Das mutwillige Missverstehen
Peter Handke, seine »Jugoslawien«-Bücher
und die Vorwürfe von Jürgen Brokoff
In einem Punkt hat Jürgen Brokoff in seinem Artikel »Ich sehe was, was ihr nicht fasst« aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Juli 2010 recht: Peter Handkes sogenannte »Jugoslawien-Bücher« sollten tatsächlich nicht vom Œuvre des Schriftstellers abgekoppelt werden. Der Versuch einiger Literaturwissenschaftler, das Poetische und das Politische zu trennen um das Poetische über diese »Hintertür« zu retten, ist unangebracht. Kein geringerer als Handke selber legt Wert darauf, sein Werk als Ganzes wahrzunehmen. Iris Radischs These, Handke sei ein »Ein-Buch-Schreiber«, der mit jeder Erzählung ein weiteres Mosaiksteinchen seines »Lebensbuches« vorlege, mag zwar in Anbetracht des variantenreichen ästhetischen Instrumentariums des Schriftstellers ein wenig vereinfachend daherkommen. Denn es ist ja keinesfalls so, dass die Bücher einem bestimmten Schematismus folgen würden oder gar als Fortsetzungsgeschichte zu lesen wären. Dennoch wird der aufmerksame Leser viele Kontinuitäten feststellen, die seit Jahrzehnten nicht nur immer wieder erwähnt, sondern erweitert, verfeinert, verändert oder sogar gebrochen werden.
Eines der immer wieder in seinen Büchern vorkommenden Motive ist das Beschwören einer Geborgenheit, die sich nicht in seinem Heimatland Österreich (schon gar nicht im Land seines leiblichen Vaters Deutschlands) einstellt, sondern von Handke im südöstlichen Nachbarn Jugoslawien verortet bzw. gefunden wird. Fabjan Hafner hat in seinem herausragenden Buch »Peter Handke - Unterwegs ins Neunte Land« herausgearbeitet, dass die slowenische Herkunft von Handkes Mutter nebst Leben der Verwandten als Kärntner Slowenen diese Vorliebe konstituiert und begründet. Dennoch spielt dieser autobiografische Hintergrund nicht die alleinige Rolle, zumal früh die »Fokussierung« von Slowenien auf Jugoslawien erweitert wurde. Für Handke war Jugoslawien nicht nur das Land seiner Vorfahren und somit auch Sehnsuchtsort einer imaginären Kindheit, sondern auch ein politisches, multiethnisches Modell. Ein Land, das sich fast aus eigener Kraft von der Besatzung durch das nationalsozialistische Deutschland befreit hatte und in dem nun mehrere unterschiedliche Völker (vermeintlich friedlich) zusammenlebten.
Diese Affinität Handkes zu Jugoslawien zeigt sich spätestens in seinem Theaterstück »Über die Dörfer« von 1981 (hier wird sogar eine Art politischer Utopie verkündet; in dieser direkten, deklamatorischen Form ein einmaliges Unterfangen) und der Erzählung »Die Wiederholung« aus dem Jahr 1986. In der Erzählung macht sich ein Ich-Erzähler auf den Weg, seinen in Slowenien verschollenen Bruder zu suchen, der, so erscheint es durchaus möglich, tatsächlich nur in der Phantasie des Erzählers existiert, während im fünf Jahre vorher erschienenen »dramatischen Gedicht« ein Bruder nach einer langen Abwesenheit wieder in seine (bäuerlich geprägte) Heimat zurückkehrt. Und immer schon gab es in den tagebuchartigen Journalen sehr präzise Impressionen von Handkes zahlreichen Reisen nach und durch Jugoslawien. Diese Reisen, Wanderungen und Begegnungen waren nie derart unpolitisch, wie dies in den Feuilletons wahrgenommen und Handke (merkwürdigerweise) immer wieder vorgeworfen wurde.
Es ist also nachweislich falsch zu suggerieren, Handkes »Jugoslawien-Bücher« hätten 1995 mit »Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina« angefangen. Und auch das scheinbar plötzliche Erscheinen eines »politischen Handke« ist ein Trugbild. Jürgen Brokoff begeht in seinem Aufsatz den gleichen Fehler, den er denjenigen ankreidet, die sein Werk »retten« wollen. Am Schluss bezeichnet er Handke sogar als einen »Ideologen«, von dem eine »Gefahr« ausgehe.
