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29. August 2011 | Jörg Auberg für satt.org |
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IN DEN FÄNGEN DES DIBBUKSIn dem posthum veröffentlichten Roman »Ein Amerikaner« erzählt Henry Roth vom Leben in der Wirtschaftskrise der späten 1930er Jahre und vom individuellen Scheitern als Autor. Nachdem Henry Roth im Jahre 1934 seinen Roman Call It Sleep veröffentlicht hatte, galt der Sohn galizischer Einwanderer in literarischen Kreisen eine Zeitlang als Wunderkind. »Call It Sleep ist mehr als der beste Roman über das jüdisch-amerikanische Leben bis zum heutigen Tag«, schrieb der Rezensent der Partisan Review, die sich damals noch im Orbit der Kommunistischen Partei bewegte. »Dieser erste Roman Henry Roths kann leicht seinen Platz als eines der herausragenden Bücher der letzten zehn Jahre einnehmen. Call It Sleep ist der vielversprechendste Roman seit Joyces Porträt des Künstlers als junger Mann.« Der Roman erzählt aus der Perspektive des sechsjährigen David Schearl, eines Sohnes jüdischer Einwanderer aus Galizien, seine Erfahrungen in der Lower East Side, die Auseinandersetzungen mit Straßenkindern und die Tyrannei des Vaters. Nach einer Flucht aus dem Haus erhält er auf dem Straßenbahngleis einen elektrischen Schlag, wobei er zwar fast zu Tode kommt, aber auch eine mystische Vision erlebt, nach der er eine schlafähnliche Ruhe findet. »Es ist kaum möglich, der Rolle, welche die Sprache in Call It Sleep spielt, volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen«, bemerkt Morris Dickstein in seiner Kulturgeschichte der Großen Depression Dancing in the Dark (2009) treffend. In Deutschland eliminierte die erste Übersetzung Curt Meyer-Clasons (die 1970 bei Kiepenheuer & Witsch erschien) die sprachliche Dimension des Romans gänzlich, da sich der Übersetzer nicht in der Lage sah, den Dialekt der jüdischen Emigranten aus Osteuropa wiederzugeben. Erst in der zweiten Übersetzung Eike Schönfelds (die 1998 ebenfalls bei Kiepenheuer & Witsch erschien und nun in einer Neuauflage wieder verfügbar ist) unternimmt der Übersetzer den Versuch, das »plumpe, beschränkte Englisch der Immigranten« (Dickstein) in ein entsprechendes deutsches Idiom zu übersetzen. Zur Illustration mag ein kurzer Textausschnitt aus einer Szene dienen, in der David die Habseligkeiten seines Vaters aus dem Spind seiner ehemaligen Arbeitsstelle abholen soll. Im Original lautet die Passage: »I – I'm Albert Schearl's son«, he blurted out. »He sent me I shuh ged his clo's f'om de locker an' his money you owing him.« In der ersten Übersetzung liest sich die Passage wie folgt: »Ich – ich bin Albert Schearls Sohn«, stieß er hervor. »Er hat mich geschickt, ich soll seine Kleider aus seinem Spind abholen und sein Geld, das du ihm schuldest.« In der zweiten Übersetzung lautet die Passage: »Ich – ich bin der Sohn von Albert Schearl«, platzte er heraus. »Der hat mich geschick, damit ich seine Sachn ausm Spind holn soll un das Geld, so Se ihm schuln.« Auch wenn die Übersetzung nicht mit vollständiger Genauigkeit die Sprache des Originals übertragen kann, ist sie dem englischen Text weitaus näher als die Übersetzung Curt Meyer-Glasons, der sich zwar als »Zwillingsbruder des Autors« (wie es in einem Porträt des Goethe-Instituts aus dem September 2010 hieß) betrachtete, doch im Falle Henry Roths der Sprache des Protagonisten eine tadellose Grammatik überstülpte, welche die Spuren von Armut und Entfremdung tilgte und so den Roman verstümmelte. Trotz der künstlerischen Exzellenz, die Roth in seinem Erstling