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9. Januar 2011 | Crauss für satt.org |
ichotomische bücher über die taubheit, die einen von der welt scheidetStefan Heuer mit der geschichte einer freundschaft, deren lack ab ist und anderemanche lektüren fügen sich glücklich. so zuletzt Terézia Moras einziger mann auf dem kontinent (2009), dem Stefan Heuers firnis (2010) folgte und zuletzt A.M. Homes' this book will save your life (2006). allen drei büchern eignet, dass sie mit wenig äusserer handlung auskommen und die jeweiligen protagonisten sichselbst aus dem fokus verloren haben. Richard Novak in Homes' lebensrettendem roman über einen emotional seit jahren im passiv-modus funktionierenden banker braucht eine schmerzattacke, die ihn die taubheit sichselbst gegenüber überhaupt erst wieder spüren lässt. ganz allmählich erwacht ein neues interesse, dinge auszuprobieren, die ihm farb-, ernährungs- und lebensberater sonst ausredeten. alles äussere um Richard herum gerät aus den fugen, sein haus wird durch einen erdrutsch unbewohnbar, der nur scheinbar gut versorgte wohlständler ist plötzlich total unterversichert. andererseits beflügelt das plötzliche in der luft hängen den keineswegs zum helden geborenen, wie nebenbei und ohne sich gedanken darüber zu machen, am laufenden band anderer leute und tiere leben zu retten. Richard verliert am ende sein eigenes, aber er ist glücklich. this book will save your life ist eine ausgesprochen witzige und sehr intelligente, das heisst: auch die typisch amerikanische haltung zum leben (sicher, privat, viel) aufs korn nehmende lektüre, ein sehr ruhiges, beruhigendes buch. mit ähnlichem witz und vielleicht etwas mehr verve versucht Moras einziger mann auf dem kontinent herr der lage zu werden. Darius Kopp erhält eines tages eine pappschachtel mit einer menge cash von einem säumigen kunden. der informatiker hat keine ahnung, was er mit dem baren anfangen soll; seine geschäfte laufen mehr als schlecht, die firma jedoch ist nicht zu erreichen, Kopps eigene lage wackelt, die ehe mit seiner hypersensiblen frau steht vor dem aus, Kopp leidet unter dem verlust seiner sicherheiten. »was liest du da?« - »die wand.« - »was?« - »das ist der titel: die wand.« und obgleich alle drei bücher mit dem Haushoferschen thema der unsichtbaren, mentalen sperre der jeweils midlife crisis geplagten protagonisten umgehen, tun sie das auf ganz unterschiedliche weise. Mora arbeitet sehr stark mit abbreviationen, gedanklichen aufzählungen, listen und ähnlichem, und erreicht nicht zuletzt dadurch eine angenehm unprätentiöse, aber längst fällige aktualisierung auch im konventionellen erzählen. Stefan Heuers firnis nimmt sich im ersten kapitel dagegen wie eine leicht biedere zdf-komödie aus: die familie versammelt sich am krankenbett der mutter Maria, die mutter jedoch, sonst die zügel fest in der hand haltend, wird durch ein loch in der wahrnehmung absorbiert. man erwartet eine lockere abendunterhaltung. die situation schwenkt jedoch um, und Heuer erzählt in gelassenem ton die geschichte einer männerfreundschaft, die eher auf einem nebeneinander als einem miteinander basiert. »sogar zwei sich ähnlich sehende teller hatte er gefunden,« heisst es an einer stelle. in einem anderen zusammenhang erwartete man, die beiden hätten sex, stattdessen haben Joachim und Michael frühstück. Heuer gerät nicht in grössere gefahr, stereotype zu bedienen. die hauptfiguren, ein penetranter literat, den stört, dass drittweltländer kein flaschenpfand haben und ein schweissfüsziger maler (»der zustand des gartens war seit jeher der zuverlässigste indikator für den seelenzustand seines freundes gewesen.