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9. Oktober 2012 | stefan heuer für satt.org |
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Doch die im Schatten kennt man nicht – ein Lesebuch zu Ehren des Schriftstellers Johannes UrzidilFür dies Lesebuch war es allerhöchste Zeit. Dass Deutschland 1974 im eigenen Land Fussball-Weltmeister geworden ist, dürfte sich mit den Jahren herumgesprochen haben. Mit Beckenbauer als Kapitän und „Bomber“ Gerd Müller im Sturm, dem es vorbehalten war, in der 42. Minute den Siegtreffer gegen die Niederländer zu erzielen – aber weiß noch einer, wer in der Meistermannschaft als Linksverteidiger spielte? Maximal 2% der Deutschen erinnern sich an Horst-Dieter Höttges (bei den über 70jährigen vielleicht 5%), alle anderen müssten sicherlich den Telefonjoker in Anspruch nehmen. Ohne Joker hingegen wüssten wohl die meisten, dass Neil Armstrong und Edwin „Buzz“ Aldrin im Zuge von Apollo 11 am 21. Juli 1969 als erste Menschen den Mond betraten – wer jedoch als dritter Astronaut an dieser Mission teilnahm und während der ersten Mondlandung im Mondorbit beim Mutterschiff blieb – wer weiß das schon? Ähnlich wie um Höttges, Michael Collins und Mainzel Edi ist es auch um Johannes Urzidil bestellt. Viele Menschen, die sich heute für Literatur interessieren, mögen seinen Namen schon einmal gehört oder von ihm gelesen haben. Da es nicht viele Autoren geben dürfte, bei denen nahezu jede Zeile von der eigenen Biografie infiziert ist (Kindheit, Jugend, Liebe und Krieg, Begegnungen – alles dies fand Eingang in seine Prosa), startet HinterNational, so der Titel des Lesebuches, mit einer ausführlichen Chronik von Leben und Werk. Auf gut sechzig Seiten reihen die Herausgeber nicht nur Daten, Namen und Fakten aneinander, sondern lassen den Schriftsteller selbst immer wieder mit Zitaten und eingeschobenen Textauszügen zu Wort kommen. Dies verleiht der Chronik beinahe Tagebuchcharakter. Mir selbst war über Johannes Urzidil vor der Lektüre dieses Buches nur wenig bekannt, und da es den meisten ähnlich gehen dürfte, lohnt sich ein ausführlicher Blick auf seine Biografie.
Johannes Urzidil (1896-1970) Johannes Urzidil wird am 3. Februar 1896 als Sohn eines deutschnationalen Beamten und einer tschechischen Jüdin in Prag geboren – hinein in einen Haushalt mit fünf Halbgeschwistern. Die Mutter stirbt kurz vor seinem vierten Geburtstag, die folgenden Jahre sind geprägt von zahlreichen Umzügen und einer neuen (Stief-)Mutter, mit der er nicht wirklich warm wird. Urzidils erste literarische Veröffentlichung ist die Wiedergabe von vier Versen aus seiner Hymne an Weimar im Jahresbericht 1910/11 des deutschen Graben-Gymnasiums in Prag, zwei Jahre später veröffentlicht er im Prager Tageblatt seine ersten beiden Gedichte – unter dem Pseudonym Hans Elmar. 1913 macht Urzidil die Bekanntschaft anderer deutschsprachiger Schriftsteller wie Max Brod, Franz Werfel, Franz Kafka und erlebte zeitgleich die erste Liebe, deren Ende er später pointiert beschrieb: „Von Karlsbad aus machte ich noch einen letzten Versuch und sandte der verlorenen Geliebten eine Schachtel duftender ‚Karlsbader Oblaten’. Dass ich jedoch vor der Absendung eine davon selbst begierig verzehrte und mich getröstet hatte, elf würden es auch tun, bewies, dass auch ich nicht mehr ganz bei der Sache war. Die Herzenskrise koinzidierte mit der des Vaterlandes.“ (Aus: „Der Kriegsausbruch“, 1964). Von 1914-18 studiert Urzidil Germanistik, Slawistik und Kunstgeschichte, unterbrochen durch den Kriegsdienst, den er aufgrund eines angeblichen Herzfehlers nicht an der Front verbringen muss. Ab 1918 publiziert er regelmäßig in verschiedenen Literaturzeitschriften, zudem beginnt er seine über 20 Jahre andauernde Mitarbeit beim Prager Tageblatt. Im folgenden Jahr erscheint mit Sturz der Verdammten in der renommierten Reihe „Der jüngste Tag“ des Leipziger Kurt Wolff Verlags sein erster Gedichtband. Im April 1922 heiratet Urzidil Gertrude Thieberger, eine überzeugte Jüdin, die trotz des anfänglichen Widerstands seiner Familie zur großen Liebe seines Lebens wird (ihrer beider trotz unterschiedlicher Religionen von gegenseitiger Achtung geprägtes Zusammenleben schildert er 1966 in Unvoreingenommener Rückblick). Im gleichen Jahr stirbt sein Vater. Von 1922 an (bis 1934) gehört er zum Pressebeirat an der deutschen Botschaft in Prag, 1923 wird Urzidil freier Mitarbeiter der Prager Zeitung Bohemia, in der bis 1938 über 120 seiner Beiträge erscheinen. 1924 hält er bei der Gedenkfeier (am 19. Juni) eine von drei Totenreden auf Franz Kafka. 1932, Urzidil ist 36 Jahre alt, erscheint mit Goethe in Böhmen sein literaturhistorisch wohl bedeutendstes Werk. 1930 war er genötigt worden, aus dienstlichen Gründen die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen – dies nützt ihm nichts, als er nach der Machtergreifung durch die Nazis als mit einer Jüdin verheirateter Halbjude aus dem Dienst des Deutschen Reiches entlassen wird. Fortan arbeitet er für Prager Zeitungen, aber auch als Korrespondent für Schweizer Blätter. 