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31. Oktober 2010 | Timo Berger für satt.org |
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Die Generation »danach«Zahlreiche Neuerscheinungen anlässlich der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt rücken junge AutorInnen aus Argentinien in den VordergrundJunge Literatur boomt in Argentinien wie schon lange nicht mehr. Allein zwischen 2005 und 2007 erschienen vier Anthologien mit neuer argentinischer Literatur: Den Anfang markierte »La joven guardia« (Norma, 2005), es folgten »Una terraza propia« (Norma, 2006) und »En celo« (Sudamericana, 2007) – die ersten einer ganzen Serie von thematisch ausgerichteten Anthologien – sowie »Buenos Aires escala 1:1« (Entropía, 2007), das Geschichten über und aus den sprichwörtlich »cien barrios porteños«, den Hundert Stadtvierteln von Buenos Aires, versammelt. Wie kam es zu dieser Entwicklung? Jahrelang hatten sich die großen Verlagshäuser Argentiniens gescheut, junge Autorinnen und Autoren aus dem eigenen Land zu veröffentlichen. Zu unrentabel erschien ihnen das Geschäft mit dem literarischen Nachwuchs. Dazu kommt, dass viele der argentinischen Verlagshäuser in den Jahren der Rezession von internationalen Verlagskonsortien übernommen wurden. Das einstige prestigereiche Editorial Sudamericana beispielsweise ist heute ein Verlag von Random House/Mondadori, einem deutsch-italienischen Jointventure, an dem die Bertelsmann AG beteiligt ist. Zum spanischen Mediengigant Grupo Planeta gehört heute unter anderem Jorge Luis Borges’ Verlag Editorial Emecé. Die internationalen Verlagshäuser hatten wiederum wenig Interesse daran, junge argentinische Literatur auf den Markt zu bringen. Lukrativer ist das Geschäft mit hauptsächlich US-amerikanischen Bestellern, die einmal übersetzt auf dem gesamten spanischsprachigen Markt lanciert werden können. Die Literatur einzelner lateinamerikanischer Länder hat es hingegen bis heute schwer. Das liegt auch daran, dass kleinere lateinamerikanische Verlage wie zum Beispiel Planeta Argentina zwar argentinische AutorInnen veröffentlicht, diese aber nur in den seltensten Fällen auch in Kolumbien heraus bringt – obwohl der Verlag auch dort eine Zweigstelle unterhält. So führte der Weg zu internationalem Erfolg viele lateinamerikanische SchriftstellerInnen erst einmal nach Spanien. Die in Europa verlegten Bücher kehrten allerdings anschließend nicht zurück in die Heimatländer der AutorInnen. In diesen Vertriebswegen stecken wohl immer noch Schemata des kolonialen Handels. Der Schriftsteller César Aira berichtete in der spanischen Tageszeitung »El País« eindrucksvoll von Lagerhallen voller Bücher junger SchriftstellerInnen, die, als eine der negativen Folgen der argentinischen Wirtschafts- und Währungskrise 2001/2002, in Spanien gedruckt, aufgrund des Wechselkurses aber nicht an den Río de la Plata verschifft wurden. Auf der anderen Seite markierte die Krise in Argentinien selbst eine interessante Trendwende: Aus Mangel an Neuerscheinungen der großen Verlage, schafften es in Argentinien plötzlich UndergroundschriftstellerInnen und Independentverlage in die Spalten des Feuilletons großer Tageszeitungen. So wurde Anfang der 2000er Jahre die argentinische Literatur regelrecht neu entdeckt. Die bald erscheinenden Anthologien sammelten und sichteten diese neuen Talente, die zuvor in kleinen unabhängigen Verlagen, in Kartonbüchern, Fanzines und Literaturzeitschriften oder einfach »nur« im Internet publiziert hatten. Es überrascht nicht, dass mit Grupo Editorial Norma ein Verlagshaus die erste dieser Anthologien heraus brachte, das als einziger argentinischer Verlag bereits in den 1990er Jahren schon junge argentinische AutorInnen publiziert hatte. »La joven