unter Beweis stellte, geriet ihm der Roman in den Folgejahren aus verschiedenen Gründen zum Trauma. Aufgrund der Wirtschaftskrise blieb der Verkaufserfolg aus, und das Buch verschwand für dreißig Jahre in der Versenkung, ehe es im Zuge der »Paperbackisierung Amerikas« neu entdeckt und als moderner Klassiker gefeiert wurde. Zum anderen war die Aufnahme des Buches im kommunistischen Milieu jener Jahre weitaus weniger enthusiastisch, als es die Kritik des Partisan-Review-Rezensenten vermuten ließ. »Es ist schade«, bedauerte der Kritiker der einflussreichen kommunistischen Wochenzeitung The New Masses, »dass so viele junge Autoren aus dem Proletariat keinen besseren Gebrauch ihrer Erfahrungen der Arbeiterklasse machen, denn als Material für selbstbeobachtende, fiebrige Romane.« Wie viele Autoren seiner Generation lebte Roth im Spannungsfeld von Kunst und Politik: 1933 trat er der Kommunistischen Partei bei, um sich selbst zu erretten (wie er später in einem Interview sagte), konnte sich jedoch nie als Künstler in den politischen Kontext der Partei einordnen. Zum anderen war er von der Protektion der Literaturwissenschaftlerin Eda Lou Walton abhängig, die in New York einen literarischen Salon führte und Roth beim Schreiben von Call It Sleep maßgeblich unterstützt hatte. »Aus Gründen, die Roth nicht erklären konnte«, schreibt der Literaturhistoriker Alan Wald in seinem Buch Trinity of Passion (2007), »war er von älteren und stärkeren Menschen abhängig, die für ihn sorgten ...“ Der Eintritt in die Kommunistische Partei war der letztlich erfolglose Versuch, sich von der Bevormundung Waltons zu befreien, endete aber lediglich in der Unterordnung unter eine neue Autorität. Die Überantwortung an das politische Engagement in einer totalen Ideologie sollte ein Korrektiv für seine Schuldgefühle sein, die er aufgrund inzestuöser Beziehungen zu seiner Schwester und Cousine hegte, doch war es eine fehlgeleitete Therapie. »Der Versuch, mit einem Blick auf die Revolution oder auf die Partei, zu schreiben, mit einem Höchstmaß an sozialem Bewusstsein zu schreiben, war ... nicht das, worauf ich aus war«, sagte er 1977 im Rückblick. Das Projekt, Call It Sleep einen Roman über einen deutsch-amerikanischen Kommunisten namens Bill Clay, der als sein politischer Mentor fungierte, folgen zu lassen, scheiterte, und frustriert verbrannte Roth das Manuskript. 1938 verbrachte er einige Zeit in der Künstlerkolonie Yaddo in Saratoga Springs (New York), wo er zwar nicht seine literarische Produktivkraft zurückerlangte, aber seine künftige Frau, die Musikerin Muriel Parker, kennenlernte. Mit dieser neuen Beziehung versuchte Roth, sich vom Alp der Vergangenheit zu befreien und aus der Abhängigkeit Waltons zu lösen, wählte aber zunächst die Flucht aus New York nach Los Angeles, wo er sein Glück als Drehbuchautor machen wollte. In Hollywood wurde er jedoch schroff abgewiesen, und er kehrte auf einem »Hobo-Trip« nach New York zurück. Die Trennung von Walton (die ihn in Hollywood trotz allem immer noch mit Geldzuwendungen unterstützte) vollzog er, doch seine Karriere als »kommerzieller Schriftsteller« endete 1940 nach drei Veröffentlichungen im New Yorker. Erst vierzehn Jahre später, nachdem sich der gefeierte Autor im ländlichen Maine selbst begraben hatte (wie der italienische Literaturwissenschaftler Mario Materassi 1987 im Vorwort zu der Textsammlung Shifting Landscape schrieb), publizierte Roth, der unter anderem eine Farm für Wasservögel betrieb, wieder einen Text – und zwar im Magazine for Ducks and Geese. »Ich hörte auf, ein Schriftsteller