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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




26. August 2012
Kai Pohl
für satt.org

Bürgermeister Koch, verschiedene Kirchenbeamte und andere Vertreter der Regierung und des Immobilienhandels schritten durch die Vorstadt, um die Armut abzuschaffen und mit dem Dreck aufzuräumen, der übriggeblieben war. Einer der Immobilienmakler, lässig in Bluejeans gekleidet, sagte: „Poesie ist Scheiße.“

Kathy Acker


Poesie laboriert mit flüchtigen Agenzien: Situation, Wahrnehmung, Interaktion, Fiktion, Narration, Differenzierung, Grauen, Glück, Wiederholung ... Die Wiederholung als wirksamste Mitteilungsform, die wellenförmige Wiederholung der Wörter an einem Tag voll Weite, Wind und Zerrissenheit. Das Grauen schlägt sich nieder im Gedächtnis der Sprache, abgedroschen nach der x-ten Wiederholung in der tristen Textur eines Vorortbahnhofes. Man hört Kaugeräusche, dann eine Stimme; ganz leise spricht ein Daimon. Es ist die Sprache selber, die da spricht, die Schilderung des eigenen Erlebens auf eine Liste modischer Attribute reduziert, das eigene Leben als fortgesetzter Selbstversuch. Wenn ein Gedankengang mit zunehmendem Tempo in Übelkeit mündet, so nicht, weil die Stimme versagt, sondern weil das Bewusstsein ein Monstrum ist, das exakte Ergebnisse liefert.

Nur einmal als Tier in die Wolken starren, in keiner Sprache zuhause sein, außer im flirrenden Laubwerk, im Dröhnen des stürzenden Wassers. Doch die Stadt faselt weiter, sie rasselt und knirscht. Das Gras blüht allein in der Stille, die es nicht gibt. Stille ist ein Geräusch geworden. Es ist unmöglich, den gemischten Chor der Maschinen vom Lärmen der inneren Furien zu unterscheiden, o Nacht. Ich nahm schon Aspirin, und Umverteilung ist im Gange. Das Meer wird lau, die Berge glühen. Jetzt glaube ich an gar nichts mehr, schreibe Protokolle für Kommissionen, die unfrei sind. Das ist meine Rache an den Machern, die unfrei sind vor Ehrgeiz und Stolz, Stoff und Schmerz, unfrei vor Gewinnoptimierung. Es ist der Schmerz, der die Sinne trübt und das Messer führt, das den Schmerz herausschält. Ich bin für klare Verhältnisse, scharfe schnelle Schnitte.

Schreiben kann man alles mögliche, den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf. Poetologie verhält sich zu Poetik wie Kosmologie zu Kosmetik, Poetik zu Poesie wie die Optik zum Sehen. Ich schätze Gedichte als kluge Attacken gegen verbale Verwahrlosung, nicht als intellektuelle Wohlfühlübungen. Das Pathos, worin Police und Polis eine Bedarfsgemeinschaft bilden, überlasse ich der Pathologie. Ein Dichter ist schließlich kein Theoretiker oder, schlimmstenfalls, Politiker. Ein Dichter ist Vollstrecker einer Praxis, welche die Komplexität der Welt auf besondere Weise zugänglich macht. Der Slogan, ich schreibe, weil ich nicht anders kann, legt die Auflösung nahe, ich schreibe, weil ich nichts anderes kann. Und so, wie man ein gelungenes Essen gelegentlich ein Gedicht nennt, möchte ich nichts von einem Dichter serviert bekommen, der außer Schreiben nichts kann.

Das Geheimnis der Sprache liegt darin, daß sie Ungeahntes plausibel macht. Sprache, andererseits, hat keinen Schimmer, und es kommt noch schlimmer: Wörter sind, wie das Licht, masselos. Und weil niemand genau weiß, woher sie kommen, spielt es keine Rolle, woher man sie nimmt. Entscheidend ist, wofür man sie nimmt. Der Zweck heiligt die Wörter. Die Unnachahmlichkeit der Poesie speist sich aus den Bedingungen, unter denen die Gedichte entstehen. Das Gedicht als Prothese hinkt der Wirklichkeit hinterher: Wer mit der Mode geht, kommt immer zu spät. Die realistische These wird zum Werkzeug von Systemadministratoren. Die poetische Hypothese taugt gerade noch als Hypothek. Der Erlös eines Preises oder Stipendiums langt bei guter Führung ein Jahr. Das knappe Gut beim Schreiben ist Zeit, daher ist Schreiben ein Luxus. Die meisten haben Schlechteres zu tun.

