Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




17. juni 2012
Meinolf Reul
für satt.org
  Ulf Stolterfoht, Das deutsche Dichterabzeichen
Ulf Stolterfoht, Das deutsche Dichterabzeichen. Hörspiel. 56 Seiten, broschiert. Reinecke & Voß, Leipzig 2012. 8,00 Euro
» Verlag


Ein weiteres Hörspiel von Ulf Stolterfoht, kritische wälder, wurde im Ö1 Kunstradio gesendet (2006) und kann auf der Website von kunstradio.at nachgehört werden.

Ebenfalls empfohlen: Ulf Stolterfoht und der Lyrikkurs des Literaturinstituts Leipzig präsentieren Cowboylyrik. 64 Seiten, broschiert. roughbook 003, Holderbank (Solothurn) 2009. 8,00 Euro [Gedichte von Konstantin Ames, Tobias Amslinger, Julia Dathe, Diana Feuerbach, Claudia Gülzow, Gregor Guth, Sascha Kokot, Christian Kreis, Sascha Macht, Kerstin Preiwuss, Bertram Reinecke, Gerald Ridder, Eva Roman, Michael Spyra, Katharina Stooss, Mirko Wenig und Choleda Jasdany]
» engeler.de




Eins, zwei, drei – Lyrik ahoi!

„In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim. / Das sind schon zwei[.]“, dichtete Günter Eich 1966. „Zuversicht“ ist der Vierzeiler überschrieben.
Zu einiger Berühmtheit hat es die Enzensbergersche Konstante gebracht, derzufolge es in jeder Sprachgemeinschaft 1354 Leser anspruchsvoller Lyrik gebe. Diese Zahl ist vermutlich zu hoch angesetzt. Kein Grund jedoch für Kulturpessimismus, es ist auch keine neue Erscheinung.
Eine Erklärung für die schwache Position, die die Lyrik heute, und seit langem schon, einnimmt – und eine der Folgen, die sich daraus ergibt –, nennt Ulf Stolterfoht eingangs seines nun auch in Buchform vorliegenden Hörspiels Das deutsche Dichterabzeichen: „Im Zeitalter hoch entwickelter Prosa hat das Gedicht an Bedeutung verloren. In dem Maße aber, in dem es aus seiner natürlichen Umgebung verschwindet, wächst seine Beliebtheit als domestizierter Wettbewerbstext.“

Der Lyrikvortrag als Leistungsschau, oder anders: Die Lyrik als Betrieb ist das Thema von Stolterfohts „Radioessay“, wie der produzierende Südwestrundfunk das Stück keck klassifiziert.
Stolterfoht, der Listige, nimmt die sportive Komponente des „Schauwettbewerb[s]“ beim Wort und prägt seinem „fiktiven Feature“ (Verlag) konsequent das Vokabular des Pferdesports, genauer: des Derby, ein. „Stallwette“, „Distanz“, „Kommando“, „Zucht“, „Rekord“ – alles „ist am Start!“, um den Lyrikbetrieb karikierend kenntlich zu machen. Bereits der Titel, Anspielung auf das Deutsche Reiterabzeichen, deutet die rennpferdliche Sicht an, die die drei Sprecher einnehmen und mit einiger, launig daherkommender, Maliziosität beibehalten.
Stolterfoht geizt nicht mit Sottisen („Am Hindernis „Widmungsgedicht“ scheute der Text „Für Oskar Loerke“ und begrub seinen Verfasser unter sich“) und verteilt genüsslich leichte Schocks. „Der Decktext „Militär“ im Deutschen Literaturarchiv Marbach“... – Seitenhieb vielleicht auf dessen Architektur, die anderen Vorbildern zu huldigen scheint als der Bonner Kanzlerbungalow?
Das Fiebrige des Höher-Schneller-Weiter teilt sich auf jeder Seite mit, eine aufgekratzte Reportersprache zerrt die introvertierte Arbeit des Dichtens ins Scheinwerferlicht, „[a]uf der Bühne flattert bereits fröhlich ein weißes Banner mit den Namen der Sponsoren, in der Regel sind das Sparkassen und Energieversorger.“
Das liest sich spaßig, doch das Bild, das Stolterfoht von der Existenz als Erwerbslyriker entwirft, ist eines zwischen Desillusioniert- und Desperatheit.

