Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




28. August 2012
stefan heuer
für satt.org
  Die Wunderwelt, durch die ich schwebte. Literarische Träume
Manfred Chobot / Dieter Bandhauer (Hgg.), Die Wunderwelt, durch die ich schwebte. Literarische Träume. 184 Seiten, Hardcover. Sonderzahl Verlag, Wien 2011. 18,00 Euro
» Verlag
» amazon


Mir träumte, ich träume, und das nicht zu knapp – Geißbock, Lippenstift, Tod & Teufel und ihr nächtliches Erscheinen

Ähnlich wie die zumeist recht unförmigen Gebilde, die beim alljährlichen Bleigießen zu Silvester in der Wasserschale zurückbleiben, verfügt der Traum über ein schier endloses Deutungspotential. Auf diversen Internetseiten finden sich unzählige Begriffe samt der ihnen zugeschriebenen Deutungen.
Wer beispielsweise von einem Backenbart träumt, der sollte im Traum besonders auf die Färbung der Barthaare achten (hell: gute Gesundheit – grau: Traurigkeit); Zuckerwatte deutet angeblich auf eine bevorstehende schöne Reise hin; wem im Traum ein Lippenstift erscheint, darf sich auf eine mit Streit gewürzte Liebesbeziehung einstellen. Der Geißbock (Fans des 1. FC Köln bitte aufgepasst!) symbolisiert Geiz oder ausschweifende sexuelle Bedürfnisse, und wer von Zypressen träumt, sollte sich in der näheren Zukunft im Straßenverkehr vorsichtig verhalten (nicht umsonst finden sich Zypressen nicht nur in der Toskana, sondern auch auf Friedhöfen).

Ich selbst habe als Jugendlicher über viele Jahre den immer gleichen Traum gehabt, von einer Herde Esel, die mich eine schmale, plötzlich abbrechende Serpentinstraße hinauftrieb. Für Sackgassen gibt es schlüssige Deutungen, für das Reiten auf und das Füttern von Eseln auch, jedoch nicht in Kombination – bei meinem Traum mochte sich die konsultierte Therapeutin jedenfalls nicht endgültig festlegen.

Die Deutung von Träumen hat eine lange Tradition, schon seit Jahrtausenden forscht die Menschheit. Entsprechend lang die Liste der einschlägigen Abhandlungen, von den alten Griechen bis Sigmund Freud (und inzwischen natürlich auch über ihn hinaus). Auch in der schönen Literatur ist der Traum als Ausprägung des Unterbewussten präsent und beliebt.

Mit Die Wunderwelt, durch die ich schwebte, das Traumsequenzen aus der Literatur vereint, ist ein weiteres Buch zum Thema hinzugekommen.
Bevor Freud zu Wort kommt – „Zu den Darstellungsmitteln des Traums“ – widmet sich Mitherausgeber Dieter Bandhauer in einer kurzen theoretischen Einführung der Traumschilderung von Schriftstellern und stellt die Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit bzw. Authentizität. Denn dem Entzücken über bis ins Allerkleinste ausformulierte Träume steht zurecht die Befürchtung gegenüber, diese könnten teilweise für die jeweilige Druckfassung entweder erheblich aufgemotzt oder gar bei vollem Bewusstsein ersonnen worden sein.

Wie dem auch sei – beweisen oder verhandeln lässt sich dies im Nachhinein eh nicht –: Da Die Wunderwelt, durch die ich schwebte eine literarische Anthologie und keine wissenschaftliche Arbeit ist, sind handwerklich ausgereifte und lebendige Schilderungen von Träumen für den Leser ohnehin von größerer Bedeutung als deren vielleicht umstrittener oder zweifelhafter Wahrheitsgehalt.
Und an Lesevergnügen hat diese Sammlung einiges zu bieten: Klassiker (wie Eduard Mörike, Charles Baudelaire, Frank Kafka, Karl Valentin oder Hugo von Hofmannsthal) wechseln sich mit zeitgenössischen AutorInnen ab (Ludwig Fels, Julietta Fix, Peter Handke, Friederike Mayröcker, Robert Schindel u. a.).

Johann Nestroy eröffnet den Reigen mit seinen von Zahlen träumenden Gesellen („Und mir hat auch ein Numero traumt – es war Nr. 7359“), gefolgt von H. C. Artmann, der das Zahlen-Motiv aufnimmt, um anschließend das Musizieren auf einem Cello im Herzen einer Grille als einen häufig wiederkehrenden Traum zu beschreiben und im Verlauf seiner Schilderungen zu einer Täubchen fressenden Schlange überzuleiten. Der daran anschließende Text von Gottfried Keller ist mit „Schlange / Mutter“ überschrieben, der darauffolgende (von Werner Schwab) mit „Mutter / Klo“. Spätestens jetzt wird deutlich, dass die Reihenfolge der Beiträge alles andere als zufällig gewählt, sondern vielmehr Ergebnis einer sorgfältigen Redaktion ist. Dabei sind die als Sujetkette aneinandergereihten Wortpaare oftmals exotisch und reichen von „Bühne / Krankenhaus“ über „Insel / Gericht“ bis hin zu „Müll / Blut“, was schon die Ereignisdichte der Träume anzeigt, deren Länge zwischen wenigen Zeilen und mehreren Druckseiten variiert.

Die Wunderwelt, durch die ich schwebte ist eine gelungene, höchst abwechslungsreiche und liebevoll aufgemachte Sammlung: Das Buch ist in geprägtes Leinen gebunden und mit Schmuckaufkleber und Lesebändchen versehen, Gemälde-Reproduktionen verzieren die Innenumschläge, griffig-raues Papier sorgt für angenehme Haptik.

Bezogen auf den Inhalt scheint der Titel (er ist einem Gedicht von Robert Walser entlehnt) fast ein wenig zu kitschig, zu harmonisch. Viele der hier versammelten Träume sind nämlich keineswegs harmonisch, sondern ekelig, misanthropisch, obszön bis erotisch, naturgemäß nicht selten surreal, von Kriegs-, Todes-, Versagens- und Verlustängsten gezeichnet.

Und paradox: So individuell ein Traum auch sein, so sehr er sich auf Erlebtes und Erfahrenes, auf persönliche Begegnungen und Eindrücke, auf bekannte Personen und vertraute Orte beziehen mag – in einigen der hier geschilderten Träume finde ich mich wieder. Lediglich mit meinem eigenen Traum, von Eseln eine Straße hinaufgejagt zu werden, stehe ich anscheinend alleine da. Aber vielleicht hat das auch einfach niemand aufgeschrieben...