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4. Dezember 2011
stefan heuer
für satt.org
  Jan Kuhlbrodt: Zentralantiquariat. Gedicht.
Jan Kuhlbrodt: Zentralantiquariat. Gedicht. Parasitenpresse Köln, Lyrikreihe Band 25, 2. Auflage September 2011. 14 Seiten, 5,00 €
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... und von Freiheit kann noch gar nicht die Rede sein
Jan Kuhlbrodt öffnet sein Zentralantiquariat für Besucher

Antiquariat – was für ein wundervolles Wort! Sofort schießen mir kleine verwinkelte Räume mit Regalen bis zur Zimmerdecke in den Kopf, ein wildes Gewimmel von Buchrücken, der einzigartige Geruch des Papiers. Das Lieblings-Antiquariat meiner Heimatstadt; ein Ort zum Suchen und Finden, zum Träumen und Schwelgen, ein Ort zum (Wieder)Entdecken und zum Sich-Vergessen. Meine Assoziationen decken sich nur bedingt mit der Definition, welche die freie Enzyklopädie Wikipedia für das Wort Antiquariat anbietet. Dort beschreibt man es hochgradig unromantisch als ein auf alte und gebrauchte Bücher spezialisiertes Geschäft, in dem neben Büchern oftmals auch Graphiken, Zeitungen & Zeitschriften, Musikalien, Ansichtskarten, Autographen oder sonstige bibliophilen Kostbarkeiten veräußert werden – im weitesten Sinne steht es damit in Konkurrenz zu Buchhandlungen, Flohmarkt und Ebay.

Aber wie gesagt: Ein Antiquariat kann so viel mehr sein! Und was bei Wikipedia nicht gesagt wird und auch an anderer Stelle zu leicht unter den Tisch fällt: Bei Büchern handelt es sich nicht um leblose Gegenstände, sondern um alte oder neue Freunde, nicht nur um Daten-, sondern vor allem auch um Erinnerungsträger. Und nicht zuletzt handelt es sich bei einem Antiquariat auch um ein Archiv auf Zeit, um verstautes Wissen, welches durch den Faktor Käufer der Fluktuation unterworfen ist.

Jan Kuhlbrodt, geboren 1966 in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, hat ein solches Antiquariat zum titelgebenden Gegenstand seines aktuellen, gerade in zweiter Auflage bei der Parasitenpresse erschienenen Gedichtbandes gemacht. Bei ihm ist es gar ein "Zentralantiquariat", also eine den Bestand mehrerer Antiquariate umfassende Ansammlung. Wie bei mir, hält sich der kommerzielle Charakter dabei auch bei Kuhlbrodt im Rahmen bzw. dezent im Hintergrund, und so besteht sein Zentralantiquariat auch nicht aus in langen Reihen stehenden, auf Käufer wartenden Buchreihen, sondern aus Umzugskisten, die in einer undichten Garage ihr Dasein fristen und als Symbol für eine in Teilen zwar verdrängte, aber bei weitem nicht vergessene Lebensgeschichte fungieren.

Gemeinsam mit dem Leser öffnet Kuhlbrodt seine Umzugskartons. Wie es bei einem literaturinteressierten Menschen zu erwarten ist, beinhalten seine Kisten natürlich viele Bücher unterschiedlichster Couleur und Epochen. Dante, Jazz und Pound flankieren einen Band mit schlammfarbenem Deckel / auf dem ein fünfzackiger Stern sich bemüht / nicht zu verschwinden wie die Goldschrift. Neben den Büchern finden sich weitere Stücke, die den in der eigenen Vergangenheit stöbernden Autor in seine Kindheit (... / waren Tiere eigentlich auch kommunistische Tiere, wie Scharik / der Hund, der den Wehrmachtssoldaten so manchen Streich spielte, / mit Janek, Gustlik und Gregori eine Panzerbesatzung abgab? / ...) und Jugend zurückversetzen: familiäre Devotionalien wie das schlampig geführte Reichsarbeitsbuch des Großvaters ebenso wie die eigene Person betreffende Unterlagen und Mitgliedsausweise verschiedener Massenorganisationen – der "Ausweis der Freien Deutschen Jugend", der "Ausweis der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft" und andere, jeweils ohne das herausgerissene Passbild, das für den jeweils nächsten Ausweis benötigt wurde. Wichtige Stationen im jungen sozialistischen Leben, die mir als zu Beginn der 1970er Jahre in Westdeutschland geborenem Menschen noch immer als fremde Welt erscheinen müssen – da ich weder bei den Pfadfindern noch bei der Feuerwehr engagiert war, klebte mein Foto nicht in Ausweisen, sondern während der Saison 1982/83 im Panini-Sammelalbum, was mir ermöglichte, weitestgehend trainingsfrei in den Kader des FC Bayern München zu gelangen...

Wer sich diesem sich über 11 Seiten erstreckenden Langgedicht aufmerksam nähert, findet neben persönlichen Spuren auch konkrete Kritik am System. Von sächsischen Krähen ist die Rede, die zum Jahreswechsel in Mittelitalien krächzen und damit eine Reisefreiheit genossen, die den meisten DDR-Bürgern vor Eintritt ins Rentenalter versagt blieb. An mehreren Stellen des Gedichtes der Hinweis auf den zeit-/teilweise erzwungenen Verzicht auf die eigene Identität (... // Ein Geruch nur, sein Name / sei Dachs. //... – in Anlehnung an Max Frischs Roman "Mein Name sei Gantenbein"). Und der wohl beeindruckendste Satz, der die persönliche Retrospektive auf den wunden Punkt bringt: ... // ich bin in einem Zustand in dem einiges / verloren geht und der Rest überkront wird. – das alles in einem politischen System, das den vielfältigen Mangel auf lange Sicht nicht schönreden konnte:

nicht dass da ein Stuhl ist, sondern etwas
nicht dass da kein Stuhl ist, sondern nichts

Es ist lange her, dass ich ein so persönliches Gedicht gelesen habe, ein Gedicht, in dem der Autor so intensiv und vielschichtig auftaucht, in dem er ununterbrochen präsent ist. Schonungslos zu sich selbst spart Kuhlbrodt auch sein körperliches Leiden, die Nervenerkrankung Multiple Sklerose, nicht aus (... // in den lichten Momenten den helleren Tagen / an denen das Gehen gelingt wie das Gehen gelang, / als sei Fortbewegung aus eigener Kraft / reine Selbstverständlichkeit ...).

Frieden mit sich und der eigenen Vergangenheit zu schließen, einen versöhnlichen Abschluss hinzulegen und irgendwann zumindest größtenteils zufrieden auf das eigene Leben zurückblicken zu können, das ist wahrscheinlich der zweitgrößte Wunsch vieler Menschen (Platz 1: beizeiten friedlich einzuschlafen und einfach nicht mehr aufzuwachen). Und wie gut, dass Jan Kuhlbrodt auf der letzten Seite auf die Liebe zu sprechen kommt, verbunden mit den letzten beiden Zeilen, die da lauten: jenseits der Berge / und diesseits des Meeres, was, wie einige wissen dürften, dem Titel des letzten Romans seiner Frau Martina Hefter mehr als zufällig nahekommt.

Frieden mit der Vergangenheit schließen – Jan Kuhlbrodt ist, seinem Gedicht "Zentralantiquariat" zufolge, auf dem besten Wege.