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4. Januar 2011 | stefan heuer für satt.org |
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Christoph Leistens Gedichtband »bis zur schwerelosigkeit«ein lyrisches Plädoyer gegen den sensitiven DogmatismusKann sein, dass der erste Eindruck tatsächlich zählt: beim Bewerbungsgespräch nach einer Nacht über der Toilettenschüssel, beim Blind Date mit der in virtueller Welt kennen gelernten Weiblichkeit, bei Inaugenscheinnahme der Hundekäfige im städtischen Tierheim – angeblich ist der erste Eindruck nicht nur der bleibende, sondern mehrheitlich, ebenso wie der erste Gedanke, auch der richtige. Und wie bequem kann es sein, sich an diese Direktive zu halten und weitere, andersartige Eindrücke oder gar Gedanken zu vermeiden, um Weltbild und Gehirnstruktur auf möglichst niedriger Flamme köcheln zu lassen. Nicht wenige träumen von geistiger Eingeschränktheit und praktiziertem Empathieverzicht, um sich das Leben tunlichst problemlos zu gestalten. Die dazugehörige Gegenbewegung, und die gibt es ja immer, zweifelt permanent, hinterfragt alles und jeden und findet erst in den Schlaf, wenn der Weg vom Samenkorn bis zum Frühstücksflake lückenlos dokumentiert ist. Die vermeintliche Wahrheit liegt, wie so oft, in der Mitte. Und auch Christoph Leisten – um nun dazu zu kommen, dass es sich um die Besprechung eines Lyrikbandes handelt – wirbt in den Gedichten seines neuen Lyrikbandes »bis zur schwerelosigkeit« für eine austarierte, in allen Sinnen verortete Wahrnehmung und Existenz, die weder an der Oberfläche erstarrt, noch in endloser Debatte versinkt. Gleich das erste Gedicht gibt die Marschrichtung vor, ist ein Plädoyer für ein (Er-)Leben ohne Dogmen und Selbstbeschneidungen: VON LIDSCHLAG ZU LIDSCHLAG bleiben den augen Ein starker Auftakt, belebt von einem realistischen, in Teilen wissenschaftlichen Fokus auf die Wahrnehmung, perforiert von der unverblümten Aufforderung, den Blick hinter die Kulissen zu wagen. Und Leisten legt nach, ein Buch ohne Fülltexte, ohne Aussetzer. Ob er über den abgeschmückten Weihnachtsbaum schreibt, der im Hinterhof seiner Abholung und Häckselung harrt, über Nächte ohne Schlaf oder Beerdigungen an klaren Wintertagen (... / wie seltsam, dass wir immer ein ende / vor augen haben beim gedanken an ewigkeit, / und so starrten wir ins erdreich am heutigen tag, / ...) – Christoph Leisten, der 2010 sein 50stes Lebensjahr vollendet hat, trifft den richtigen Ton, ist ein exakter Beobachter und Deuter fremder und eigener Gefühle und Stimmungen. Schlussendlich nebenbei, unaufdringlich aber doch bestimmt, laden vor allem die im vierten, gleichzeitig letzten und wie seine drei Vorgänger unbetitelten Kapitel versammelten Gedichte dazu ein, den Autor auch in seiner Prosa zu entdecken. In acht stimmungsvollen Gedichten hält er dort seine mit allen Sinnen bei zahlreichen Reisen nach Marokko gesammelten Eindrücke fest, Haptisches, Landschaftliches und Botanisches, Geräusche und Stimmen, das »Echo Allahs«, das reisetypische Verschwimmen der Zeit – verweisend auf den von Leserschaft und Kritik gelobten Prosaband »Marrakesch, Djemaa el Fna« (2005, ebenfalls Rimbaud-Verlag), eine vielschichtige Annäherung an die Kultur und das Leben in der marokkanischen Königsstadt. »bis zur schwerelosigkeit« ist ein fein gesponnenes, in seiner Chronologie glücklich angeordnetes Geflecht aus Klarheit und Tiefgang, das Lust auf Leistens Backkatalog und neugierig auf Kommendes macht. |
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