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23. Mai 2011 | Dominik Irtenkauf für satt.org |
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Alles ist Jazz oder doch bloß Theater?Henri Murgers »La Vie de Boheme« gilt als Paradebeispiel für autobiographische Bohemienliteratur, aufgrund der historischen Premiere. Murger schildert die Nöte und Sehnsüchte der verarmten Künstler, die sich in Zirkel organisieren und denen häufig der Stereotyp des Bürgerschrecks anhaftet. Murger schreibt souverän, mit einer leichten Tendenz zum Snobismus. Sein Buch trug sicher auch zur Wahrnehmung eines entsprechenden Lebensstils bei. Dennoch durchzieht seinen Roman ein süffisanter Humor. Ganz anders drückt sich die Wiener Schriftstellerin Lili Grün aus, die dank zweier Neuausgaben ihrer Romane »Alles ist Jazz« und »Zum Theater!« im AvivA-Verlag wieder ins Bewusstsein der Leserschaft rücken könnte. Über Grün ist kaum etwas bekannt, was unter anderem auch mit ihrem gewaltsamen Tod durch die Nazis zu tun haben mag. Lili Grün begeisterte sich selbst fürs Theater und absolvierte als Elevin Schauspielstunden bei einem älteren Schauspieler. Der leicht beschwipste Ton, dann an anderen Stellen tieftraurige, aber immer noch freundliche Niedergeschlagenheit fügen sich in den besonders leichten Erzählton der Autorin ein. Erstaunlicherweise wird dieses »Schweben« über den Worten und den Bedeutungszuweisungen, sprich: dieses »Schweben über das schwere Leben«, in den zeitgenössischen Kritiken nicht runter gemacht. Man bedenke den stark expressionistischen Ausdruck zu dieser Zeit, doch reiht sich Grün eher in die Frauenromane der Neuen Sachlichkeit ein. In den 1920er Jahren entwickelte sich neben allen Sprachexperimenten ein unverkrampfter Umgang mit der Alltagssprache. Grün partizipiert an diesem neuen Verständnis. Zuweilen wirkt Grüns Sprache naiv. Die bekannte österreichische Schriftstellerin Hilde Spiel, die Grün in dem Literatencafé Herrenhof kennenlernte, gesteht in einem Fernsehinterview im Jahr 1988 ein: »Später kam ein kleines Geschöpf hinzu, das hieß Lili Grün und schrieb Jungmädchenbücher.« Lili Grün beginnt ihre schriftstellerische Karriere mit dem Boheme-Roman »Herz über Bord«, der im AvivA-Verlag unter dem neuen Titel »Alles ist Jazz« 2009 neu erschien. Eine junge Frau zieht von Wien nach Berlin, um sich dort als Schauspielerin zu versuchen. Sie findet Anschluß an eine Gruppe von jungen Schicksalsgenossinnen, Komponisten, Regisseuren und Dichtern. Die Nöte und Sorgen dieses Milieus schildert Lili Grün eindringlich, immer jedoch mit einer stark emotionalisierten Note. Die Lektüre des Buchs wird sehr stark durch die Augen einer jungen hoffnungsfrohen Frau geprägt. Mit ihren Höhen und Tiefen hastet man über die Seiten. Grün kann und darf man eine Lebendigkeit beim Erzählen kaum absprechen. Dadurch jedoch bleibt eine kritische Distanz der Erzählerin aus. Grün schildert verschiedene Einzelschicksale: Elli zieht nach Berlin, in der Hoffnung, in der reichsdeutschen Hauptstadt Arbeit im brotlosen Gewerbe zu finden. Dort verliebt sie sich in den Studenten Robert, der eigentlich kein Geld und auch keine Zeit für sie hat. Während des ganzen Romans wird immer wieder auf ihre unausgeglichene Gefühlswelt Bezug genommen: »Elli träumt von Henrik. Seit langer Zeit