Die Dichtung hat, wie das ganze Kunstsystem, den Zustand der Tabulosigkeit, der Auflösung aller Dogmen erreicht. Jetzt ist die Lüge wahr, Häßliches gilt als schön, das vorgeblich Gute hat nur Schlechtes bewirkt. Bejubelt wird, was das jämmerliche Grau der Zeit in Gold malt. Luxusdebatten werden geführt, über Gehalt und Verständlichkeit, Verzicht auf Pointen, Possen und Posen, Genitivverzicht. Wer selbstgewonnene Ansichten äußert, macht sich verdächtig. Die Weltanschauung wird kontrolliert durch Fernsehen, Internet, Smartphone & Co. Wer mit den Wölfen heult, darf weiterhin den Mond besingen. Die Rede von der Nutzlosigkeit der Kunst ist ein Bluff, um das Leben als Selbstzweck zu leugnen, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein. Je näher die Einschläge kommen, desto mehr ist das Überleben an die Verneinung der herrschenden Logik gebunden.

Wär’ die Liga egal, die Lüge stabil, wär’ der Nebel im Wald der Nabel der Welt. Doch man ahnt ja nicht, in dieser durchgestylten Gegend, ob die Häuser entlang der Straßen oder die Straßen entlang der Häuser gebaut sind. Nagel versenkt, Kabel gekappt, Balg abgestillt, Bewerbungstraining; die längste Kurzvita aller Zeiten. In der Sprache der Engel sind Wort und Welt beinah deckungsgleich. Sinn meint i. allg. etwas Nebulöses, Poesie meint i. allg. die Dichtkunst, Milch meint i. allg. Kuhmilch. Wo (besser: wodurch) entsteht ein Gedicht: Beim Schreiben? Beim Lesen? Oder erst, wenn es jemand versteht? Milch versiegt, wenn nicht gemolken wird. Ich habe aufgehört, nach einem Sinn zu suchen, nach dem Stil der Originalität, oder mit dem Arsch in Richtung Markt zu wedeln. Unsinn ist der einzige Hebel der Schönheit; der Stil hemmt die Kraft für den Wurf.

Sieben Gedichte, ein Siebengestirn, murmelt Benn, der nicht Gott ist, und wenn etwas vom Himmel fällt, dann eher ein glühendes Wrack. Die Umstände immer umständlicher, der Überfluß immer überflüssiger, die Wälder, Bienen, Blumen im Gelände nurmehr eine Legende, wenn im Moment das Irresein vorbeihuscht, gewandet in ein Fell aus Rationalität. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß ein Idiot den Verstand verliert. Geschichte kennt keine Notwendigkeiten, nur Zustände, die geduldet werden und die in Nichts versinken, sobald ihre Ursachen durchschaut sind und Menschen sich dagegen auflehnen. Der Faden der Geduld ist eine Geldschuld. Diese Suppe haben wir uns eingebrockt, und wer nicht kostet, ist nichts wert. Die Negation der Negation ergibt noch keine Position, das Gedicht am Ende eine unlesbare Aufgabe, ein Pentagramm aus Dentagard ...

Das Privileg, dem Schilfrauschen nachzuhängen, in seenreicher Gegend, wo das Leben zum Film, die Landschaft zum Cluster, die Kunst zum Geschäft gemacht wurde – ist es ein Dichterprivileg? Ist es der Nerd, der Verzweiflung nicht kennt, der Inspiration schöpft wie andere Wasser, sich in den Bunker zurückzieht, vermeinend, es sei der Elfenbeinturm, wo er Gedichte zum Zeitvertreib schreibt? Oden, die den Mangel nähren, rostige Andenken an die Zukunft, schlaflos in Wien auf Elektrosmog, schlaflos in Zürich, friedliche Stille als Luxus schlechthin. Über den Wolken in Ledersesseln Kaviar und Hummer genießen, sich dabei auf Szenarien des Elends vorbereiten. Im übrigen ist es der Luxus des Schriftstellers, Zeit zu haben, Metaphern, die sich nicht löschen lassen, geboren in einer Provinz, die es nicht gibt, als Nichtexistenz, als Höhlung am falschen Ort.

