Schwerwiegende Fragen, ganz leicht: Peter Stamms »Sieben Jahre«
München, Sommer 1989. Alex wartet auf den Abschluss seines Architekturstudiums, das er mit einer Zwei bestehen wird. Was danach kommen soll, ist ihm nicht so ganz klar. Seine Kommilitonin Sonja weiß dagegen genau, was sie vom Leben nach ihrem Einserabschluss erwarten wird: Erfolg mit einem eigenen Büro, eine glückliche Familie, ein Haus am See. Zielstrebig angelt sich die schöne, kluge, rationale Sonja bald darauf Alex als Mann fürs Leben. Er sieht schließlich gut aus, ist ein verlässlicher Partner für das Architekturbüro – und von den Kandidaten aus ihrer Clique sicherlich die erste Wahl. Alex lässt sich willig einfangen, auch wenn er stets von Zweifeln geplagt wird, ob ihn Sonja wirklich liebt. In ihrer Umgebung fühlt er sich befangen, ihre großbürgerliche Herkunft, ihre kühle Rationalität geben ihm das Gefühl, höheren Ansprüchen nicht zu genügen.
Wie anders ist das Zusammensein mit Iwona für Alex. Er hat sie zufällig kennengelernt, auch sie hatte ein Auge auf ihn geworfen. Iwona kommt aus Polen, sie lebt ohne Papiere ziemlich ziellos in München, ihren Unterhalt verdient sie mit Aushilfsjobs und mit Putzen. Äußerlich reizlos, langweilig, ungebildet, stellt sie eigentlich keine Konkurrenz für Sonja dar, aber Alex kann sich ihr dennoch nicht entziehen. Er genießt das unkomplizierte Beisammensein mit ihr, die nichts von ihm fordert. Dabei bietet sie ihm nicht einmal sexuelle Leidenschaft. Iwona liebt Alex einfach, und in ihrer schlichten polnische Volksfrömmigkeit ist sie überzeugt, Gott werde schon alles in ihrem Sinne richten. Die kommenden Jahre sind für Alex von dem Gegensatz der beiden Frauen geprägt. Die Planetenbahnen von Sonja und Iwona kreuzen sich, als Iwona ein Kind von Alex bekommt, während die Ehe mit Sonja gegen den Wunsch der beiden kinderlos bleibt. Dass Sonja akzeptiert, Iwonas Kind zu adoptieren, macht die Dinge nicht einfacher, und als das gemeinsame Büro in die Insolvenz schlittert, beginnt eine tiefe Krise für Alex und Sonja.
In klugen Rückblenden erzählt Peter Stamm die Geschichte von Alex, Sonja und Iwona über den Zeitraum von 1989 bis 2007, also eigentlich über mehr als die sieben Jahre, die der Titel suggeriert. Stamms knappe, konzise Sprache ist von Berufeneren schon hinlänglich gelobt worden. »Sieben Jahre« besticht aber vor allem durch seine Hauptfiguren. Was sie fühlen oder denken, offenbart sich in erster Linie durch ihre Handlungen. Da steht eine Frage, die unbeantwortet im Raum bleibt, da versucht einer einen Kuss, der ihm linkisch verwehrt wird – so skizziert Stamm vor allem durch Weglassen seine Charaktere und ihr Gefühlsleben in plastischer Klarheit. Selbst der Icherzähler Alex erspart uns direkte Tiefenbohrungen in seine Seele. Das macht das Buch angenehm flüssig zu lesen, die dramatischen Wendungen und auch die fundamentalen Fragen, die die Geschichte aufwirft, werden in leichte Hüllen verpackt, es ist die Geschichte, die einen einfach fesselt. Man will bis zum Schluss wissen, wie es weitergeht mit den Figuren.
Natürlich ist die fast klassische Dreiecksgeschichte in hohem Maße und mit viel Kunstfertigkeit durchkonstruiert. Sie vermeidet Klischees, dabei merkt man ihr nie an, dass da jemand lang und sorgfältig an den Details gefeilt haben muss. Alles wirkt wie natürlich gewachsen, wie eine Geschichte aus dem Leben, die ein Freund einem erzählt oder die einem vielleicht sogar selbst passiert sein könnte. Klar, hier steht wie in vielen anderen Liebesdilemmas Ratio gegen Gefühl, aber das ist schließlich Peter Stamm und nicht Rosamunde Pilcher. Und so ist die gefühlige Iwona hier eben weder innig, noch schön, noch leidenschaftlich. Dass die Handlungen der Figuren ohne große Erklärungen immer plausibel bleiben, das zeugt von Peter Stamms großem Können.
Natürlich hat der Roman ein Thema, das über der eigentlichen Handlung steht. Die Kernfrage von »Sieben Jahre« lautet, ob es wohl besser ist zu lieben als geliebt zu werden. Geschickt verteilt der Autor die Zuneigung unter seinen Figuren: Iwona liebt Alex, doch die beiden kommen nicht zusammen und doch lassen sie nicht voneinander. Sonja und Alex: Das ist auf den ersten Blick die erwiderte, erfüllte Liebe – und doch bleiben Zweifel, zieht es die beiden auch wieder auseinander. Keiner ist restlos glücklich in diesem Roman, Peter Stamm überlässt es am Ende dem Leser zu entscheiden, wer es nun am besten oder am schlimmsten getroffen haben mag. Dabei bleibt am Ende eigentlich keine Entscheidung offen, die Protagonisten haben ihre Wahl getroffen, bis zum bitteren Ende.
»Sieben Jahre« ist eine Geschichte, über die man als Leser lang diskutieren kann, die Figuren bleiben einem lange im Sinn. So wie Picasso mit drei zielsicheren Tuschestrichen das Wesen eines Stieres erfassen konnte, schafft es Peter Stamm auch, in wenigen Sätzen ein Zeit- und Milieubild zu skizzieren, das in all seiner Knappheit geradezu beängstigend stimmig wirkt. Wie er die Schicht der wohlhabenden säkularen Freiberufler und ihrer studierenden Kinder zeichnet, wie er die Stimmung des Sommers 1989 in diesen Kreisen einfängt, ja auch, wie er die Lebenswelt von München erfasst und seine Figuren an Orten wohnen und wirken lässt, die ganz genau stimmen und dabei eben nicht gewollt wirken, das verblüfft einen. Ja, genau so reden diese Leute, ja, an diesen Orten, in solchen Häusern wohnen sie, ja, so verhalten sie sich.
Vermutlich ist es die Summe derartiger Preziosen, die diesen Roman zu einem grandios funkelnden Ganzen werden lassen. Und wie all das in knapp dreihundert luftig gesetzte Seiten unterzubringen war, bleibt wohl Peter Stamms Geheimnis.