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14. September 2012 | Robert Mattheis für satt.org |
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Die Vermessung des Geheuren. Sloterdijks Notizen
Jetzt passen Sie mal auf. Hören Sie mal genau hin auf den Buchtitel, den Peter Sloterdijk für seine „Notizen 2008 - 2011“ gewählt hat: Zeilen und Tage. Das scheint in ein beliebtes und erfolgreiches Schema philosophischer Titelgebung zu passen: Heideggers Sein und Zeit, Jean-Paul Sartres Das Sein und das Nichts, Sloterdijks eigenes Zorn und Zeit... auch Hesiods episches Lehrgedicht Tage und Werke liegt assoziativ nahe. Aber um ein Werk soll es in diesem Fall gerade nicht gehen, sondern eben, wie der Untertitel festhält, um „Notizen“. Kein Werkanspruch also, aber doch Belehrung; immerhin sind wir bei Peter Sloterdijk, Autor des Philosophieverkaufsschlagers Du musst dein Leben ändern, der von vielen Käufern offenbar als mentaler Workout-Ratgeber verstanden worden ist – oder wie sind Bestseller-Verkaufszahlen für ein Buch erklärlich, das von Nietzsche, Kafka, Wittgenstein und Männern ohne Arme und Beine handelt? Nein, der Namensgeber schöpft aus einer anderen Quelle. „Nulla dies sine linea.“ Kein Tag ohne Linie, kein Tag ohne Zeile. Auf dieses berühmte Zitat spielt der Titel unverkennbar an. Plinius dem Älteren zugeschrieben, weist es, ganz im Sinn von Du musst dein Leben ändern, auf die Notwendigkeit ständigen Übens hin; der römische Gelehrte soll mit diesem Mot des legendären Malers Apelles artistische Maxime zum Ausdruck gebracht haben, man dürfe auch als Virtuose des Pinsels keinen Tag vorübergehen lassen, ohne an seiner Strichtechnik zu arbeiten. Auch ein anerkannter Meister hat die Ziel-Linie nie erreicht, ist nie in der besten aller möglichen Bestformen angekommen. So weit, so klar. Gründlichere philologische Bemühungen führen die Phrase allerdings auf einen späteren Autor zurück, auf einen gewissen Publio Fausto Andrelini, Sammler lateinischer Sprichwörter. Kurz: So ganz genau weiß man nicht, wer (und ob jemand) gesagt hat: „Kein Tag soll ohne Zeile sein!“
Mit IKEA in den Elfenbeinturm? Das spielt auf das zweite Leitmotiv dieses Buches neben der Notwendigkeit regelmäßiger Stilübungen an: Ursprungslosigkeit. Den neuen Sloterdijk durchziehen nämlich Vorüberlegungen zu einer Abhandlung über das Thema „Bastard“, nobler ausgedrückt: propädeutische Bruchstücke einer großen Bastardologie. Mit diesem Themenkreis berührt man wohl Sloterdijks höchsteigene Problematik. Ihr Symptom: dass man den Autor entweder hochschätzt oder verachtet. Ist das nicht das klassische Bastardzeichen? Eine Frage drängt sich ja auf: Was ist dieser Peter Sloterdijk eigentlich? Darf man ihn einen „Meisterdenker“ nennen? Da würden seine Verächter aufjaulen! Er selbst gibt seiner Weigerung Ausdruck, mit geistigen IKEA-Regalen in den philosophischen Elfenbeinturm einzuziehen – und mit wechselndem Wohnort macht man es der deutschen Öffentlichkeit schwer, ernst genommen zu werden. Oder passt die Berufsbezeichnung „Großessayist“, in Anlehnung an Robert Musil, der den Bestsellerverfasser Thomas Mann als „Großschriftsteller“ begiftete? Seit ihm wegen der Elmauer Rede Regeln für den Menschenpark die Schlagzeilen und Titelseiten um die Ohren geflogen sind, scheint Sloterdijk entschlossen, sich der Medien in Zukunft lieber zu bedienen, anstatt sich von ihnen verheizen zu lassen. Mit Rüdiger Safranski ließ er sich zehn Jahre lang in regelmäßigen Abständen vor den TV-Kameras zum „Philosophischen Quartett“ nieder, er publizierte Debattenbeiträge im Spiegel, im Focus und in Cicero, und es ist nur folgerichtig, wenn die vorliegenden Aufzeichnungen immer wieder gesellschaftliche Anlässe im Hause oder unter der Ägide Hubert Burdas erwähnen. Mehr Medienmacht geht ja nun kaum.