Mit vier Beispielen illustriert Brokoff die »problematischsten Entgleisungen eines deutschsprachigen Autors nach dem Zweiten Weltkrieg«. »Entgleisungen«, die Brokoff als »antimuslimische und antialbanische Insinuationen auf der symbolischen Ebene« deklariert und die eine »Verhöhnung des muslimischen Opfer des Bosnien-Krieges« darstellen sollen ... Wie man nach diesen Vorwürfen Handkes Werk noch als »fraglos bedeutend«, so Brokoff, einschätzen kann, bleibt unklar.
Bei der Argumentationsführung geht Brokoff tendenziös vor. Er lässt den Leser in dem Glauben, die zitierten Stellen seien repräsentativ für den gesamten Text. So wird erläutert, wie der Ich-Erzähler in »Die Kuckucke von Velica Hoča« eine Landkarte von 2001 kaufte (die Erzählung spielt im Jahre 2008). Auf dieser Karte, der »Map of Kosova«, waren etliche serbisch-orthodoxe (und auch christliche) Bauten wie Kirchen oder Klöster nicht eingezeichnet. So auch das Erzengelkloster bei Prizren. Dieses Kloster wurde 2004 von einem anti-serbischen Mob zerstört. Im Buch steht nun: »Demnach bestand also das Erzengelkloster auf der Karte nicht mehr, schon lange bevor es tatsächlich zerstört wurde«. Brokoff kommt dadurch zu dem Schluss, dass Handke den »Kosovo-Albanern einen lange im voraus gefassten Zerstörungsplan« unterstelle.
Diese Schlussfolgerung ist abenteuerlich, denn im weiteren Verlauf von Handkes Buch wird deutlich, dass der Erzähler auf der Karte generell nur wenige Einzeichnungen speziell »serbischer« Stätten vorfindet (also auch solcher, die nicht zerstört wurden). Selbst die Einträge von Moscheen sind, so mutmaßt der Erzähler, unvollständig. Und am Ende wird sogar festgestellt, dass der Fluss Ibar, der durch Mitrovica, der geteilten Stadt, fließt, auf der Karte dahingehend falsch eingezeichnet ist, dass der serbische Teil der Stadt praktisch unterschlagen wird. Es kann also gar nicht die Rede davon sein, dass Handke hier die vorauseilende Zerstörung eines Bauwerkes suggeriert. Er zeigt lediglich, wie eine Volksgruppe Orte und Lebensräume einer anderen ignoriert und aus einer Landkarte ein politisches Kampfinstrument wird.
Im weiteren Verlauf wandert der Erzähler aus der Enklave in das »albanische« Gebiet und rezitiert dabei fast litaneiartig serbische und albanische Vokabeln für die sich ihm zeigenden Gegenstände oder Naturerscheinungen. Handkes Erzähler praktiziert die Zweisprachigkeit, die er im neuen Staat Kosovo vermisst. Durch die Verweigerung dieser Zweisprachigkeit weist Handke den Serben im Kosovo einen ähnlichen Status zu wie den Slowenen in seiner Heimat Kärnten (beispielsweise verweigert die FPÖ in Kärnten teilweise heute noch zweisprachige Ortstafeln). Hier wird der autobiografische Bezug (zur Mutter, aber auch zum verehrten Großvater mütterlicherseits) fast übermächtig.
