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Crauss: »Motorradheld« Ritter-Verlag, Klagenfurt 2009 304 S., br., 18,90 €
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»ich greife mir
barsche aus dem himmel«
Exkursion in die Welt des Crauss
»Na bitte!!« höre ich mich rufen, als ich das Buch aus der Versandtasche pule. Meine Frau, von Lautstärke und Enthusiasmus meines Ausrufs angelockt, wittert den lange fälligen Lottogewinn und geht gedanklich bereits die Orte durch, an denen sie gerne leben würde, schaut dann aber ins Arbeitszimmer und sagt im neutralstmöglichen Tonfall: »Toll, ein Buch.« Meine Ergänzung, das Buch sei von Crauss, ruft bei ihr wechselweise Entzücken (»Peter Kraus? Mit Starschnitt? Kann ich meiner Mutter schenken!«) und Irritation (»Die Blonde von Pro7, die kann schreiben?«) hervor, um schließlich in Gleichgültigkeit zu enden (»Crauss? Kenne ich nicht, was schreibt der so?«)
Tja, gute Frage, was schreibt der Crauss, der sich seit vielen Jahren durch die deutschsprachige Literatur schlängelt - nicht so leicht zu sagen, zu viele Schubladen reißt der Enddreißiger auf, als dass man ihn in eine davon stecken könnte oder wollte. Crauss’ Prosa, das ist Gesellschaft; Philosophie und Banalitäten; persönliche Momentaufnahmen und Rückblicke auf Kindheit und Jugend und die Diagnose des Erwachsenwerdens (erwachsen ist, wer freiwillig wieder früher ins bett geht); Krötenlecken; die ersten Schamhaare; immer wieder Versatzstücke aus HipHop und Pop, BAP ebenso wie Madonna und die Pet Shop Boys. Crauss’ Prosa, das ist auch die Generation Umhängetasche (stadtplan von fadoborn, schlüssel, ein kaputter laptop, kabel, ein erinnerungs-plugin, ein reisegedicht von Schieke, kassenbons, daneben eine schachtel mit stimmungsaufhellenden pflanzlichen präparaten, kondome, eine packung stäbchenschokolade etc.); Laurie Anderson; die verschiedensten Filme; Ballett und dechiffrierter Porno – festgehalten als kurze Geschichten oder als Gesprächsnotiz, als fingierte Zeitungsmeldung oder Rezension, des öfteren als Essay oder mit assoziativen Einsprengseln versehene Montage. Crauss’ Prosa, das ist ein Hagel an Zitaten und Verweisen, angesiedelt im breiten Spektrum zwischen Nooteboom und Deep Throat; Hubert Fichte und seine autobiographische Geschichte der Empfindlichkeit; die Erinnerung an die erste erregende Lektüre; die Masturbation im Schulbus, geschwängert von Erzählungen über plastinierende Vorfahren und dörflichen Totenkult; eine enge Verbundenheit mit der Heimat, die bei Crauss aus Landschaften, vor allem aber aus Gesichtern und Körpern besteht (der staubige blick in die jahre – ich esse kuchen, ich will versuchen, mich zu erinnern. was verpasst. was ist gewesen.); das Gefühl plötzlicher Lähmung, die dann einsetzt, wenn der vordergründige Anlass der Bewegung pausiert (plötzlich sehr müde sankst du nieder, glittest ab an dirselbst, deine schuhe zu binden – und fielst in eine art trägheit, ein ertrinkendes gurgeln, zuviel salzige spucke im rachen; du versuchtest zu schreien und konntest nur husten.) Crauss’ Prosa, das ist der Remix von Klassikern (Lessing, Schiller, Kleist – welches Bühnenrequisit lässt sich mit dem Komperativ seines Autors reparieren?); Geographisches; Exkurse in Arachnologie (ich möchte mal wissen, was das dort am fensterbrett für eine spinne sein soll – keine spinne trägt heute mehr rote stiefletten!)
Hört sich krude an, ein wenig krank vielleicht? Ist es auch. Nur wenige Steine bleiben auf den anderen. Aber: Crauss verliert den Leser nie aus den Augen, sein Prinzip: oftmals die naheliegendste Assoziation, Nähe und daraus resultierende Nachvollziehbarkeit. So ist der titelgebende Motorradheld auch kein peruanischer Exot auf zwei Rädern, sondern eben genau der, an den 95% der Menschheit bei diesem Wort als erstes denkt: Robert »Evel« Knievel, amerikanischer Stuntman, der sich nach seiner Karriere als menschliche Rakete als Museumstänzer verdingte und, lt. Craus, eben dabei sein Ende fand.
Viele von Crauss’ Texten entfalten einen ungeheuren Sog, hämmern den Rhythmus der Instrumental-Endlosschleife, bei denen sie niedergeschrieben wurden, auf das Papier. Es steht zu vermuten, dass sich der Autor in eine Art Trance versetzt hat und einige Texte in diesem Zustand entstanden sein dürften. Aber: Muss ein Autor seine Texte vollständig verstehen? Ist das wirklich seine Aufgabe? Viel wichtiger: Langweilig ist es nie! Von jedem Text fühlt man sich gut unterhalten, informiert, teils irritiert – irritiert von außergewöhnlicher Zartheit und Wortversessenheit, einem Wortfetischismus, der ansatzlos von brachialen fick-und-piss-Passagen unterbrochen wird. Überhaupt ist »Motorradheld« ein sehr sexuelles Buch, durchsetzt von homoerotischen Phantasien, offenstehenden Hosen und Körperflüssigkeiten, was in einer längeren Abhandlung zur Pop-Literatur in der Anbetung der offenstehenden Lippen Benjamin von Stuckrad-Barres gipfelt – da sich Crauss an anderer Stelle durchaus interessiert an den Attributen des weiblichen Geschlechts zeigt, komme ich nicht umhin, ihn mir beim Liebesspiel mit Stuckrad-Barre und dessen Ex Anke Engelke vorzustellen, rrr, tight!
»Motorradheld« wird mit Sicherheit nicht das komplette bisherige Prosawerk von Crauss beinhalten, wird sicherlich eine Selektion sein, dennoch kommt das Buch erfreulicherweise nicht als schmales Bändchen, sondern als umfangreicher Reader in doppelter Leberkäsedicke daher – wer den Autor bislang ausschließlich als Lyriker kannte, der kann nicht eindeutiger eingeladen werden, in diesem Buch seine Prosa zu entdecken.
Erstveröffentlicht im Titel-Magazin, 2. August 2010