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23. März 2012 | Robert Mattheis für satt.org |
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Mit der Straßenkarte von Groß-London durch den Harz. Eine Würdigung Alexander Kluges aus Anlass seines 80. GeburtstagesIn einem Interview, das der Spiegel im Jahr 2000 mit ihm führte, wehte Alexander Kluge noch ein kühler Wind entgegen. Gerade hatte die deutsche Literatur ihre Unschuld wiedergefunden, die Freude am Erzählen neu entdeckt. „Pop“ machte es auf dem Buchmarkt, stilvoll verarmend feierte die Jungautorenszene in Berlin das Jetzt. Da legte der Suhrkamp Verlag, damals noch in Frankfurt beheimatet, zwei Trumms, jeweils etwa 1000 Seiten stark, in die Regale der Buchhandlungen: die Chronik der Gefühle. Schwere Kost war das, hartes Lesefutter, theoriesatt und unberechenbar. Das Gegenteil von Pop. Nicht der schöne Sprachklang stand im Vordergrund (zuweilen tendierte der Stil zum knarzenden Kanzleiton), sondern der differenzierte Gedanke. Das liebe Jetzt wurde auf diesen zweitausend Seiten vor das Panorama der Weltgeschichte geschoben, als wäre dies das Normalste von der Welt.Die Spiegel-Redakteure fragten kritisch nach: Ob Autorentugend nicht darin bestehe, das Zeitgeschehen exemplarisch in einem stringenten Handlungsverlauf zu fassen – anstatt es, nach dem Muster des Internets, auszufransen, so als webte die alte Dame Arachne höchstpersönlich ihre Spinnennetze? Eine solche Respektlosigkeit würde sich heute keiner mehr trauen. Auf die Chronik der Gefühle folgte 2003 Die Lücke, die der Teufel lässt und stellte sich monumental mitten in die Diskurslandschaft. Das Cover zeigte das gespenstische Skelett des Ground Zero. Aus zahllosen Blickwinkeln zoomte Kluge in kurzen Stories das schon verdächtig gewordene neue Jahrtausend heran – mal in der Verkleidung des Militärhistorikers, mal in der des Politpaparazzos. Auch mit Das fünfte Buch, dem jetzt veröffentlichten fünften Band seines Erzählungsgroßunternehmens, schreibt Kluge sein Projekt, für die Wirklichkeit zu interessieren, fort. Umfänglich schon das Register der handelnden Personen: Kleist; Ludwig Hegel, der uneheliche Sohn des Philosophen; die Geliebten Adornos; Nietzsche; Goebbels; Klaus Mann; Arno Schmidt; Lord Elgin; Aristoteles; Ernst Jünger; Goethe; Habermas; Luhmann; Berija... Der bildungsgesättigte, 402 Geschichten umfassende Band mit seinem klassisch-kategorischen Titel bildet den Schlussstein einer insgesamt etwa 4000 Seiten umfassenden offenen Erzählarchitektur, deren Fundament Kluge vor bald fünfzig Jahren mit den Lebensläufen legte. „Neue Lebensläufe“ heißt das neue Werk darum abbindend im Untertitel. Unermüdlich wandert Kluge, um eine seiner Lieblingsmetaphern zu zitieren, mit der Straßenkarte von Groß-London durch den Harz. Er spaziert durch die Welt und führt zusammen, was vielleicht nie beisammen war und dennoch zusammenpasst und kreiert so einen Surrealismus der Gelehrsamkeit, nicht unähnlich der berühmten zufälligen Begegnung auf einem Seziertisch zwischen einer Nähmaschine und einem Regenschirm. Das von ihm betriebene Themen-Karussell schleudert so wild Metaphern und Bilder heraus, dass man sich fragt, ob er nicht wie die Großmeister der Renaissance Gesellen und Angestellte beschäftigt. Karg der Ton, in dem Kluge von seinen lustvoll-abseitigen Wanderungen berichtet. Lakonik ist für ihn, neben der Empathie, die höchste Erzählertugend. Die große literarische Geste ist ihm fremd. So benötigt er nur eine Drittelseite, um seine Version der Anna Karenina zu