«), sind durchweg unsympathisch, nicht nur dem leser, sondern auch sich gegenseitig. ihre freundschaft besteht aus der spiegelung von bedürfnissen: »Joachim war für gewöhnlich die erste anlaufstelle, wenn Michael etwas geschrieben hatte,« und dieser Joachim, der sein geld mit blumenserien verdient, ist nicht nur von sich, sondern auch von seinem scheinbar einfallslosen freund so gelangweilt, dass er eines tages auf einen perfiden vorschlag hereinfällt. während Michael »mit der geschichte um die im krankenhaus liegende Maria [...] nicht wirklich weiter« kommt, taucht Judith auf, die Joachim verliebt macht, mit Michael aber einen coup ausheckt, wie man ihn aus livres noirs kennt. sie ermutigen Joachim, den blumenkram sein zu lassen und grosse meister zu kopieren, die er dann für gutes geld an ärzte und anwälte verkaufen soll. nach und nach geht Joachim aber ein licht auf: Judith und Michael zocken ihn ab. während sie wirklich an Joachims kopien verdienen, ist das, was er selbst als lohn bekommt, bloss ein almosen. Heuer dreht die schraube noch ein wenig weiter, denn am ende stellt sich heraus, dass Judith auch den schreiberling betrogen hat. im grunde ist noch nicht einmal ganz klar, ob es jene Judith überhaupt gab, oder ob es sich dabei nicht um die beste figur handelte, die der sich mühende Michael je ausgedacht hat. dies zu verraten, tut der story keinen abbruch, denn es geht hier nur vordergründig um eine Ripley-variante, sondern in der hauptsache um die entwicklung der eheähnlichen freundschaft. »was ist, fragte Michael, fahren wir zurück?« heisst es am ende, und Joachim entgegnet: »wir - das ist doch nur ein wort.« hier hat sich endgültig eine firnis über die beziehung der beiden gelegt. aber es bleibt unentschieden, ob nicht doch eine fortsetzung folgt. und das ist gut. Stefan Heuer, geboren 1971, ist kein popper, aber ein der populärkultur zugewandter autor (experimentelle kurzdramen, gedichte zu Warhol-filmen, lyrische montagen zur RAF), der hier eine prosa vorlegt, durch deren knappe kapitel man schnell durchkommt; was interessant ist, da gerade die kürze der abschnitte, oft im gestus einer raffenden zusammenfassung, die tristesse und relative ereignislosigkeit der äusseren handlung genauso wie die geistige bewegungsunfähigkeit der protagonisten umso deutlicher hervorhebt. für gewöhnlich zb. bemerkt Joachim nicht mehr, wie fremd er sich selbst geworden ist. »aber wenn er nach einigen tagen der abwesenheit zurückkehrte, dann genoss er diesen duft [nach ölfarbe] und das damit verbundene gute gefühl, seinem leben wieder nahezukommen.« das wichtige ist nicht die neue erfahrung und eine damit zurückkehrende selbstsicherheit, sondern das rituelle sich einnisten im profanen. ausführliche schilderungen hätten hier sicher ermüdet, stattdessen zeichnet Heuer seine figuren durch eine nahe der denunziation liegende ironie, das buch beweist cliffhanger-qualitäten, die über schiefe wendungen oder wortwiederholungen (»dann gingen sie zur anmeldung, meldeten sich an«), die am ende doch wenig ins gewicht fallen, hinweglesen lassen. im radiojargon würde man sagen »das versendet sich«. firnis ist kein spektakuläres, aber ein angenehmes buch. sein grösster reiz liegt in dem etwas spröden humor, der sich eher in nichtdialogischen, referierenden passagen zeigt: »nahezu bescheiden verzichtete [das museum] auf einen hochtrabenden namen, hiess schlicht museum wiesbaden. museum wiesbaden, das kann natürlich alles bedeuten, dachte Joachim, von europas grösster sammlung an stricklieseln bis hin zu ausgestopften und durch häufiges ausstopfen ausgestorbenen tieren war alles möglich.« und tatsächlich gehört zur qualität dieses speziellen buchs, sich anderen büchern leicht einzureihen. sollte ich eine empfehlung aussprechen, um die folge glücklicher lektüren passend zu firnis zu erweitern, fielen mir sicherlich Pierangelo Masets bei kookbooks erschienene bücher ein: Laura, eine feinnervige vierecksgeschichte im blutleeren galerien-business, und klangwesen, der ätherische vorgänger, in dem es um in radiogeräuschen verborgene botschaften geht. die gute nachricht ist aber: bücher ziehen stets andere bücher nach sich, und zwar von ganz allein... |
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