Gute Gedichte entstehen aus Mangel, wahrhaftige Dichter sind Laien. – Wo der Schriftstellerberuf eine anerkannte Profession ist, da erkennt der Berufsschriftsteller die Verhältnisse an. Ein Bäcker kann schließlich auch nicht mit Sägemehl backen. Der Berufsschriftsteller ist ein Apologet des Bestehenden, auch wenn er sich nicht explizit zur Staatstreue verpflichtet. Seine Einschätzung des Gemeinwesens ist nicht allzu weit entfernt von der eines Offiziers oder Finanzbeamten. Das Schreiben zum Broterwerb bringt allenfalls ästhetische Spekulationen hervor. Ein Spekulant feilscht aber nicht um den Status quo (wie unerträglich der auch sein mag); ein Spekulant feilscht um den Preis. – Besser Laie als Lakai, besser Rebell als Philister sein! Gute Gedichte sind Antithesen, in denen die Wirklichkeit als Hölle nicht zum Verschwinden gebracht wird.

Während Udo B. liest, schreitet Jürgen T. durch die Wiese, in Gedanken. Das Insekt auf der Schulter von Ralph G., eine Mischung aus Motte und Ameise. Lupinen und Nelken am Weg zum erloschenen Vulkanschlund, nahe der Kalten Buche. Kondensstreifen zwischen Zirren, die Wolken schieben den Wind vor sich her. O Nacht, ich nahm schon Aspirin, wo die Dichter der Welt auf der Fläche einer Centmünze zusammenkommen, streichen vermasselte Gelegenheiten mit dem Holzfeuerrauch durch die Weiden, deren Alter du schätzen lernst, nachdem du den Stamm gefällt hast, um seine Jahre zu zählen, nachts, nach dem Anpissen gegen die Zecken, am Nullpunkt der Verständigung, am Nullpunkt der Einsamkeit des Körpers, auf dem Urgrund der Wahrheitssuche. Wem gehört der Körper? Wem gehören seine Gesten, seine Zeit? Welcher Geist kontrolliert das Chaos nah am Nullpunkt?

Die Poesie ist ein Schatten des Wortes, die Tür als Hintertür, die Hintertür als Traum. Niemand kennt die Regeln. Die Poesie ist potentiell schon reine Theorie. Die einzige Gewißheit: sie ist vorhanden, auch wenn sie unwirklich erscheint, weder logisch noch kausal, nicht in Fakultäten organisiert noch anderweitig systematisch greifbar, und falls doch, dann kaum zu handhaben, ein amorpher, amphibischer Körper, der sich dem Zugriff entzieht. Wenn die Poesie ein Horrorladen am Rand des Hades ist, dann müssen wir festhalten: Diese Poesie ist nicht außer uns, sondern in uns. Sie ist nicht lesbar, gleichwohl müssen wir versuchen, sie zu entziffern. Soweit das Argument. Trotzdem ist Poesie keine Frage der Perspektive und schon gar keine objektive Tatsache. Poesie ist nicht die Wahrheit, sie ist die Wirklichkeit, die die Wahrheit zu Fall bringt.

Ich sollte mich anfreunden mit den Spinnen in der Küche, mit den Fliegen und den Milben, mit den Larven im Holz. Ich sollte die Mücken achten, die Hummeln im Hintern sowieso. Ich sollte mich besser mit den Spatzen verständigen, die in den Hohlräumen der Fassade hausen, mit den Tauben im Kastanienbaum, mit dem Fuchs und mit der Krähe, die gleich um die Ecke wohnen. Ich sollte meine Ungeduld den Wolken überlassen, den Worten und dem Licht. Ich sollte meine Schuld dem Holunder vermachen, meine Unschuld dem Nebel und dem Abendglühen. Ich sollte aufhören, diese abgewetzten Behauptungen zu wiederholen: Das Wetter spielt verrückt, das Wetter spielt verrückt – dabei kann das Wetter gar nicht verrücktspielen. Überholen ohne einzuholen klingt wie repetieren ohne zu kapieren, krepieren ohne gelebt zu haben. Das Laub der Birken rauscht wie ein Zitat.


Anfangszitat aus: Kathy Acker: „Wollust“. Erschienen in: Ultra light – last minute. ex+pop-literatur. Merve, Berlin 1990, S. 89.

Weiterhin mit teils abgewandelten Äußerungen von Theodor Adorno, Gottfried Benn, Volker Braun, Erich Mühsam, Rudolf Rocker, Igor Terentjew, Oscar Wilde, aus dem Alten Testament (Psalm 127), aus dem Internet, aus dem Untergrund und aus dem Volksmund.

Dieser Text ist zum ersten Mal erschienen in:
Literatur Vorarlberg (Hg.): Vorarlberger Zeitschrift für Literatur „V“, Heft 27: „Ein Lyrikkonfusionsreaktor“. 96 S. + 1 CD. Bucher Verlag, Feldkirch [Mai] 2012. 13 Euro, ISBN: 978-3-99018-116-4