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12. September 2010
Patrick Baumgärtel
für satt.org
 

Ricarda Junge:
Die komische Frau

S. Fischer Verlag, Frankfurt 2010
188 Seiten, 17,95 Euro
» S. Fischer
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Die Kinder der Wende weiten den Blick

Die Löwestraße im Berliner Stadtteil Friedrichshain liegt nicht genau »parallel zur Karl-Marx-Allee«, wie Ricarda Junge in ihrem neuen Buch »Die komische Frau« schreibt, aber durchaus in unmittelbarer Nähe. Sie kreuzt den in nördlicher Richtung parallel zur Karl-Marx-Allee verlaufenden Weidenweg und endet zwei Querstraßen später an der Auerstraße. Ganz hier in der Nähe lag vor etwa hundert Jahren die Arztpraxis von Alfred Döblin. Da handelte es sich noch um einen Arbeiterbezirk. Nach der weitgehenden Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wurde die Löwestraße wie die umbenannte Frankfurter Allee im Stil des sozialistischen Klassizismus wieder aufgebaut. 1953 streikten die Arbeiter. Ein Jahr später, zum Einzug, gab es hier luxuriöse Wohnungen, die der Parteielite vorbehalten waren. Heute geschieht in der Löwestraße das, was man Gentrifizierung nennt: Junge, gebildete Schichten von außerhalb ziehen in die zentrumsnahe Gegend. Es ist auf den ersten Blick eine idyllische Straße: ruhig, sonnig, leicht geneigt, von Linden gesäumt und mit nostalgischem Kopfsteinpflaster ausgelegt.

Auch Ricarda Junges Protagonistin, die 30-jährige Journalistin Lena, mag die Straße, in die sie mit ihrem Partner Leander und ihrem 2-jährigen Sohn Adrian aus Hamburg gezogen ist. Ist ihre erste Begegnung auch von einem Sommergewitter begleitet, versucht sie, als sie später mit Adrian von der Kita zurückkommt, besonders auf die Dinge, die ihr gefallen, zu achten. Dabei entdeckt sie »die strahlend hellen Fassaden, die Ruhe inmitten der Stadt, die Pollen, die im schräg einfallenden Sonnenlicht wie Schneeflocken tanzten«, »die bunten Rosen in den Vorgärten«. Weiter führt sie über das architektonische Ensemble rund um die Karl-Marx-Allee aus: »Hier lebten hunderte, vielleicht tausende von Menschen, und an jeden von ihnen schien gedacht worden zu sein. Die Anlagen zwischen den Häusern wirkten, als hätte man darauf gehofft, dass die Bewohner ihre Burgen an schönen Tagen verlassen und sie gemeinsam zwischen Lavendel und Rosen verbringen würden.« Damit vertritt sie eine ganz andere Perspektive als der radikale Sozialdemokrat Leander oder ihre aus ursprünglich aus Ostdeutschland stammende Mutter, die der Meinung sind, dass die Gebäude um die Karl-Marx-Allee »ein wenig an die faschistische Architektur Italiens erinnern«, also vor allem Zeugen einer totalitaristischen Geschichte sind.

Der Leser erkennt recht bald: Dieses Buch ist eine weitere literarische Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Erbe, das die Bundesrepublik nicht nur architektonisch angetreten hat und das mit dem Zuzug westdeutscher Bildungsschichten nach Berlin einen reizvollen Reflexionsgegenstand abgibt. Dass Ricarda Junge diese Ost-West-Begegnung in den Rahmen eines Schauerromans mit existenziellem Charakter stellt, sagt indes einiges über die Schwierigkeiten der innerdeutschen Annäherungsversuche aus.

Lena merkt auch schnell, dass die Menschen, die da in dem Haus »zwischen Lavendel und Rosen« leben, anders als zu Hause in Hamburg sind. In der Tat gibt es in der Löwestraße Nummer eins eine ganze Reihe von »komischen Frauen« und Männern. Lena und Leander sehen sich nach ihrem zügigen Einzug in ihren Nachbarn mit einer illustren »Originalbesatzung« konfrontiert. Hier wohnte und wohnt also immer noch die alte Elite. Wenn die Beiden aus der Wohnung in den Fahrstuhl treten, begegnen sie einem bunten Kessel von unheimlichen DDR-Existenzen, die auf sie wie Wesen aus einer anderen Welt wirken. Da sind die merkwürdigen älteren Frauen, die gar nicht erst auf die Anrede der neuen westdeutschen Nachbarn aus dem zweiten Stock rechts reagieren; da ist der kränkliche Herr Wiesheu aus dem vierten Stock rechts, der jeden Morgen das Neue Deutschland aus dem Briefkasten in seinen Gehwagen legt; da ist Herr Kaltental von gegenüber mit einer so fröstelnden Vergangenheit als Pädagoge wie sein neuer Name am Klingelschild erahnen lässt, der Lena zu verdächtigen scheint, das Fahrrad seiner Frau gestohlen zu haben; da ist Frau Urban aus dem sechsten Stock rechts, die Lena im Wahllokal bedrängt, die Linke zu wählen und die den gleichen türkisfarbenen Morgenmantel wie Frau Korzinka aus dem dritten Stock und Frau König aus dem sechsten Stock links trägt, den sie »genau wie sie mit einer Hand über der Brust zusammenhielt«.