1939, mit der Besetzung Prags durch die Nazis, wird das Leben in der Stadt für die Urzidils unerträglich. In buchstäblich letzter Minute können sie mit dem Zug durch Österreich nach Italien ausreisen, über Umwege landen sie schließlich in London, kurz darauf im ländlichen Viney Hill. Doch das Idyll der englischen countryside trügt: „Wer glaubt, dass man dort keine Bombenangriffe mitmachte, würde irren[.]“ (aus: „Wenig und viel“, 1956) – und so entschließt sich das Ehepaar zur Übersiedlung ins US-amerikanische Exil. Das letzte Linienschiff, das England noch verlassen kann (und zugleich das Gold der Bank of England in Sicherheit bringen soll), bringt sie nach New York, wo sie bis zu ihrem Tode bleiben werden. Urzidil pflegt in New York freundschaftlichen Kontakt mit anderen Exilanten, und nicht wenige sind überrascht, ihn als einen mit Zuversicht ausgestatteten Zeitgenossen zu erleben. 1945 erscheint mit Der Trauermantel, eine Erzählung über die Jugend von Adalbert Stifter, sein erstes Buch im Exil. Im April 1946 werden Gertrude und Johannes Urzidil amerikanische Staatsbürger. In den folgenden Jahren erscheinen Essays, Gedichte, Erzählungen, ein Roman und zahlreiche Übersetzungen, zu Lebzeiten werden es über dreißig eigenständige Publikationen sein, postum kommen noch einige hinzu. 1957 erhält er den renommierten Schweizer Charles Veillon-Literaturpreis für sein Buch Die verlorene Geliebte – mehrere bedeutende Preise schließen sich an und läuten seinen späten Ruhm ein. Von nun an geht das Ehepaar Urzidil auf ausgedehnte Reisen in nahezu ganz West-Europa. Zu einem Wiedersehen mit der böhmischen Heimat kommt es indes nicht; Urzidil fürchtet, enttäuscht zu werden – dann würde die Quelle seiner Arbeit für immer versiegen –, und er möchte auch nicht, dass seine Rückkehr propagandistisch ausgeschlachtet wird. Am 2. November 1970 stirbt Johannes Urzidil überraschend während einer Lesereise in Rom.
Das Lesebuch Schon allein die umfangreiche Biografie wäre – ergänzt vielleicht um weitere Fotos und etwas längere Textauszüge – eine durchaus lohnende, eigenständige Publikation gewesen. HinterNational (ein in Bezug auf Urzidils Werk und Wirken perfekt gewählter Titel) hat aber deutlich mehr zu bieten, vereint fünf weitere, thematisch überschriebene Kapitel mit Texten von und über Urzidil – das Kapitel „Stationen“ (Texte über die böhmische Heimat und das Leben in den Vereinigten Staaten), das Kapitel „Gestalten“ (Texte über Kafka und den „Prager Kreis“, Stifter, Goethe, Emerson, Whitman u. a.), das Kapitel „Bohemismus – Hinternationalismus“ (politisch-geschichtliche Texte), ein Kapitel über Person, Wirkung und Werk (Briefe und Rezensionen zu einzelnen Büchern) sowie eines, das aus drei fachkundigen, verständlich geschriebenen und angenehm lesbaren, zu einem großen Teil sehr persönlich gehaltenen Essays besteht. Abgerundet wird das Lesebuch durch ein penibel erarbeitetes Literatur- und Veröffentlichungsverzeichnis sämtlicher Texte sowie Angaben zu weiterführender Literatur. Besonders erfreulich: Als Bonus findet sich am Ende des Buches eine CD, auf der sich neben von Urzidil selbst gelesenen Texten (was für eine Stimme!) das Audiofeature „Der böhmische Akzent. Johannes Urzidil und das Radio“ befindet. Die Tatsache, dass Urzidil zu allen Zeiten autobiografisch grundierte Texte verfasst hat, dass er jedes Lebensalter – sowohl seine Kindheit und Jugend, aber auch sein Arbeitsleben –, seine persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Verbindungen detailgetreu, nein, detailverliebt festgehalten hat, hat dazu geführt, dass er immer wieder als „Dichter der Erinnerung“ apostrophiert wurde. Dies ist berechtigt und sicherlich nicht von der Hand zu weisen, dennoch betonen die Herausgeber in ihrem Vorwort auch die in Urzidils Werk herrschenden Verfremdungen, Vertauschungen und Zuspitzungen, die dafür verantwortlich seien, dass man „das Erweisliche“ und „das Erzählte“ oftmals nur schwerlich identifizieren bzw. voneinander trennen könne. Seine Biografie, aber auch seine eigenen Texte zeigen Urzidil als einen Menschen, dem Ismen jeder Art suspekt waren; einen Menschen, dem Inhalte stets wichtiger waren als die vollendete Form; vor allem zeigen sie ihn als einen strengen Verfechter der von Friedrich dem Großen geprägten These, dass ein jeder nach seiner Façon selig werden solle. Urzidils Texte bestechen durch Detailliertheit, Empathie und (obwohl er zumeist subjektive Eindrücke beschreibt) ein hohes Maß an Allgemeingültigkeit. Über all die Jahre ist er nicht nur sich und seinem Leben, sondern auch seiner Sprache treu geblieben, fernab von Heimat, Moden und gesellschaftlichen Befindlichkeiten.
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