zu sein«, sagte Roth und beschrieb die langjährige Schreibblockade als eine neurotische Depression, als wäre er vom Dibbuk, von dem jüdischen Totengeist, besessen, der seine Schaffenskraft abgetötet habe. Obwohl Roth sich als »dieser tote Schriftsteller« bezeichnete, befreite er sich auf wundersame Weise aus den Fängen des Totengeistes. Nach dem Tod seiner Frau Muriel im Jahre 1990 veröffentlichte er das unvollendet gebliebene vierbändige Romanwerk Mercy of a Rude Stream (1994-1998; dt. Die Gnade eines wilden Stroms), in dem Roth sich an die verlorene Zeit zwischen 1914, als die Familie des Protagonisten Ira Stigman nach Harlem zieht, bis zur Mitte der 1920er Jahre, als Ira den Weg aus der Enge des jüdischen Immigrantenmilieus in die Boheme-Welt des New Yorker Greenwich Village wagt. Zweitausend Seiten des Manuskripts blieben in der veröffentlichten Version (die nach dem Tode Roths im Jahre 1995 vor allem von seinem Agenten Robert Weil verantwortet wurde) ausgespart, und auch ein weiteres voluminöses Manuskript, das 1900 Seiten umfasste und von Roth als »Stapel 2« tituliert wurde, stellte ein Textmonument dar. Steven G. Kellman bezeichnete es in seiner Roth-Biografie Redemption (2005) als »amorphe Klumpen von Anekdoten und Reflexionen«, die auf die Arbeit eines engagierten Lektors warteten, um in eine dramatische Form gebracht zu werden. Diese Arbeit hat der ehemalige Literaturredakteur des New Yorker, Willing Davidson, unternommen, wobei das Resultat seiner editorischen Leistung zwiespältig ist. Sicherlich ist der Roman An American Type (dt. Ein Amerikaner) nicht »Roths letzter Roman«, da aus dem Manuskript eine polierte Form extrahiert wurde, die Roths komplexer, mehrschichtiger Darstellung von Realität und Erfahrung (wie er sie in Mercy of a Rude Stream entwickelte) kaum gerecht wird. Die Arbeit des Lektors habe in erster Linie darin bestanden, schreibt Davidson in seinem Nachwort, »herauszufinden, welche Manuskriptteile für die Geschichte verzichtbar waren und welche nicht«. Obwohl das Manuskript auch Ereignisse und Reflexionen aus der Mitte und dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts enthielt, beschränkt sich die editierte Version auf die Jahre zwischen 1938 und 1940, als Roths alter ego Ira Stigman in Yaddo seine kreativen Kräfte zu reanimieren sucht, sich in die Frau, die nur als »M.« benannt wird, verliebt, mit seiner Mentorin Edith bricht, nach Westen flieht, in Hollywood scheitert und nach New York zurückkehrt, wo er eine Karriere als kommerzieller Autor zu starten versucht. Eingerahmt wird dieser Ausschnitt von Reflexionen des alten Ira, der in Albuquerque (New Mexico) seine Frau verliert und ausgelaugt in der sterilen Landschaft zurückbleibt. »Nicht liegt es an dir, das Werk zu vollenden«, zitierte Roth in Requiem for Harlem (1998) das talmudische Diktum. Tatsächlich ist Ein Amerikaner lediglich ein kommerzielles Substrat, das die Sperrigkeit oder die Formlosigkeit der Texte Roths eliminiert. Ironischerweise lieferte Roth selbst das Argument gegen den Lektor seines posthumen Romans. Eine Literaturagentin versucht Ira zu überzeugen, auf persönliche Empfindlichkeiten zu verzichten, um erfolgreich im Literaturbetrieb zu sein. »Sie opferte das Leben für das Schema«, heißt es im Roman. »Das Schema hatte Ira noch nie gemeistert; er glaubte aber, ein Gespür für das Leben zu haben.« Am Ende triumphiert der kommerzielle Literaturbetrieb, dessen Agenten entscheiden, was aus Roths »amorphen Klumpen« verzichtbar ist oder nicht.
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