Überhaupt herrscht ein großes Gemeinschaftsgefühl in diesem Haus, in dem man »nie allein« ist, und das Neuankömmlinge manchmal die Flucht ergreifen lässt. Vor allem die ungewöhnliche kommunitaristische Fürsorge, die vor allem Frau König, der anerkannte »Kopf im Haus«, ihren Schäfchen angedeihen lässt, führt bei Lena, die sich einige Zeit nach dem Einzug von Leander getrennt hat, zu einer Identitätskrise. In deren Folge hält sie sich an die letzte Sicherheit, die ihr in der fremden Welt, die sie umgibt, geblieben ist, das Wort: »was immer auch geschieht, geschieht auf ein Wort hin. Gedacht, gesprochen, geschrieben, verschwiegen.« Lena hat in ihrer Umgebung – hier wird der Roman autoreflexiv – ihr Thema gefunden. Sie spürt detektivisch den biografischen Verwerfungen und neurotischen Auswüchsen der jetzigen wie vormaligen Hausbewohner nach. Was sie herausfindet, ist eine unheimliche Geschichte der Enteignung, Demütigung, Verletzung und Anhäufung von Schuld, in die die Wende viele Bewohner verwickelt hat. Das Ende der DDR kommt vielen von ihnen wie das Ende des eigenen Lebens vor, das Ende »von allem«, woran sie »gearbeitet und geglaubt hatten«. Die Löwestraße Nummer eins erscheint nun wie ein »Haus der Versehrten«, wie Herr Wiesheu formuliert, in dem Untote irrlichtern, die von der Realität, in der die jungen Westdeutschen leben, weitgehend abgeschnitten sind, sich aber doch vampirisch von ihr ernähren.

Ist ein Zusammenleben, ist Kommunikation unter diesen Voraussetzungen überhaupt möglich? Die jungen Obermieter, Anja und Tim, deren Baby Lena manchmal schreien hörte, sind schon ausgezogen und raten ihr zu selbigem. Doch es ist die Krise, in der die Generation Lenas sich befindet, die ökonomische der Nullerjahre wie die private Reflexion des eigenen Alterns, die einen von Empathie und Interesse getragenen Blick auf die Älteren erlaubt. Die Erfahrung der Erschütterung von Gewissheiten, eines der Grundthemen von Junge, bildet den common ground der Alteingesessenen und der Zugezogenen. »‘Vielleicht ist die Wohnung ja doch nicht – optimal für Ihre Bedürfnisse‘«, sagt Frau König am Ende skeptisch zu Lena. Sie irrt sich. Lena hat sich gerade in dieser Art der gemeinschaftlichen Verunsicherung eingerichtet.

So wie Ricarda Junge, deren Biografie sich in der ihrer Protagonistin widerspiegelt, die Geschichte dieses Hauses erzählt, vermag sie es, dem komplexen Spannungsfeld von Architektur und Totalitarismus, für das die Gebäude des Karl-Marx-Allee-Ensembles heute stehen, ein Gesicht zu geben. Ihr so entblößendes wie einfühlsames Porträt dieses Sozio- und Historiotops weist dem Komplex einen Platz in der Gegenwart zu, der über die gängige pauschale Verurteilung hinausgeht. Dabei beweist sich die junge Autorin wie in ihren beiden vorhergehenden Romanen als eine Meisterin der Irritation. Der Roman bezieht seine Spannkraft aus der glaubwürdigen Verbindung von realistischer Fassade und der gekonnten literarischen Inszenierung dahinter. Grelle Konturen auf der einen Seite und dramaturgische Finesse auf der anderen lassen die Löwestraße Nummer eins zum Schauplatz einer Gespenstergeschichte werden, die uns einiges über den gegenwärtigen Zustand unseres Landes erzählt. Aber vielleicht geht es ja auch gar nicht um die Löwestraße.