauenzeichen. Schwulenzeichen, rosa Triangel. Punk, Dreizack, Hakenkreuze. Kein Kampfsymbol fehlte, die Piktogramme zu Ornamenten verschnörkelt. ›Wake up‹ hatte jemand mit Wachsmalkreide auf den Stein geschrieben. Ein anderer: ›death will be your santa-claus‹ und: ›I wonna kill‹, daneben: ›je suis innocent mais je me sens coupable, ich bin unschuldig, aber fühle mich schuldig.‹ ›Jim n’est pas mort, il bande encore. Jim ist nicht tot, er hat noch einen Steifen.‹ ›I want to hear you singing songs with Jimi Hendrix and Janis Joplin‹, ›You are the greatest!‹, gleich mehrfach. Am häufigsten aber: ›Gott, dieu, god, dio.‹ Am unteren Ende las ich: ›la fin d’une génération‹. Ich setzte mich auf einen Stein und picknickte mein Mini-Prix-Menu. Unter einer Plexiglasglocke lag ein dicker Joint neben einer Postkarte. Eine leere Champagnerflasche zwischen Blumen, eine Büchse ›Kronenbourg‹-Pils. La fin et la faim, Ende und Hunger, la fin est la faim, der Hunger nach Leben. Ich zündete eine Zigarette an und schaute mich in diesem Liliput-Paris um. Märklin-Land der Lebenswege, Mini-Trix meiner Rangiermanöver, Modell-Metro mit Abstellgleis und Endstation. Bummelzug und Expreß. Morrison war kurz hinter Woodstock ausgestiegen, Dope-City, jenseits der Rock’n’Rolly-Mountains. Wir waren weitergerattert: 68, weg von den Instituten, der lange Marsch in die Intuition. Ich bin aufs Trittbrett gesprungen, als Schwarzfahrer gab’s sowieso keinen Sitzplatz. Geburt, Kindergarten, Gymnasium, Zielbahnhof. Verena ... der Zug rollte. Links die Schiene Subjekt, rechts Objekt, D-Zug-Dialektik, Rototototototot, auf den Gleisdreiecken, Glaubensbahnhöfen, Wahnweichen. Getrieben von der Kraft des Denkdampfs, im Kessel der komprimierte ›Sinn‹. Alles hatte Sinn.

