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12. September 2011
Martin Jankowski
für satt.org
  Ildar Abusjarow: Trolleybus nach Osten

Ildar Abusjarow:
Trolleybus nach Osten.

Erzählungen. Weissbooks 2011.
214 Seiten, 19,80 Euro.
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Klang des Ostens

Dies ist definitiv ein anderer Sound, als wir ihn derzeit von den jungen Milden des Berliner Literaturgewerbes gewohnt sind: Der 1975 geborene, tatarisch-russische Autor Ildar Abusjarow aus Moskau beschreibt in seinen Erzählungen die Welt aus der Sicht junger Männer, die sich weitab westlicher Metropolen, tief im eurasischen Osten des Kontinents, des Lebens zu erfreuen versuchen. Mit virtuosen Texten, deren Klangfarben die Berliner Literaturwissenschaftlerin Hannelore Umbreit feinfühlig aus dem Russischen ins Deutsche übertrug, werden wir in Lebenswelten entführt, auf deren europäischen Grundton östlichere Kadenzen mitschwingen. Diese andersartigen Klänge sind es, denen Abusjarow explizit nachspürt und denen er selbstbewusst und mit großer sprachlicher und erzählerischer Bandbreite einen eigenen literarischen Raum schafft.

Eine Mischung aus Provinzalltag, schattenhafter sowjetischer Vergangenheit und neu-islamischer Gegenwart bildet den Hintergrund für die titelgebende Erzählung »Trolleybus nach Osten«, einer ganz und gar nicht romantische Beinahe-Liebesgeschichte, die dennoch voller Wärme und Lebendigkeit erzählt wird. Beinahe-Liebesgeschichten sind die neun Erzählungen dieses ungewöhnlichen Bandes eigentlich allesamt. Was sie außergewöhnlich und lesenswert macht, sind die Stimmen der unterschiedlichen Erzähler, die mitten in den Verstrickungen des alltäglichen Lebens mit jeweils eigener Tonlage eindringlich, bildreich und von starken Gefühlen geschüttelt von ihren Wünschen, Ängsten und Träume berichten. Je mühseliger der Alltag, umso kraftvoller die Phantasien. So erzählt ein Blinder in »Die Kehrseite des Dunkels« mit der mythischen Inbrunst eines altgriechischen Helden von seinem Lebensalltag und macht so die dramatische Intensität seines Innenlebens erfahrbar. Im Kontrast dazu wird in »Albnachtschwüle« mit Kaskaden baltisch klingender Namen und skurrilen Details, mit scheinbar putzigen Episoden sowie ungewöhnlichen Dialogen und Metaphern das abgründige Liebesleben eines jungen Paares so beschrieben, dass man die beiden nach wenigen Seiten schon seit Jahren zu kennen glaubt und sich die trollhafte Atmosphäre ihres (finnischen, karelischen, estnischen?) Lebens genau vorstellen kann - auch wenn im Text gar kein konkreter Ort für die Handlung benannt wird.

Das Besondere an Abusjarows Sounds: Es sind zumeist männliche Stimmen und explizit männliche Idiosynkrasien, die sich mit ganzer Wucht ausbreiten – innere Monologe, die sich entwickeln, aufbauen, entfalten; ungebrochene männliche Energien, die sich an der Gegenwart, die keiner männlichen Helden mehr bedarf, blutig reiben. Und die deshalb das, was ihnen in der Gegenwart fehlt, an den Wurzeln, bei den Ahnen, im geistigen Kontakt mit den alten Mythen suchen. Im »Dschingis-Roman« etwa reitet ein verliebter jugendlicher Plattenbaubewohner im Rausch der Hormone seinem Untergang entgegen und die Wohnblocktristesse wird zur wilden tartarischen Steppe. In der Erzählung »Die Beduinin« verwandelt sich eine Zahnärztin in den pathetisch-lyrischen Gedankengängen ihres Patienten zu einer orientalischen Schönheit und zur strahlenden Heldin seiner eigenen großartigen Lebensphantasien. In dem kurzen, poetischen Text »Das Segelschiff des Ulyss« verbinden sich griechische und islamische Mythologien zu einem funkelnden Kleinod, dessen kristallklare Sätze ein rätselhaftes Schweben erzeugen.

Ildar Abusjarow, 1975 in Gorki (Nischni Nowgorod) geboren, ist Tatar islamischen Glaubens. Er lebt als Autor und Journalist in Balaschicha bei Moskau. Der Erzählband »Trolleybus nach Osten«, bei Weissbooks erschienen, ist seine erste deutsche Buchveröffentlichung. Abusjarow gestaltet darin Stimmungen, Tonlagen und atmosphärische Szenarien von überzeugender Dichte und beschreibt das heutige Russland literarisch aus ungewöhnlicher Perspektive. Das macht neugierig auf seine Romane, von denen bislang noch keiner in Deutsche übersetzt wurde. Die kraftvollen Texte seines Erzählbandes widmen sich jenen Energien, die der Zeitgeist heimatlos und unsichtbar gemacht hat: Den im Niemandsland des Banalen existierenden Varianten des ungeschminkt Männlichen - und den großen alten Mythen des eurasischen Raums. Abusjarow umgeht souverän alle literarischen Peinlichkeiten: Weder wird er sentimental noch gibt er seine Helden der Lächerlichkeit Preis. Auch wenn er immer wieder deutlich auf die literarische Konstruiertheit seiner Figuren hinweist: Ihr Pathos und ihr träumerischer Enthusiasmus wirken ungebrochen und verschweigen dennoch nicht ihre Vergeblichkeit und Unangemessenheit. Angesichts der Mühsal des Alltags seiner Helden dürfen bei ihm in jeder Lebenslage die ganz großen Gedanken ausgesprochen, die Sehnsucht nach vollendeter Schönheit und die höchsten Ansprüche an das Leben ausformuliert werden. Der lebenstrunkene Stolz dieser Stimmen überstrahlt jede der unvermeidbaren Niederlagen. In ihrer Verlorenheit wirken Abusjarows heißblütige Helden aufrichtig und liebenswert. Ihre überbordenden Bewusstseinsströme ziehen den Leser Wort für Wort in ihren Bann und berühren jenen Teil, den wir nur zu gerne hinter den nüchternen Attitüden der Aufgeklärtheit verstecken. Die, nun ja, gebildete Wildheit dieser Texte bietet eine andere Tonart: Eine lohnende literarische Horizonterweiterung.