Auftritt ohne Talar Die Stärke von Zeilen und Tage liegt darin, dass Sloterdijk hier ohne Talar auftreten kann. Er soll ja kein Werk abliefern, sondern Zeilen, keine Epochen markieren, sondern Tage. Die Ungezwungenheit der Herangehensweise kommt ihm entgegen. Das, was ihm viele verübeln, seine Leichtigkeit, die hohe Kunst der flotten Formulierung – im Genre der diaristischen Aufzeichnung ist sie das einzig mögliche Stilmittel. Sloterdijk präsentiert sich in diesen Texten leicht, locker, persönlich. Wer den Eindruck hatte, in der Sphären-Trilogie einen gefesselten Prometheus sich abarbeiten zu sehen am factum brutum des Geborenseins, erlebt hier einen beschwingten Conferencier, der die große gedankliche Abendlandshow moderiert (inklusive Untergangsdämmerung), einen unnachahmlich beredten Cicerone, der uns immer aufs Neue mit Schleichwegen überrascht, die aus der Geistesgeschichte direkt in die Gegenwart führen. Die Notizen lesen sich als eine Art stream of consciousness, als Durchfluten des mentalen Augias-Stalles eines Hochbegabten, écriture automatique des geborenen Träumers. Wer Sloterdijk liebt, wird das goutieren; wer ihn nicht ausstehen kann, weil er ihn als Salonplauderer oder als populistischen Stimmungsmacher verabscheut, der wird in seinen Aufzeichnungen Futter für seine Aversion finden. Denn das Dilemma dieses Projekts lässt sich an folgendem kurzen Notat festmachen: „Sprunghaftes Leben, von Hotel zu Hotel, bis man den Ortswechsel nur noch an den verschiedenen Farben der Marmorbäder festmacht.“ Das klingt eingangs nach Joseph Roth, gehetzt und heimatlos, am Ende jedoch nach saudischem Ölprinz. Und wirklich, irgendwo dazwischen radelt Peter Sloterdijk durch die Lande. Er hat natürlich auch seine Sorgen, aber man denkt doch: Diese Sorgen möchte man haben! Darum berührt es einen auch nicht sonderlich, wenn der Vielgeehrte, Vielzitierte und Vielgescholtene an anderem Ort in seinen Bart räsoniert: „An solchen Tagen zitiert man bei sich alle zehn Minuten die Benn-Formel: jenseits von Sieg und Niederlage.“ Man hat so das Gefühl: Den ganzen kleinen Misserfolgen (beispielsweise anonymen Anwürfen im Internet) steht ein großer Triumph gegenüber, der nicht mehr aufgewogen werden kann, der unüberbietbar ist für den, der ihn errungen hat. Die Lebensleistung ist erbracht.
Eine Art Hermann Hesse der Philosophie! Warum Sloterdijk dieses Buch in Wahrheit veröffentlicht hat – Raimund Fellinger, sein Lektor, und Ulrich Raulff, Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, mögen ihn sanft dazu gedrängt haben –, verrät er in einer explizit antiautobiographischen Passage: „Du wirst nie ins Memoirenalter kommen wie die erledigten Menschen deines Alters, falls Memoiren schreiben heißt, den äußeren Menschen schildern, der man war. Du bleibst im Werden wie ein Siebzehnjähriger, autoerotographisch, autonoographisch, autopathographisch, nur ohne das grenzenlose Guthaben an Leichtsinn und Unsterblichkeit, mit dem sich die Jungen schöne Tage machen.“ Eine Art Hermann Hesse der Philosophie also! Und wirklich ist Zeilen und Tage auch ein Bildungsroman, „Bruchstück einer großen Konfession“, um es mit Goethe zu sagen, an dem Sloterdijk sich logischerweise ebenfalls abarbeitet. Elemente einer handfesten Homestory finden sich darin – dramatische Operationen, ausschweifende Fahrradtouren, edle Tropfen –, doch alles sehr dezent behandelt. Der Leser wird für diese Zurückhaltung entschädigt durch gewürzte Aperçus und Aphorismen, durch kritische Aktenvermerke über Lektüren und Beobachtungen zum tagesaktuellen Geschehen, die eigentlich immer triftig und treffend sind. Das Heine’sche Talent zur Digression, das Sloterdijk in den Sphären ständig in die Quere kommt und ihn zuweilen als schellenlauten Besserwisser ohne Struktur und Standpunkt erscheinen lassen kann, darf sich hier voll entfalten. Ein Tagebuch lebt davon. Sloterdijk verfolgt Fußballspiele, hat Zahnschmerzen und schluckt dagegen Tabletten, guckt fern, liest Zeitungen und kommentiert sie, er parliert mit Juli Zeh, Thea Dorn und Matthias Matussek im „Literarischen Quartett“... Spöttisch formuliert: Der Essaypapst gewährt Audienz, nähert sich auf vertrautem, privatem Fuß. Freimütig schildert er die Momente von Irritation, von Ennui und Wut, die das Leben uns allen beschert. Das hat etwas ganz ironielos und bestechend Offenherziges – und sein Herz, entblößt, besitzt, wie ich finde, beträchtlichen Charme. Anders als in den Sphären-Bänden, in denen der Philosoph sich hinter einer dicken Schutzschicht (beinahe einer Maske) von Welterklärertum versteckt hat, ist er in Zeilen und Tage ungefiltert zu haben, unzensiert. Das akademisch-rabaukenhafte Element, das seine Kritik der zynischen Vernunft so populär machte, blitzt öfters hervor. Der Text fügt sich so einerseits zum Sloterdijk’schen Werkscorpus, andererseits zu den selbstexegetischen Versuchen der Gesprächsbände Die Sonne und der Tod mit Hans-Jürgen Heinrichs (den man auch als Sloterdijks Eckermann bezeichnen könnte) und Selbstversuch mit Carlos Oliveira.