„Machen wir uns doch bitte nichts vor!“ heißt der erste Satz, emblematisch wie das „Merdre!“ („Scheitze!“) in Ubu Roi. „Doch machen wir uns nichts vor [...]. [...] und gerade diesbezüglich braucht man sich nichts vorzumachen –“. Um nichts anderes geht es aber. Vormachen, sich selbst und anderen. „Singen gehen“, wie Böll das nannte, nur dass in Das deutsche Dichterabzeichen ausdrücklich die Wettbewerbslesung gemeint ist.
Der „Lehrling“ muss mit der „Jurybeschaffenheit“ vertraut sein – ist es eine „tiefe“, ist es eine „glasharte“ Jury? Exkurse zu den Themen: „Kleines Lesungs- oder Wettbewerbsglossar“, „Lyrische Typen – zur Einführung“, „Ein Tag bei den Texten“, „Die Vielseitigkeitsdichtung“ (in Analogie zum Vielseitigkeitsreiten) bringen Aufklärung über alles, was der angehende Dichter wissen muss. Aber es ist alles gefakt, oder fast: Unter der Maskerade ist das Gemeinte gut zu erkennen. Das Gemeinte und die Gemeinten.
So darf man es sicherlich als Kritik am Literaturbetrieb lesen (dem Stolterfoht als Gastprofessor am Deutschen Literaturinstitut Leipzig zeitweilig selbst angehörte), wenn neben dem „Urahn der heutigen Gedichte“, einem rund 50 Millionen Jahre alten „wieselgroße[n] Urtextchen“, die zeitlich jüngeren „Wildtexte“ aufgerufen werden, „die noch vor Zeiten weite Teile Europas besiedelten“, doch sich „mittlerweile den immer spezielleren Anforderungsprofilen unterworfen“ haben. „[E]ingerissene Referenz- und Bezugnahmebänder“ werden genannt und – so liest es sich – beklagt.
Tradierung, Textarchäologie, und als deren Ergebnis Textvielfalt, -variabilität sowie formale und
stilistische Freiheit – damit scheint es Stolterfoht ernst zu sein.
Auch die Warnung vor dem frühen Ruhm hat wohl einen ernsten Hintergrund. Sie impliziert die Ermutigung, sich mit dem Dichten Zeit zu lassen und nicht zu früh mit möglicherweise noch unfertigen Arbeiten an die Öffentlichkeit zu gehen. (Welche Anthologie gemeint ist, die, neben dem Großen Conrady und dem Ewigen Brunnen, als Dürftiger Vorrat – Lyrik zum Anfassen zitiert wird, mag jeder selbst erraten.)
Das deutsche Dichterabzeichen ist also auch ein Schlüsseltext, doch ohne skandalträchtiges Potential, mehr als belustigende Zugabe des Kreuzworträtselmanns gedacht.

Der Verlag Reinecke & Voß in Leipzig, bei dem Das deutsche Dichterabzeichen erschienen ist, wurde 2009 gegründet. Autorennamen wie Miron Białoszewski, Alexej Krutschonych, Georg Hoprich und Aloysius Bertrand, Verfasser des von Ravel in Musik gesetzten Gaspard de la Nuit belegen das Interesse des Verlegers an der Geschichte der europäischen Moderne, die durch die Hintertür auch im vorliegenden Buch präsent ist. Hinter Wladimir und Velimir, „Stammväter“ des Lyrischen Typs „Wladimirer oder Windältester“, verbergen sich keine anderen als Wladimir Majakowskij und Welimir Chlebnikov.