erzählen. Was wie eine Unverschämtheit dem Titanen Tolstoj gegenüber erscheinen könnte, ist nur Höflichkeit gegenüber dem zeitgenössischen Leser, Rücksichtnahme auf dessen verstopften Terminkalender. Es war Kluges Freund Heiner Müller, der ihm, mit Verweis auf Tacitus, das Wesen der Lakonik nahebrachte. Der römische Geschichtsschreiber berichtet in seinen Annalen, wie „der tyrannische Kaiser Tiberius, der auf Capri sitzt, den angeblichen oder wirklichen Staatsverbrecher Sejan, seinen früheren Geheimdienstchef, töten lässt. Auch die Kinder Sejans will Tiberius umbringen. Das ist nach römischem Recht bei einem minderjährigen Mädchen, der 12-jährigen Tochter des Staatsverbrechers, verboten. Das Recht gebietet, nur mannbare’ Mädchen dürften hingerichtet werden. Deshalb muss der Henker dieses Kind erst vergewaltigen und so mannbar’ machen, ehe er es vom Felsen stürzt.“ Kluge resumiert: „Brutalität der Macht, Rigidität des Rechts, Kürze der Erzählung. Es war meine erste Begegnung mit Müller, und deshalb erzähle ich sie hier. Tacitus ist für mich seither ein Nachmittag, an dem mir Müller gegenüber sitzt.“ Auch für uns dauert dieser Nachmittag an. Wer erinnert sich nicht an die berühmten Müller-Gespräche, das Paff-Paff des Dramatikers interpunktiert von Kluges gedankenvollem: „Ja, ja.“ Diese Unterhaltungen sind, was vom Kulturmenschen übrig blieb. Große Rollenprosa, live produziert, prallvoll mit Denkanstößen und Aphorismen, ein Parforceritt übers Gelände der Geschichte und der Mythen. Nicht zuletzt sind diese Dialoge auch Lehrstunden in der Kunst der Freundschaft. So war das bestimmt ursprünglich gemeint mit dem Geistesmenschentum, denkt man, wenn man sieht, was die zwei aus einem Gespräch zu machen wussten. Kein Keifen, kein Beckmessern, kein Tanz auf Rasierklingen. Sondern diese ganz einfache Art von Eintracht: Ergänzung und Kooperation. Der Geist spendet Freundschaft – das ist sein eigentliches Geheimnis. Alexander Kluge, der Schriftsteller, Filmemacher, Anwalt und Produzent von Fernsehformaten ist gerade achtzig Jahre alt geworden, und sein Rang ist unangefochten. Man respektiert ihn als Vertreter einer vom Verschwinden bedrohten Spezies, man vertraut ihm blind, so wie er seinerseits Ovid vertraut oder seinem akademischen Lehrer Adorno oder seinem Lieblingsschriftsteller, Musil. Dessen Mann ohne Eigenschaften (Kluge schätzt den zweiten, unveröffentlichten Teil übrigens noch mehr als den ersten, weil er anregender sei) scheint auch eine Inspirationsquelle für Das fünfte Buch zu sein. Kluge praktiziert, was Umberto Eco im gleichen Jahr, da die Lebensläufe erschienen (1962), in einem einflussreichen Buch als „Offenes Kunstwerk“ namhaft machte. Selbst spricht Kluge von „Baustellen-Ästhetik“. Alles, was er tut, will das sagen, ist Teil eines work in progress. Allerdings ist sein Fortschrittsoptimismus in letzter Zeit wieder etwas gedämpft, wie er jüngst im Fernsehinterview mit Denis Scheck bekannte. Nach 1989 habe er alles für möglich gehalten, Glück auf Erden, Frieden –, doch jetzt lege sich der Schatten der Katastrophe von 1929 über die Tage. Was wir endlich ad acta gelegt glaubten – der unermüdliche Chronist legt es uns als brandneue Meldung zur Wiederaufnahme vor. Im Beipackzettel zu Das fünfte Buch heißt es, mit diesem Buch gelange „Alexander Kluges großes Erzählprojekt zu seinem Abschluss“. Das klingt nach Vermächtnis. Was meint Kluge selbst dazu? „Ja, das schreibt der Verlag!“ Wie alle wirklichen Werke ist auch dieses unabschließbar.
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