guardia« spielt auf die »alte Garde« des Tangos an und präsentierte erstmals Autoren und Autorinnen einem breiteren Publikum, von denen viele heute auf mehrere eigenständige Veröffentlichungen zurückblicken können. Es sind also ausgerechnet zwei Krisen, die das Schreiben der neuen argentinischen SchriftstellerInnen markieren: Neben der Wirtschafts- und Währungskrise 2000/2001 ist es die letzte Militärdiktatur (1976 bis 1983), die das Schaffen der jungen Generation bis heute am meisten beeinflusst. Von vielen LiteraturkritikerInnen wurde diese deshalb auch »la generación después« (die Generation danach) getauft. Ende der 1960er, meist in den 1970er Jahren geboren, haben die SchriftstellerInnen dieser Generation die Militärdiktatur als Kinder oder Jugendliche erlebt. Es waren Jahre der Angst, die das Aufwachsen und Leben nachhaltig beeinflussten, wie Marcelo Figueras im Gespräch mit dem Verfasser beschreibt: »In meinem persönlichen Umfeld gab es zwar keine Verschwundenen. Aber ich verspürte diese große Angst. Anders als Heranwachsende heutzutage, ging ich an einem Samstagabend nicht auf die Straße«. In seinem 2003 erschienenen Buch »Kamchatka« fing der argentinische Autor dieses Gefühl der allgegenwärtigen Bedrohung auf eindrückliche Art und Weise ein. Die Jahre des Terrors haben »die Generation danach« in ihren Lehrjahren geprägt – und so verwundert er nicht, dass mehr als 30 Jahre nach dem Putsch immer noch über das Thema geschrieben wird. In Pablo Ramos' Roman »Der Ursprung der Traurigkeit« spiegelt sich die Repression in den familiären Beziehungen wieder, in Laura Alcobas auf Französisch verfassten Roman »Manèges« (auf deutsch erschienen als »Das Kaninchenhaus«) erinnert die Protagonistin an die Jahre, die sie mit ihrer Mutter im Untergrund verbracht hat. Félix Bruzzones Figuren in »76« haben alle eines gemeinsam: Sie sind Kinder von Verschwundenen. Auch wenn Erinnerung nur ein Thema der neuen argentinischen Literatur ist, schlägt sich diese Thematik überproportional in den Neuerscheinungen nieder, die dieses Jahr anlässlich der Frankfurter Buchmesse neu übersetzt und heraus gegeben wurden: drei von neun Titeln beschäftigen sich mit der Diktatur. Auch Marcelo Figueras neuer Roman »Der Spion der Zeit« macht da keine Ausnahme. Mit den Genres des Detektivromans und des Esoterikthrillers spielend, führt er literarisch vor, was die Opferorganisationen wie die Mütter von der Plaza de Mayo stets vermieden haben: Die Frage der Rache. Einer nach dem anderen werden in »Der Spion der Zeit« ehemalige Junta-Mitglieder bestialisch ermordet. So ist das Bild, das man aus der Lektüre der neuen argentinischen Titel in Deutschland gewinnen kann, ein partielles. Auch wenn viele junge AutorInnen nun zum Teil erstmals ins Deutsche übersetzt wurden – so zum Beispiel Lola Arias, Eugenia Almeida, Sergio Bizzio, Mariana Enríquez oder Samanta Schweblin – sind vor allem experimentellere und neobarocke Schreibweisen unter den Neuerscheinungen wenig vertreten. Und doch zählen gerade das Experimentelle und auch das Metaliterarische, die Reflexion über das Schreiben im Schreiben selbst, zu den bedeutenden Themen der argentinischen Literatur. Angefangen mit den Erzählungen von Jorge L. Borges über die Romane von Julio Cortázar bis hin zu heutigen VertreterInnen wie César Aira oder Sergio Chejfec. Jüngere Autorinnen und Autoren wie Fernanda Laguna, Gabriela Bejerman, Washington Cucurto, Ezquiel Alemian und Pablo Katchajian, die an avantgardistische Schreibweisen anknüpfen, fanden leider keine deutschen Verlage. Es scheint, dass Themen wie Erinnerung, Fußball oder Tango »marktgerechter« und dem Publikum hierzulande besser zu vermitteln sind, weswegen sie im Vorfeld der Messe die Aufmerksamkeit der Literatur-AgentInnen auf sich gezogen haben. Der Independentverleger und Literaturvermittler Damián Ríos findet das wenig verwunderlich: »Zwar stimmt es, dass von außen diese Erwartungen an argentinische Schriftsteller gemacht werden, dass sie über Fußball, den Peronismus oder die Diktatur schreiben. Doch das Problem ist viel eher, dass wir diese Erwartungen auch bedienen.