Ähnlich abwegig ist Brokoffs Vorwurf, Handke agiere mit »antimuslimischen« Affekten. Es gibt zahlreiche Stellen in Handkes Büchern, die Respekt und Achtung vor der islamischen Kultur bezeugen und in denen islamische Gelehrte zitiert oder paraphrasiert werden. Vielleicht hat Brokoff jedoch den religiösen Marker »muslimisch« falsch verwendet und meinte eher »antibosniakisch«? Wie lächerlich ein derartiger Vorwurf gegenüber einer Persönlichkeit ist, die sich immer wieder für politische und ethnische Minderheiten eingesetzt hat, sei an einer Passage aus der Erzählung »Noch einmal für Jugoslawien« gezeigt, die 1992 in der »taz« abgedruckt und in der Neuauflage von »Noch einmal für Thukydides« 1995 unter dem Titel »Die Kopfbedeckungen von Skopje« aufgenommen wurde:
»Ein mögliches, kleines Epos: das von den unterschiedlichen Kopfbedeckungen der vorübergehenden Menschheit in den großen Städten, wie zum Beispiel in Skopje in Mazedonien/Jugoslawien am 10. Dezember 1987. Es gab sogar, mitten in der Metropole, jene »Passe-Montagne« oder Gebirgsüberquer-Mützen, über die Nase unten und dir Stirn oben gehend und nur die Augen freilassend, und dazwischen die Radkarrenfahrer mit schwarzen Moslemkappen, die fest auf den Schädeln saßen, während daneben am Straßenrand ein alter Mann Abschied nahm von seine Tochter oder Enkelin aus Titograd/Montenegro oder Vipava/Slowenien, vielfache Spitzgiebel in seiner Haube, ein islamisches Fenster- und Kapitellornament (die Tochter oder Enkelin weinte). Es schneite im südlichsten Jugoslawien und taute zugleich. Und dann passierte einer mit weißem gestrickten, von orientalischen Mustern durchschossenen Käppi unter dem vertropfenden Schnee, gefolgt von einem blonden Mädchen mit dicker Schimütze (Quaste obenauf), und gleich darauf einem Bebrillten mit Baskenmütze, dunkelblauer Stengel obenauf, gefolgt von einem Beret eines Großschrittsoldaten und den paarweise Polizisten-Schirmmützen und deren gemuldeter Oberfläche. [...] Ein Junger mit vielschichtiger Ledermütze, von Schicht zu Schicht eine andere Farbe. Einer schob einen Karren und hatte eine Plastikkappe über den Ohren, das Kinn umwickelt mit einem Palästinensertuch.
[...]
Eine Brillenschönheit ging vorbei mit lila Borsalinohut und schlenderte um die Ecke, gefolgt von einer sehr kleinen Frau mit selbstgestrickter Zopfmütze, welche hoch aufragte, gefolgt von einem Säugling mit Sombrero auf der noch offenen Schädelfontanelle, getragen von einem Mädchen mit überkopfgroßer Baskenmütze 'made in Hongkong'. Ein Junge mit Schal um Hals und Ohren. Ein Bursche mit Schifahrer-Ohrenschützern, Aufschrift TRICOT. Undsoweiter. All das schöne Undsoweiter. All das schöne Undsoweiter.«
Diese fast beschwörende Idylle, die zuweilen durchaus eine gewisse »Kraft der Verklärung« (»Über die Dörfer«) aufweist, zeigt exemplarisch Handkes Sicht auf »sein« Jugoslawien. Hierzu passt, dass er sich bereits 1991 in den Medien und mit seinem Buch »Abschied des Träumers vom Neunten Land« dezidiert gegen die latenten Sezessionsbestrebungen einzelner jugoslawischer Teilrepubliken aussprach. Ist das schon ein »Anti«-Effekt? Hegt Handke im 1994 erschienenen »Mein Jahr in der Niemandsbucht« »antideutsche« Feindseligkeiten, weil dort in der erzählten Zeit 1997 in Deutschland ein Bürgerkrieg tobt?
Am Rande der Denunziation bewegt sich Brokoffs Unterstellung, Handke betreibe politischen Relativismus. Die Tatsache, dass Brokoff zum Jahrestag des Massakers in Srebrenica den Beitrag in der FAZ veröffentlichte, könnte, wenn man dessen eigenen Maßstab anlegt, selber zu »Insinuationen« Anlass geben. Tatsache ist, dass sich Handke immer wieder eindeutig zu Srebrenica positioniert hat.
