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28. August 2012 | stefan heuer für satt.org |
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Mir träumte, ich träume, und das nicht zu knapp – Geißbock, Lippenstift, Tod & Teufel und ihr nächtliches ErscheinenÄhnlich wie die zumeist recht unförmigen Gebilde, die beim alljährlichen Bleigießen zu Silvester in der Wasserschale zurückbleiben, verfügt der Traum über ein schier endloses Deutungspotential. Auf diversen Internetseiten finden sich unzählige Begriffe samt der ihnen zugeschriebenen Deutungen. Ich selbst habe als Jugendlicher über viele Jahre den immer gleichen Traum gehabt, von einer Herde Esel, die mich eine schmale, plötzlich abbrechende Serpentinstraße hinauftrieb. Für Sackgassen gibt es schlüssige Deutungen, für das Reiten auf und das Füttern von Eseln auch, jedoch nicht in Kombination – bei meinem Traum mochte sich die konsultierte Therapeutin jedenfalls nicht endgültig festlegen. Die Deutung von Träumen hat eine lange Tradition, schon seit Jahrtausenden forscht die Menschheit. Entsprechend lang die Liste der einschlägigen Abhandlungen, von den alten Griechen bis Sigmund Freud (und inzwischen natürlich auch über ihn hinaus). Auch in der schönen Literatur ist der Traum als Ausprägung des Unterbewussten präsent und beliebt. Mit Die Wunderwelt, durch die ich schwebte, das Traumsequenzen aus der Literatur vereint, ist ein weiteres Buch zum Thema hinzugekommen. Wie dem auch sei – beweisen oder verhandeln lässt sich dies im Nachhinein eh nicht –: Da Die Wunderwelt, durch die ich schwebte eine literarische Anthologie und keine wissenschaftliche Arbeit ist, sind handwerklich ausgereifte und lebendige Schilderungen von Träumen für den Leser ohnehin von größerer Bedeutung als deren vielleicht umstrittener oder zweifelhafter Wahrheitsgehalt. Johann Nestroy eröffnet den Reigen mit seinen von Zahlen träumenden Gesellen („Und mir hat auch ein Numero traumt – es war Nr. 7359“), gefolgt von H. C. Artmann, der das Zahlen-Motiv aufnimmt, um anschließend das Musizieren auf einem Cello im Herzen einer Grille als einen häufig wiederkehrenden Traum zu beschreiben und im Verlauf seiner Schilderungen zu einer Täubchen fressenden Schlange überzuleiten. Der daran anschließende Text von Gottfried Keller ist mit „Schlange / Mutter“ überschrieben, der darauffolgende (von Werner Schwab) mit „Mutter / Klo“. Spätestens jetzt wird deutlich, dass die Reihenfolge der Beiträge alles andere als zufällig gewählt, sondern vielmehr Ergebnis einer sorgfältigen Redaktion ist. Dabei sind die als Sujetkette aneinandergereihten Wortpaare oftmals exotisch und reichen von „Bühne / Krankenhaus“ über „Insel / Gericht“ bis hin zu „Müll / Blut“, was schon die Ereignisdichte der Träume anzeigt, deren Länge zwischen wenigen Zeilen und mehreren Druckseiten variiert. Die Wunderwelt, durch die ich schwebte ist eine gelungene, höchst abwechslungsreiche und liebevoll aufgemachte Sammlung: Das Buch ist in geprägtes Leinen gebunden und mit Schmuckaufkleber und Lesebändchen versehen, Gemälde-Reproduktionen verzieren die Innenumschläge, griffig-raues Papier sorgt für angenehme Haptik. Bezogen auf den Inhalt scheint der Titel (er ist einem Gedicht von Robert Walser entlehnt) fast ein wenig zu kitschig, zu harmonisch. Viele der hier versammelten Träume sind nämlich keineswegs harmonisch, sondern ekelig, misanthropisch, obszön bis erotisch, naturgemäß nicht selten surreal, von Kriegs-, Todes-, Versagens- und Verlustängsten gezeichnet. Und paradox: So individuell ein Traum auch sein, so sehr er sich auf Erlebtes und Erfahrenes, auf persönliche Begegnungen und Eindrücke, auf bekannte Personen und vertraute Orte beziehen mag – in einigen der hier geschilderten Träume finde ich mich wieder.
Lediglich mit meinem eigenen Traum, von Eseln eine Straße hinaufgejagt zu werden, stehe ich anscheinend alleine da. Aber vielleicht hat das auch einfach niemand aufgeschrieben...
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