Es hatte Sinn, geohrfeigt zu werden, Luft zu schnappen, Mama & Papa zu sagen, es hatte Sinn, den Schieber nicht in den Spinat zu schlagen, ein Schlabberlätzchen umzubinden, gegen Polio geimpft zu werden, es hatte Sinn, Messer, Gabel, Schuko-Stecker aus der Hand zu geben, Dodo zu machen, »komm Po abputzen« zu schreien, es hatte Sinn, die Senkel selbst zu binden, Tapete an der Wand zu lassen, nicht auf den Geranientopf zu klettern, es hatte Sinn, die Wachsmalstifte an der Wand zu testen, Onkel und Tante die Hand zu geben, gewisse Worte nicht zu Hause zu sagen, es hatte Sinn, gekochte Milch zu trinken, nicht über den Topf zu pissen, kein Theater wegen diesem bißchen Haut zu machen, es hatte Sinn, die Hand des Vaters niemals loszulassen, bei Mama an der Hand nicht auf dem Bordstein zu balancieren, sonntags zwischen beiden ›Engelchen, Engelchen-flieg!‹ zu machen, es hatte Sinn, eine Kindergärtnerin kennenzulernen, Kakao aus Hostalenbechern zu trinken, mit nackten Knien unter Pepitahosen auf grauem Linoleum rumzurutschen, es hatte Sinn, mit grünen, roten, gelben Klötzen Ampeln zu bauen und den Porschefahrer Volker, der nicht halten will, dafür nicht zu verhauen, es hatte Sinn, Schnecken, Maikäfer, Kaulquappen zu sammeln, Babbaratschsch zu matschen, Knallerbsen unter Salamandersohlen zu zertreten, es hatte durchaus Sinn, die Schwester mit dem weißen Bart Weihnachtsmann zu nennen, ›O du fröhliche‹ zu singen und zu hören, was im goldnen Telephonbuch stand, es hatte Sinn, am Nachmittag zu rodeln, auf dem Nachhauseweg die Flocken mit der Zunge aus der Luft zu fangen und von der bügelnden Mama mit Marmeladenknäckebrot bewirtet zu werden, es hatte Sinn, vorm Schlafengehen mit rechter Hand am linken Ohr zu testen, ob man schulreif war, Opel Rekord zu sagen, eine Schultüte zu bekommen, es hatte Sinn, Stuyvesant zu rauchen, PEZ zu ziehen und im Chor zu singen: ›Schüler ade, scheiden tut weh‹, es hatte Sinn, ein Schönschreibheft zu kaufen, dem Lehrer in die Augen zu sehen und hinter der Tür mit Aufschrift ›Knaben‹ zu verschwinden, es hatte Sinn, als König im Völkerball mit drei Leben bestückt zu sein, ein Taschentuch zu haben, Hausaufgaben noch mal zu machen, es hatte Sinn, den Kraichgau zu zeichnen, im Fahrradkeller Milch zwischen Feuerlöscher und Heizungsröhren mit dem Strohhalm zu trinken und Nun-ade-du-mein-lieb-Heimatland zu singen, es hatte Sinn, Fury im Fernsehen, Maria in der Fensterreihe, den echten Tropfsteinzapfen in der Hand des Lehrers zu sehen, es hatte Sinn, den Felgaufschwung zu tun, Rad zu schlagen und die Rolle rückwärts, es hatte Sinn, auf dem Heimweg einen Mohrenkopf zu kaufen und die Siegerurkunde der Bundesjugendspiele übers Bett zu hängen, es hatte Sinn, Zahnspange, eine Geige und lange Lederhosen zu tragen, Sinn, bei Franz heimlich die Filme mit dem Stern im ›Gong‹ zu sehen, es hatte Sinn, im Schwimmbad Treets zu essen, die ersten Beatles-Melodien zu pfeifen wie die Großen, es hatte Sinn, die Aufnahmeprüfung in die Sexta zu bestehen, Stammzeiten und Pronomina von esse, die den Dativ bei sich haben, durchzunehmen, Felgunterschwung zu machen und für jedes Fach ein Heft in andersfarbigem abwaschbarem Umschlag anzulegen, es hatte Sinn, Trevirashorts, Namen wie Lassie, Tommy Tulpe, Captain Spock zu tragen, es hatte Sinn, Nachhilfe in Mathematik, Haare an Sack und Achselhöhlen, Konfirmandenunterricht zu kriegen, es hatte Sinn, Votzen Vagina, vice versa, Franz Beckenbauer Kaiser, die Nachverbesserung ›Post-Emendatum‹ und das dritte Reich das dritte Reich zu nennen, es hatte Sinn, Taschengeld für Kino, Sitzenbleiben nicht so schwer, die Mimosept-Reklame in Mamas ›Brigitte‹ zum Masturbieren zu nehmen, es hatte Sinn, zum erstenmal ein Schweinchen Dick in eine Mickey Mouse zu stecken, auf der Mobylette heimzureiten und im Morgengraun zu grölen: born to be wild, es hatte Sinn, Geschichte als Grund-, Latein als Leistungskurs, ›Levis‹ als Hose, Anne Frank als Aufsatzthema zu wählen, es hatte Sinn, an Demos teil, Deep Purple auf Band, ›Frust‹ in den aktiven Wortschatz zu nehmen, es hatte Sinn, in Kreisen zu leben, in Punkten zu rechnen, in Flecken zu träumen, es hatte Sinn, Mathe abzuwählen, mit Moni Schluß zu machen, Mamas Käfer kaputtzufahren, es hatte Sinn, Kassetten ein-, Gurt an-, Notendurchschnitte vorzulegen, es hatte Sinn, Studienplatzformulare in Dortmund, am Stammtisch Kölsch, die Abschaffung der Isolationsfolter in Stammheim zu fordern, es war sinnvoll, Gitarre, Doppelkopf, Gewissensgründe am Verhandlungstag zu spielen, es hatte Sinn, in ’ner WG zu wohnen, ZDF zu sehen, TAZ zu lesen, es hatte Sinn, Palästinensertücher, Parkas, Transparente zu tragen, es hatte Sinn, Arsch, Zähne, Platten zu putzen, es hatte Sinn, Stullen, Seminare zu belegen und gegen die belegte Zunge Multibionta zu schlucken, es hatte Sinn, es so zu sehen, dafür zu kämpfen und dagegen anzugehen, es hatte Sinn, Horkheimer zu zitieren, vom Abstrakten zum Konkreten zu schreiten, mitzumarschieren, Marx hatte Sinn, Hegel, die Bremer Stadtmusikanten, die sinnliche Gewißheit, die gewisse Unsinnlichkeit, Gelb hatte Sinn, Grau hatte Sinn, Zinnoberrot hatte Sinn, Sinn hatten Handkäs, Kopfarbeit, Topflappen, Unsinn hatte Sinn, das Wissen zu wissen, der Glaube, nicht zu glauben, Sindbad der Seefahrer, der hysterische Materialismus, Sindelfingen, Fahrradpumpen, Sinn hatte Sinalco, Tarzan, §§, Jupiter, Adorno, Blumen hatten Sinn, Sinn hatten Sonne Mond & Sterne, Häuser, Brustwarzen, das Brandenburger Eigentor, Hope, Dope und Meskalero, Bloch und der Afri-Cola-Rausch, Gasrechnung, Vorhaut, die Sinnflut hatten Sinn, Sinnsalabim, Milchstraße, Knautschlack, Fußgängerzone, Großhirn hatten Sinn. Alles hatte Sinn.

Nichts hören. Nichts sehen. Nichts riechen. Nichts fühlen. Nichts sprechen ... ich saß neben einem Grab. Ich war auf dem Weg ins Nichts. Für das Nichts hatte ich keinen Sinn.

Kein Agip SINN 2000 mehr an der Zapfsäule, das Gefühl im Bett, als sei jede Zelle eine Seltersperle, Geilheit, Monique: ich komm morgen nach dem Tingeln in der Métro; ihre Gitarre, ein Moll-Akkord vorm Schlafen. Licht aus.