Nazis sehen dich an
Hans Waals ausgebufft
witziger Roman „Die Nachhut“
Für gewöhnlich blicken wir unentwegt misstrauisch mit kritischem Blick auf unsere dämonischen Vorfahren, die Nazis. Doch diesmal wird alles anders: In diesem Roman betrachten sie uns. Wie kann das sein: Woher können alte Nazisäcke wissen, wie es uns hektikgeplagten Medienjunkies des 21. Jahrhunderts geht? Da hatte der Autor Hans Waal eine grandiose, rechnerisch gerade noch so glaubhafte Idee... Um es gleich klar zu sagen: Dieses kluge und vergnügliche Buch liest sich hervorragend und alle kriegen hier ihr Fett weg: Altlinke, mediengeile Jung- und Altreporter, nostalgische SEDler, hilflose Führungskräfte, junge Neonazis, die stets nazibekämpfende Betroffenheitsmaschinerie und „die kritische Öffentlichkeit“ sowieso. Anlass des Aufruhrs in „Die Nachhut“ ist ein greiser Vierertrupp SS-Männer. Sie haben den Zweiten Weltkrieg sowie den weiteren Rest des 20. Jahrhunderts in einem vollausgerüsteten Geheim-Bunker unterhalb des legendären Bombodroms in der Kyritzer Heide in der Annahme überdauert, der große deutsche Krieg sei noch immer nicht zu Ende! Als der letzte Dosenöffner den Geist aufgibt, müssen sie trotz des vermeintlich immer noch tobenden Kriegs nach mehr als sechzig Jahren endlich den Ausstieg wagen - und beginnen eine Irrfahrt durch das Berlin/Brandenburg der Jetztzeit.
Was für eine Idee! Geführt von den Briefen eines der Bunkerbewohner an seine Geliebte, die Vor-Ort-Berichterstattung eines storygeilen Fernseh-Redaktionsassistenten und die Innenansichten der überforderten, ermittelnden SoKo-Leiterin folgen wir dem Weg der letzten aufrechten Kämpfer durch das deutsch-deutsche Vergangenheitsbewältigungsgestrüpp. Noch als Hitlerjungen der letzten Reserve zur SS berufen, haben Otto, Fritz, Konrad und Josef wegen eines Spezialauftrags im Bunker den größten Teil des Krieges verpasst und versuchen nun herauszufinden, wie es um das Deutsche Reich bestellt ist: Steht der Russe schon vor Berlin? Haben etwa die Amerikaner gesiegt? Oder befindet sich das deutsche Volk noch im tapferen Widerstand? Mühsam versuchen sie die Zeichen der neuen Zeiten zu deuten – unserer Zeiten. Und genau diese überzeugende Perspektive der uralten Nazis auf unser heutiges Deutschland hält jede Menge entlarvender Erkenntnisse und viel hintersinnigen Spaß für den geneigten Leser bereit...
In den verlassenen brandenburgischen Dörfern der Umgebung ihres Bunkers treffen die aufrechten Deutschen zum Beispiel zunächst nur auf alte Leute - und mutmaßen, dass die Jungen das Reich wohl an der West-Front verteidigen. Die vielen Kreuze am Rande der Alleen lassen sie auf hohe Verluste schließen, denn: Sogar Frauennamen finden sich auf den Ehrenkreuzen! Der vom Autor wohldosiert eingesetzte anachronistische Verfremdungseffekt (Nazis sehen uns an) entfaltet seine Wirkung und führt Leser und Protagonisten in höchstamüsante Situationen. Der Plot besitzt eine Eigendynamik und macht das Lesen leicht, die Sprache bleibt knapp und klar im Vertrauen auf die Grundidee des Buches. (Und die funktioniert so gut, dass man die Szenen und Bilder beim Lesen förmlich vor sich sieht und fast hofft, das Ganze demnächst als eine Art Anti-Stauffenberg in einer Koproduktion von Quentin Tarantino und Detlef Buck noch mal auf der Kinoleinwand sehen zu können...) Dabei hätte es ein weniger ambitionierter Autor belassen können und hätte aller Wahrscheinlichkeit nach ein sehr unterhaltsames Buch verfasst. Aber Waal will mehr und nimmt den medialen, politischen und polizeilichen Tumult, den die quicklebendigen Weltkriegsgreise folgerichtig auslösen, zum Anlass, das Thema Nationalsozialismus und Vergangenheitsbewältigung einmal von der schrägen Seite ins Visier zu nehmen. Er tut dies ohne Angst vor politisch inkorrekten Statements – und auch der Leser darf sich hin und wieder ertappt fühlen. Hat man da etwa gerade mit den bösen Nazis sympathisiert und gehofft, sie mögen dem Verfolgertrupp der politisch korrekten Betroffenheitsmanager entkommen?
Waal teilt in seinem ungewöhnlichen Buch nicht nur ordentlich aus, er hält auch allen am „Naziproblem“ Beteiligten, den Leser eingeschlossen, den Spiegel vor. Was sagt der Umgang mit der Vergangenheit über das heutige Deutschland aus und wie spiegelt er die unterschiedlichen Etappen der Nachkriegsgeschichte? Ein wirklich überfälliger Gedankengang. Und eine höchstlohnenswerte Lektüre für alle nur denkbaren Arten von Lesern. Als letztes einprägsames Bild bleibt das des Altnazis Fritz, der in einer Dokumentationsausstellung über die Gräuel des Nationalsozialismus sitzt und fassungslos auf die Darstellung blickt.
Hans Waals „Nachhut“ hat alles, was ein guter Roman zu diesem Thema braucht: Er bestätigt auf amüsante Weise unsere altklugen „endgültigen“ Urteile, untergräbt sie umgehend und wirft uns zurück in die Verstrickungen, von den wir nur zu gerne hätten, dass sie nichts mit uns zu tun haben - mitten in das längst nicht „bewältigte“ Getümmel der deutschen Geschichte.
Hans Waal: Die Nachhut.
Aufbau Verlag. Roman.
374 Seiten, 8,95 Euro
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