zum erstenmal. Sie träumt, daß sie mit Henrik wieder in Lovrana ist, wie damals vor drei Jahren. Sie sieht ganz deutlich das kleine, viel zu heiße Hotelzimmer vor sich, es ist durch den Traum kaum verändert, sie spürt Henriks Brust, auf der ihr Kopf liegt, seine Hand, die ihr Haar streichelt, und sie fühlt sich so beruhigt und glücklich und fragt sich erstaunt, warum sie denn in den letzten Wochen so verzweifelt war. Beim Erwachen bricht sie in Tränen aus und versucht, den Traum weiterzuspinnen. Noch immer fühlt sie die Meeresluft, die eben durchs Fenster zu kommen schien, und sie wendet sich verzweifelt zur Wand, um die Bäume, die die Suarezstraße umsäumen, nicht sehen zu müssen.« Mit Henrik ist sie längst nicht mehr zusammen – er stammt noch aus ihrer Wiener Vergangenheit. In »Alles ist Jazz« bietet Grün einen Einblick in die bohemienhafte Zeit der 1920er Jahre, in die Jahre nach der Wirtschaftskrise. Sie selbst trug freche Gedichte in den Kabaretts »Brücke« und »Katakombe« vor. Den Weg des persönlichen Engagements im Erzählen setzt Lili Grün auch im nächsten Roman »Zum Theater!« (ursprünglicher Titel: »Loni in der Kleinstadt«) fort. Diesmal verschlägt es die Protagonistin Loni jedoch in eine Kleinstadt, um dort ihrem ersten Theaterengagement nachzugehen. Sie durchlebt ähnlich wie Elli in »Alles ist Jazz« die Tücken freien Künstlerlebens. Das Ende dieses Romans weist deutlich auf ein Thema hin, das Lili Grün in ihren beiden Künstlerromanen beschäftigt (ganz anders als noch zur Zeit der deutschen Romantik zum Beispiel, die sich häufig in endlosen Reflexionen erging): Liebe. Und wie man mit ihr im Zuge eines selbstbestimmten Lebens als Künstlerin umgeht. Neben den Aufs und Abs des Schauspielerlebens macht Loni noch die Konkurrenz der früheren Geliebten ihres Freundes, Eva Hartstein (ein abgehalfterter Vamp in der Provinz), zu schaffen. Man liest beide Romane schnell weg, was nicht heißen soll, daß sie über keinerlei Tiefgang verfügten. Eine rein objektive Darstellung der Boheme-Zirkel hat weder »Zum Theater!« noch »Alles ist Jazz« im Ansinnen. Lili Grün war selbst involviert, wie Heimberg jeweils in ihren Nachworten herausarbeitet. Sie zog von Wien nach Berlin, in der Hoffnung, später mal die Rolle ihres Lebens zu finden. Doch die Hoffnung wird relativ schnell enttäuscht. Der triste Alltag holt Lili Grün schnell ein: »Das Leben ist: manchmal ab 25. hungrig sein ...« Laut Anke Heimberg arbeitet Lili Grün starke autobiographische Züge in ihre beiden Theaterromane ein. Angesichts des grausigen Schicksals – sie wird am 1. Juni 1942 im weißrussischen Maly Trostinec von den Nationalsozialisten ermordet – läßt sich in den beiden im AvivA Verlag neuaufgelegten Romanen sehr gut die nahezu feindliche, wenn auch unbeabsichtigte Wirkung des Künstlermilieus auf faschistische Bewegungen nachvollziehen. Sowohl Elli in »Alles ist Jazz« wie auch Loni in »Zum Theater!« sind selbstbewußte junge Frauen, die gerade deswegen auf der Suche nach Orientierung sind, besonders in Zeiten der Wirtschaftskrise und heraufdämmernden Faschismus. Die Lebenslust ist in ihre Rollen geschrieben, und sie lassen sich so schnell auch nicht im Verlauf des Romans entmutigen. Darin liegt der besondere Reiz der beiden Grün-Romane.
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