« Dennoch sieht er die Frankfurter Buchmesse 2010 als Chance für die junge argentinische Literatur: Der deutsche, französische und italienische Markt hätten ein gewisses Schlaglicht auf die literarische Produktion Argentiniens gesetzt. Interessant dabei sei, so Ríos, dass man die in Argentinien schon kanonisierten Schriftsteller wie Ricardo Piglia, Rodolfo Enrique Fogwill und César Aira übersprungen habe und neue gesucht wurden: Fabián Casas, Carlos Busqued, Félix Bruzzone, Lucía Puenzo, Sergio Bizzio, Martín Kohan ... Diese junge Generation hat vielfältige Schreibweisen hervorgebracht; neue Massenmedien wie das Internet und vor allem Weblogs prägen ihre Texte. Aber auch die Ästhetik des Films, der Video- und Comicclips, von Rockmusik und Techno haben zu einem anderen Umgang mit Sprache geführt, zu einem lockeren, ironischen, sich selbst nicht so ganz ernst nehmenden Register. Niemand versucht sich ernsthaft an »der großen Erzählung der Väter«. Auch mit den literarischen Vorbildern (Borges, Roberto Arlt, Manuel Puig, Lilana Heker, Abelardo Castillo, Ricardo Zelarayán) gehen die jungen AutorInnen durchaus kritisch um. Und obwohl sie ihre Romane und Erzählungen oft an der Grenze zwischen Fiktion und Autobiographie ansiedeln, widersprechen sie einer autobiographischen Deutung ihrer Werke. Fabián Casas, dessen Geschichten im Viertel seiner Kindheit, Boedo, spielen und dessen HeldInnen sich vordergründig wenig von seinen nächsten Familienmitgliedern unterscheiden, geht mit dieser Frage jedoch ironisch um: »Ich werde ständig gefragt, ob all das was ich schreibe, autobiografisch sei. Na klar, sage ich dann immer. Komplett alles! Nichts ist erfunden. Ich bin ein total langweiliger Mensch, mir fällt nie etwas ein.« Engagierten Verlegerinnen und Verlegern aus Deutschland sowie der Unterstützung durch das Übersetzungsprogramm »Programa Sur« der argentinischen Regierung ist es zu verdanken, dass anlässlich der Buchmesse in Frankfurt mehr als 70 Bücher ins Deutsche übertragen wurden. Das Programa Sur wurde eigens von der argentinischen Regierung aufgelegt und wird auch über 2010 hinaus – das ist die gute Nachricht – wenn auch in geringerem Umfang fortgesetzt werden. Unter den geförderten Übersetzungen befinden sich mit »Asado verbal« und »Die Nacht des Kometen« auch zwei Anthologien mit jungen AutorInnenen sowie das von Michi Strausfeld betreute Dossier »Der Vorabend aller Pracht«, das in der Literaturzeitschrift »Die Horen« erschienen ist und »eine Lesereise durch zwei Jahrhunderte argentinischer Erzählkunst und Poesie« verspricht. Bei all der Fülle der Neuerscheinungen aus dem Gastland Argentinien, ist ein Thema, obwohl es auf der Hand liegt, völlig unter den Tisch gefallen: Zwar feiert Argentinien in diesem Jahr den 200. Jahrestag der Unabhängigkeit, trotzdem hat es ein Buch, dass sich im Sinne einer »Gegenerzählung« mit den geschichtlichen Ereignissen befasst, es nicht bis zu den deutschen LeserInnen geschafft: »1810. La Revolución de Mayo vivida por los negros« (Emecé, 2008) von Washington Cucurto. In dem Roman entweiht der Autor, der mit bürgerlichem Namen Santiago Vega heißt, den Mythos des nationalen Befreiers General San Martín und zeigt den Anteil der schwarzen Bevölkerung an den revolutionären Umwälzungen auf. Vielleicht immer noch ein zu »heißes« Thema für eine offizielle Förderung. |
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