Befreit zur Lakonie Dieser französischste der deutschen Denker, so undeutsch auch in seinem Gemeinsinn, vielleicht, in seiner fast kindlichen Überschätzung der Gemeinsinnfähigkeit der Wohlhabenden in diesem Land, blüht auf, wenn man ihn aus der Pflicht zum Tiefsinn nimmt. Er ist befreit zur Lakonie. Er muss nicht wetteifern mit der Phänomenologie des Geistes, mit Sein und Zeit oder Platonischen Fundamentaldialogen. Er kann hier einfach das tun, was er am besten kann, was er beherrscht wie kaum ein Zweiter: grandioses Feuilleton schreiben. (Heute ist diese Kunstform auf den Hund gekommen, und mit ihr ihr Renommee; gäbe es mehr solche Stilisten und Beobachter wie Peter Sloterdijk – am Ende käme wohl auch das Feuilleton wieder auf die Beine.) Stichproben: „Was an den zahlreichen Rezensionen zu dem Roman von David Foster Wallace Infinite Jest auffällt, ist die höfliche Gequältheit, mit der sich die Rezensenten dazu durchringen, das Buch epochal zu finden.“ „Die innere Verfassung von Kulturschaffenden hierzulande gleicht der von Mafiosi-Töchtern. Deren glückliches Bewusstsein ist darauf gegründet, von den Geschäften der Väter nichts zu verstehen. Selbst wenn sie eine Ahnung in sich trügen, sie würden sich hüten, ihr auf den Grund zu gehen.“ „Das eigene Gehirn ist wie das Zentralkomitee einer Partei, die zu lange an der Macht war.“ Oder auch diese orakelhafte Bemerkung, bei der man nicht weiß, ob sie auf Elektrizität oder auf Seide anspielt: „11. Oktober, Freiburg. Lesung aus Du musst dein Leben ändern vor 800 Hörern im Stadttheater. In dieser Stadt knistert immer der Boden unter den Füßen.“ So viel steht fest: Wenn man wieder mal in Freiburg ist, wird man auf das Knistern achten. Selbstverständlich hat auch die wirkliche Wirklichkeit immer wieder markante Auftritte: Horst Köhler, Osama bin Laden, Heidegger... ein Metallschrank mit dessen Handschriften wird besichtigt, bestaunt, bespöttelt. Auch die Eitelkeit – nach dem Vorstehenden kann man es sich denken – kommt zu ihrem Recht: Jede Auszeichnung, jedes Ehrendoktorat, jeder Preis werden vom Chronisten in eigener Sache genau vermerkt. Doch darf die Eitelkeit im Grunde ja auch nicht zu kurz kommen, wenn man in den Spuren von Tagebuchschreibern wie Thomas Mann oder André Gide geht, nicht wahr? – Der von Sloterdijk selbst vorgeschlagene Vergleich mit Paul Valérys Cahiers ist irreführend, scheint mir; wenn man jedoch Honoré de Balzac hinzupackt, wird ein Schuh draus. Sloterdijk dichtet ja sehr wohl an einer „comédie intellectuelle“, wie Valéry einst Mon Faust bezeichnete.
Die Valéry’sche Methode des Heftevollschreibens Man kann noch einen ganz praktischen Zweck für dieses etwas bastardisierte, herrenlose Buch nennen: Es gibt dem Leser Gelegenheit abzugleichen, wo der Meisterdenker aus Karlsruhe war, während man selbst mit der Notwendigkeit rang, sein Leben zu ändern. Damit haben diese Notizen, von denen die Entstehungslegende will, dass der Verfasser sie explizit ohne jede Veröffentlichungsabsicht geschrieben habe, ihre Bestimmung gefunden, sind eingelaufen in einen sicheren Hafen – späte Einlösung einer Wette auf die Nachwelt, die sich jetzt als Nachwelt zu Lebzeiten erweist.
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