Schon in der »Winterlichen Reise« lässt er keine Zweifel aufkommen. Und ein Jahr später, 1996 im »Sommerlichen Nachtrag zur winterlichen Reise«, beim Besuch von Srebrenica die »Vorgeschichten« (militärische Aktionen bosniakischer Truppen 1992/93) rekapitulierend, ruft er sich sogar selber zur Ordnung: »... Achtung: Wie solch ein Klarstellen der Vorgeschichten nichts mit Aufrechnung zu schaffen hat, so selbstredend auch gar nichts mit einer Relativierung oder Abschwächung. Für die Rache gilt kein Milderungsgrund.« 2006 sah sich Handke dann offensichtlich nach den Kontroversen um den Düsseldorfer »Heine-Preis« gezwungen, in der Süddeutschen Zeitung das längst auf andere Weise Gesagte zu wiederholen. Srebrenica sei »das schlimmste 'Verbrechen gegen die Menschlichkeit', das in Europa nach dem Krieg begangen wurde«. Und wie Handke ergriffen war von der Stimmung des Ortes, wird an einem Bild, ebenfalls aus dem »Sommerlichen Nachtrag«, deutlich: »Und mit der Hand voll in die Brennesseln bei der Kirche gegriffen, die gerade blühenden und da besonders brennenden, und noch einmal.«
Zugegeben, das ist nicht ganz der Ton der auftrumpfenden, ritualisierten Empörung, wie sie von den Medien gefragt und gefordert wird. Das sokratische Fragen, die Inaugenscheinnahme (natürlich ist das Vorbild die Goethesche »Anschauung«), das Gespräch mit dem Einheimischen, dessen Meinung nie das Interesse eines Journalisten fand - mit diesem »Instrumentarium« wollte der Dichter Handke der vermeintlichen Eindeutigkeit nicht per se widersprechen, sondern ihr eine Wahrnehmungs-Facette hinzufügen. Eine Facette, die die Vorgänge komplexer und schwieriger erscheinen lassen, als sie uns durch weltweit agierende PR-Agenturen und deren Helfer, den so vehement kritisierten »Fernfuchtlern« (vulgo: Journalisten), suggeriert werden. Dabei ist kaum jemand so belesen wie Peter Handke, der Artikel aus nahezu allen europäischen (und amerikanischen) Presserzeugnissen zum Thema Jugoslawien herbeizitieren kann. Daher ist sein Eindruck des reduktionistisch agierenden Konsenses beispielsweise in Bezug auf die Kriegsschuldfrage(n) sehr fundiert.
Handkes Vorgehen wurde 1995 sofort als Insubordination gewertet, stellte er doch das dichotomische Weltbild, welches für die Vermittlung von Kriegs- bzw. Vorkriegsberichterstattungen zwingend notwendig war, infrage. Zumal seinerzeit nicht eindeutig feststand, ob bzw. wie der »Westen« militärisch im ehemaligen Jugoslawien noch eingreifen würde. Es bedurfte in jedem Fall »eindeutiger« Feindbilder, um notfalls die Bevölkerung einzuschwören. Die mediale Konditionierung des »Bösen« (und der »Guten«) durfte nicht durch differenzierte Perspektiven »gestört« werden. Dabei waren den meisten Feuilletonisten, die sich weitgehend als Vollstrecker eines politischen Gesinnungsjournalismus sahen und gerne instrumentalisieren ließen, fast jedes Mittel recht. Parallel zur politischen und intellektuellen Ächtung Handkes setzte der Versuch ein, den Schriftsteller auch ästhetisch zu denunzieren. Beispielsweise mokierte man sich an den »andersgelben Nudelnestern« oder ähnlichen Beschreibungen, die in anderem Zusammenhang sicherlich als großartig und wortmächtig gefeiert worden wären.
Es ist bedauerlich, dass die Diskussion über die Reiseberichte von Peter Handke in das ehemalige Jugoslawien nach 15 Jahren zumeist noch auf dem Niveau gegenseitiger Unterstellungen und fruchtloser Zitatkriege geführt wird. Zwischenzeitlich werden Handkes Neuerscheinungen regelmäßig mit inquisitorischer Attitüde auf eventuelle »skandalöse« Formulierungen abgesucht. Kritiker gerieren sich dabei nicht als potentielle Vermittler von Literatur (dazu würde gehören, dem Leser das finale Urteil selber zu überlassen), sondern als Richter, die nach ihrem Gusto Anklagen erheben oder Freisprüche verkünden. Nur wenige Kritiker entziehen sich diesem hochnotpeinlichen Verfahren. Man sollte ihnen folgen. Es wäre nämlich an der Zeit, das mutwillige Missverstehen endlich zu beenden.